KUNST UTE UND WERNER MAHLER Museen sind geschlossen wie auch Kunstausstellungen und Galerien. Aber es Alternativen – online. Die Galerie Springer Berlin lädt seit geraumer Corona-Zeit zu Fotoausstellungen ein – unter dem Titel «Artwork Wake-Up, nunmehr #103». Zurzeit sind Werke des Fotografenpaars Ute und Werner Mahler zu sehen, zumeist Schwarzweissbilder (mindestens bis Ende Februar 2021). Das Ehepaar (seit über 40 Jahren!) gehörte schon zu DDR-Zeiten zu den herausragenden Fotokünstlern. Ute, 1949 in Thüringen geboren) und Werner Mahler (1950 in Sachsen-Anhalt geboren) porträtieren Menschen, dokumentieren Alltag, halten Posen und Momente fest.
In der Galerie sind zumeist Schwarzweissbilder aus den letzten fünf Jahrzehnten zu sehen, etwa unter dem Titel «Auf dem Land. Am Fluss», «An den Strömen» (Elbe oder Rhein), «Stahlwerk Martin Hopp» (1975), «Zirkus» (1973/74), «Fashion» oder «Paris» (1979). Da scheint eine Primaballerina vor der Komischen Oper, Berlin (1980) zu tanzen, posieren Mona Lisen der Vorstädte in Florenz, Minsk oder Berlin. Da schuften Bergwerksleute (1975), «erstarren» Frauen in der Wüste auf Gran Canaria (1994) oder wird der Kreidefelsen auf Rügen von einem Regenbogen «geküsst». Impressionen, die Geschichten von Begegnungen erzählen. galeriespringer.de > Link virtueller Galerierundgang / virtual gallery tour
Bücher mit Fotografien von Ute und Werner Mahler: «Monalisen der Vorstädte», Verlag Meier und Müller, Berlin 2013. «Kleinstadt», Hartmann Projects, Stuttgart 2018. «Werkschau» in den Deichtorhallen in Hamburg, Haus der Photographie, 2014, Katalog (ExLibris 64 Franken).
Wer Lust hat, in den Beständen (bisherigen Ausstellungen) der Galerie Springer Berlin zu stöbern, stösst auch auf den Innerschweizer Kantonspolizisten und Fotografen Arnold Odermatt galeriespringer.de/artists.
BUCH FRIEDRICH DÜRRENMATT Gut gibt es Geburtstage (und Todestage), dann können auch in newsarmen Zeiten Seiten gefüllt werden. Nun, «Das gemütliche Ungeheuer» (NZZ am Sonntag) hat es verdient. Der Berner Provokateur, Poet und Poltergeist, den die Nachwelt «als Schulbuchautor eingesargt» (Tages-Anzeiger) hat, ist der «grösste Schweizer Autor» (Franz Hohler). Friedrich Dürrenmatt, am 5. Januar 1920 geboren, am 14. Dezember 1990 gestorben, ist Analyst seiner Zeit, der Gesellschaft und des Landes, Fabulierer und Visionär. Man nehme nur einmal wieder seine Komödie «Der Meteor» von 1966 zur Hand. Das Unerwartete, das Unberechenbare fällt in den Alltag, in die Welt ein. «Ein weiterer Aspekt aus dieser Paulus-Lektüre (…) ist der gewalttätige Einbruch des Unbedingten ins Bedingte, die Unberechenbarkeit, die sich positiv zum Glück oder negativ zur Katastrophe auswirken kann», schreibt Ulrich Weber in seiner jüngsten Dürrenmatt-Biographie. Wer würde da nicht den Bogen vom Meteor zum grassierenden Virus Covid-19 schlagen!
Heute wie vor 50 oder mehr Jahren werden seine bekannten Bühnenstücke wie «Die Ehe des Herrn Mississippi» (1952), «Der Besuch der alten Dame» (1956), «Die Physiker» (1962), «Der Meteor» (1966), «Die Wiedertäufer» (1967) oder «Porträt eines Planeten» (1970) aufgeführt. Und noch immer sind seine Stoffe aktuell. «Dürrenmatt hätte wohl gelacht» schrieb Mario Andreotti im St. Galler Tagblatt über den Berner Dramatiker, seine Komödie «Der Meteor» und die Pandemie heute.
Über das Erzählgenie hat Ulrich Weber, Kurator des Dürrenmatt- Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, eine voluminöse Biographie mit weit über 700 Seiten verfasst. Er spannt den weiten Lebensbogen von der «Kindheit im Emmental» bis zu den «letzten Auftritten und einem politischen Vermächtnis.» Wer gerne schmökert, wird alleweil fündig – sei es den Privatmenschen, Trinker und Geniesser Dürrenmatt betreffend, den Erfolgsdramatiker, Theatertitan, Dichter, Denker, Maler oder Kranken («Die Rebellion gegen den Körper»). Ein grossartiges Buch, das sich eines grossartigen Autors und zeitkritischen Denkers würdig erweist. Es bietet ein Füllhorn von Informationen, Einsichten, Interpretationen und Kommentierungen, mit einigen Bilderpassagen ausgeschmückt und einem dicken Anhang ergänzt (über 110 Seiten). Hier findet man nicht nur einen Stammbaum vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, sondern auch Chronik, Quellenangaben und Endnoten. So wird uns der Erzähler, Dramatiker, philosophischer Denker, «Satiriker von schonungsloser Schärfe, der die Mächtigen und Grossen mit seinem Spott überzog», «Abenteurer des Geistes», Erkenntnisskeptiker, «Weltenschöpfer, dessen Vorstellungskraft vor keinen räumlichen und zeitlichen Dimensionen haltmachte», «visionärem Zeichner und Maler» sehr nahe gebracht. Webers fulminante Biographie ergänzt und vertieft die frühere von Peter Rüedi «Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen» (2011). Das jüngste Werk animiert geradezu dazu, das eine oder andere Dürrenmatt-Buch zur Hand zu nehmen.
Empfehlenswerte Lektüre
Ulrich Weber «Friedrich Dürrenmatt», Eine Biographie, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 42 Franken
Peter Rüedi «Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen», Diogenes Verlag 2011. Fr. 39.90
«Friedrich Dürrenmatt und andere Meistererzählungen», Diogenes Verlag 1992, 2011 (ExLibris Fr. 13.60)
«Dürrenmatt: Der Hund. Der Tunnel, Die Panne», Hörbuch gelesen von Hans Korte, Diogenes Verlag 2010, 30 Franken
«Dürrenmatt. Sein Leben in Bildern», Diogenes Verlag 2011, Fr. 68.00
Dauerausstellung «Friedrich Dürrenmatt – Schriftsteller und Maler», Centre Dürrenmatt in Neuchâtel/Neuenburg»
BUCH ALLES SCHON MAL DAGEWESEN Was wir 2020 erlebt haben und weiter ertragen und bekämpfen, den Virus Covid-19, wurde in vielen Geschichten und Filmen so oder so vorweggenommen und dargestellt. Aber wer glaubt schon Filmen mit Katastrophenszenarien? Es ist doch alles nur Kino. Denis Newiak aus Potsdam, studierter Medienwissenschaftler, ist diesem Phänomen auf den Grund gegangen und hat Erstaunliches zutage gefördert. Die grassierende Pandemie sei keineswegs überraschend, stellt er fest: «Wirklich überraschend war an der Corona-Krise genau genommen nur eine einzige Sache – nämlich, wie überrascht alle waren und wie Entscheidungsträger und Politiker mit der Situation überfordert wirkten. Dabei hätte man zum Beispiel wissen müssen, dass sich «ein neuartiger Krankheitserreger in einer zunehmend verflochtenen, mobilen und globalisierten Welt rasant ausbreiten und sich auf alle Sphären des sozialen Zusammenlebens auswirken kann.»
In seinem Buch beschreibt er anhand von rund zwei Dutzend Filmen und Serien, welche Pandemie-Szenarien auf Leinwand oder Screen bereits Wirklichkeit wurden, wie sie wirkten und was sie verursachten, beispielsweise Hoffnungslosigkeit und Angst, Demoralisierung und Einsamkeit. Hier sei nur das Beispiel von «unerhörten Propheten und unerhörten Profiteuren» genannt. Die Rede ist vom Film und von der Serie «12 Monkeys» mit Bruce Willis. Dem Mann aus der Zukunft glaubt man nicht (in der Gegenwart), der vor einer Virus-Epidemie warnt. Niemand will diese «Epidemie des Irrsinns» wahrhaben, hört auf seine unerfreuliche, kompromisslose Wahrheit. Der unerhörte Prophet gehört längst zum Standardrepertoire eines Apokalypse-Films.
Newiaks Buch der Pandemie-Filme, seine Schlüsse und Verbindung zur Gegenwart sind hochinteressant, spannend zu lesen, anschaulich und aufschlussreich. Kein Fantasy-Produkt, sondern eine fundierte Analyse, die eine Krise wie Corona zwar nicht bewältigen kann, aber ihre sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen und Gegebenheiten veranschaulicht.
Denis Newiak «Alles schon mal dagewesen», Schüren 2020, CHF 18.30
BUCH 50 JAHRE SONNTAGSMORD Krimis gehören zum beliebtesten Genre in Film, Fernsehen und Literatur. Die erfolgreichste deutsche Fernsehreihe «Tatort», auch mit Schweizer und österreichischer Beteiligung, hat viel dazu beigetragen. Sie feierte im letzten Jahr ihr 50jähriges Dasein und ist einfach nicht tot zu kriegen. Das Büchlein von Siegfried Tesche erweist dem Jubilar die Ehre – mit Fakten, Beiträgen, Anekdoten und Illustrationen (Oli Hilbring) zum Schmunzeln. Hätten Sie gewusst, dass man in Schweden mit einem «Tatort»-Drehbuch Deutsch lernt, die ersten «Tatort»-Folgen rund 300 000 DM kosteten, aktuell aber 1,5 bis 1,7 Millionen Euro? Im teuersten «Tatort – Der grosse Schmerz» hatte Helene Fischer einen Gastauftritt, er verschlang 2,1 Millionen Euro.
Bei den Anekdoten tauchen Schweizer dreimal auf: Der erste «Tatort nach zehn Jahren Pause hatte Anfangsschwierigkeiten und erntete vernichtende Kritiken. Die Schweizer Kommissarin Liz Ritschard soll lesbisch sein. Fahnder Reto Flückiger (2011–2019) alias Stefan Gubser nahm nach den letzten Dreharbeiten ein blaues Jackett und seinen Dienstausweis mit, um vielleicht mal Polizist zu spielen und Raser abzukassieren.
Wer will, kann sich auch an einem «Tatort»-Quiz vergnügen oder an Skandalen und Aufregern ergötzen. Die Hälfte der Tatort-Sammlung nehmen Zahlen und Statistiken sowie Zitate ein. Eine Kostprobe: Die meisten Zuschauer lockte der «Tatort – Rot – Rot – Tot» mit Curd Jürgens und 26,57 Millionen Zuschauern (1978) an. Bei den Gagen hält Til Schweiger mit 300 000 Euro die Spitze, gefolgt von den Münsteranern Jan Josef Liefers und Axel Prahl mit 100 000 bis 120 000 Euro (Stand 2016). Die Schweizer Delia Mayer und Stefan Gubser sollen 30 000 Euro verdient haben. Zum Schluss ein Zitat von Götz George über Schimanski: «Dieser Schimanski hat auch ein Stück George drin. Ich kann mich bei dieser Kunstfigur viel besser ausleben, mal ausflippen, mal Witze machen und mich einen Dreck um Dienstvorschriften kümmern.» Es lebe der «Tatort»!
Siegfried Tesche «50 Jahre Sonntagsmord», Lappan Verlag 2020, CHF 16.90
BUCH 1793 UND 1794 Ein ungleiches Duo – wie so oft in Krimis. Hier agieren zwei gegensätzliche Männer Ende des 18. Jahrhunderts, der Krüppel Jean Michael Cardell und der Ermittler Cecil Winge. Kriegsveteran Cardell hält sich mühsam als Häscher und Stadtknecht über Wasser. Der Mann mit amputiertem Arm, genannt Mickel, sieht aus «wie so viele Männer auf Stockholms Strassen – Männer, die durch Elend und Krieg ihrer Jugend beraubt wurden und vorzeitig gealtert sind.» Er hat einen «muskulösen Rücken, Beine wie Baumstämme und die rechte Faust ist gross wie ein Schweinebug». Der Mann aus der Gosse wird von Sonderermittler Winge als Assistent, als Mann fürs Grobe engagiert. Sie haben es mit einem grausamen Fund zu tun. «Karl Johan (so nennen die beiden die Leiche) fehlen Arme und Beine. Alle viere sind so nah am Rumpf abgenommen worden, wie Messer und Säge eben Spielraum hatten. Und auch die Augen fehlen; die Augäpfel sind aus den Höhlen entfernt worden.» Schweden um 1793. Der autoritäre König Gustav III. hatte Krieg gegen Russland Krieg geführt (1788–90) und wurde 1792 Opfer eines Attentats. Sein Nachfolger war sein Gustav IV Adolf, Gegner der Französischen Revolution.
«1793» – ein drastischer Fall. Der zerstümmelte Tote ist eine harte Nuss, die es zu knacken gibt. Winge, der unter starken Hustenanfällen (Schwindsucht) leidet, denen selbst durch absonderliche Mittel und Methoden nicht beizukommen war, und sein Gehilfe stossen auf ein Monstrum. Schlussendlich führt Winge selbst den Täter durch eine Finte dem Galgenberg zu und ist selber dem Tode nah.
Im zweiten Roman «1794», ebenfalls ein Wälzer von über 550 Seiten, versucht Cardell einen adeligen Ehemann, der seine frisch angetraute Frau aufs Grausamste getötet haben soll, zu rehabilitieren. Ihm zur Seite agiert nun Emil Winge, der Bruder des verstorbenen Cecil Winge, dazumal Ermittler im Dienste der Stockholmer Polizeikammer. Emil ist ein heruntergekommener Trinker aus Uppsala, den Cardell «ernüchtert». Sie spüren eine Bestie auf – in einem verheerenden Schlusssakt.
Beide Romane gliedern sich in drei Teile, rückwärts in Herbst, Sommer und Frühling (1793) sowie Winter, Sommer und Frühling (1794). Je ein Teil ist in Ich-Form geschrieben. Einmal berichtet Opfer und Täter Kristofer Blix seiner Schwester (Sommer 193), dann schildert Erik Drei Rosen, der Bräutigam, der seine Braut Linnea Charlotta grausamst umgebracht haben soll und ins Tollhaus eingewiesen wurde, sein Leben (Winter 1794).
Der schwedische Autor Niklas Natt Och Dag (41) liebt es, sein Geschichten zu verschachteln und von hinten aufzuschlüsseln. Geradezu akribisch beschreibt er Zeit und Ort, aber auch die blutigen Ereignisse, Ermittlungen, Erkenntnisse. Er beschönigt nichts und schreckt auch nicht vor harschen detaillierten Beschreibungen zurück. Seine historischen Kriminalromane sind aussergewöhnlich, stimmig, schmutzig, verästelt. Schmöker, die man so leicht nicht aus der Hand gibt.
Niklas Natt Och Dag: «1793» und «1794», Piper Verlag 2019/2020, je CHF 19.90
FILM – STREAMING UNE COLONIE Der Titel ist etwas irreführend, meint es gut, trifft aber knapp daneben. Die Kanadierin Geneviève Dulude-De Celles beschreibt in ihrem Spielfilmerstling, wie junge Leute Sinn und Halt auf der Schwelle zum Erwachsenenwerden suchen. Es ist eben kompliziert, mit Hoffnungen und Enttäuschungen verbunden. Die zwölfjährigê Mylia (Emilie Bierre) versteht sich bestens mit ihrer kleinen Schwester Camille (Irlande Côte), betreut sie, umsorgt sie, herzt sie. Doch sie selber ist unsicher, sieht sich in der Schule aus Aussenseiterin und fühlt sich zum Aussenseiter Jimmy (Jacob Whiteduck-Lavoie) hingezogen, einem Abkömmling der Abenaki-Indianer. Er ermuntert die scheue Mylia, aus sich herauszugehen, mutiger aufzutreten, sich zu finden. Die Filmautorin steht ihrer Hauptfigur sehr nah – mehr soft als markant, mehr fraglich als konkret. Die Kolonialproblematik heute, das Aussenseitersein, die Fragilität von Freundschaft werden angesprochen, aber nicht vertieft. Die beiden jungen Darstellerinnen überzeugen gleichwohl auf der ganzen Linie. Streamingdienst: Outside the Box
FILM – STREAMING LOS SONAMBULOS Ein Familientreffen (im Film) bedeutet meistens nichts Gutes. Augenscheinliche Harmonie bekommt Risse. Vertrauen, Verbundenheit, Familie werden infrage gestellt. Luisa (Erica Rivas) reist mit ihrem Mann Emilio (Luis Ziembrowski) und ihrer Teenager-Tochter Ana (Ornella D'Elia) zum elterlichen Landhaus, um dort mit anderen Familienangehörigen Neujahr zu feiern. Die ersten Bilder weisen bereits daraufhin, dass sich Umbrüche und Veränderungen anbahnen. Die Tochter bekommt ihre Periode, die erste oder zweite, und hat dies vor der Mutter verheimlicht. Verschiedene Interessen und Begehrlichkeiten der Familienmitglieder stossen aufeinander. Der charmante, jugendliche «Sonnenschein» Alejo wird zum Störfaktor. Er flirtet nicht nur mit Luisa, sondern vor allem mit Ana, der Schlafwandlerin (Somnambule), die nicht weiss, auf was sie und wie weit sich einlassen soll. Auch ihre Mutter Luisa spürt ein Verlangen, das sie je länger je weniger unterdrücken kann. Eine Zeit des Umbruchs, der Entscheidungen, der physischen wie psychischen Veränderungen. – Die Argentinierin Paula Hermández entwirft ein Familienbild mit Rissen, wo Probleme aus dem Dunkel ans Licht treten. Ein sensibles sommerliches Drama über unterschwellig glimmende Gefühle und Sehnsüchte. Streamingdienst: filmingo (Trigon Film).
BUCH: CLINT EASTWOOD Der alte Haudegen Clint Eastwood, just im Mai 90 Jahre alt geworden, ist als Filmemacher engagiert wie eh, auch wenn er mit dem «Fall Richard Jewell» nicht gerade ein Meisterwerk geliefert hat. Aber der Film fügt sich schier nahtlos in sein Werk ein. Eastwoods Helden sind keine Strahlemänner, keine glorreichen Heroen, schon gar keine Halunken, wie er sie einst selber verkörperte in den Italo-Western à la Sergio Leone «Per un pugno di Dollari» (1964) oder «Il Buono, il Brutto, il Cattivo/Zwei glorreiche Halunken», 1966).
Sowohl «American Sniper» (2014) über einen Navy-Scharfschütze, als auch «The Mule» (2018) über einen bald 90jährigen Drogenkurier sind gebrochene Helden. Gleichwohl haben es ihm Retter wie «Sully«» (2016), dem Piloten, der ein Passierflugzeug auf dem Hudson River landete, angetan. Eastwood ist längst eine Italo- und Hollywood-Legende, eine Ikone vor und hinter der Kamera. Kai Bliesener hat ihm ein packendes Buch gewidmet: «Clint Eastwood – Mann mit Eigenschaften». Ein Essay von Georg Sesslen, Interviews von Frank Brettschneider oder Tobias Hohmann («Eastwood ist ein zäher Hund») und vertiefende fulminante Beiträge über den «König der Dunkelheit» oder «schauspielernden Regisseur zeichnen ein lebendiges Porträt des letzten grossen Hollywood-Heroen. Und sie machen Lust, seine Filme wiederzusehen von «Dirty Harry» (1971) über «Outlaw Josey Wales» (1976) und «Honkytonk Man» (1982) bis «Bird» (1988), «Million Dollar» (2004) oder «Gran Torino» (Bilder, 2009).
Seit 65 Jahren (!) ist Eastwood im Filmgeschäft. Sein Gesicht, seine Mimik, sein Gang, seine Gesten haben sich eingeprägt. Eine «spannende ambivalente Persönlichkeit, deren Eigenschaften sich zu ergründen lohnen«», schreibt Bliesener in seinem Vorwort «Beschreibung eines Denkmals». Er ist eine Ikone, ein «einsamer Wolf», ein politisch liberaler Rebell, der sich auch mal vor den Karren der Republikaner spannen liess. Aber: «Eastwood selbst ist alles andere als ein Rechtspopulist», meint Journalist Frank Brettschneider im Interview.
Kai Bliesener «Clint Eastwood – Mann mit Eigenschaften», Schüren Verlag Marburg 2020, CHF 29.50
FILM – STREAMING: SYSTEMSPRENGER Die deutsche Überraschung des Kinojahrs 2019/20: Das Sozialdrama «Systemsprenger» von Nora Fingscheidt (Buch und Regie) packte Publikum wie Kritik, wurde im April mit acht «Lolas», dem Deutschen Filmpreis, ausgezeichnet (siehe Einblicke). Die neunjährige Bernadette «Benni» (Helena Zengel) ist ein Mädchen, das nicht nur aus dem Rahmen fällt, sondern auch gesellschaftliche Normen sprengt. Benni ist unbändig, ungezügelt, unangepasst, unberechenbar – voller Energie (auch mit Gewaltpotenzial) und von innerer Not. Mutter, Pflegeeltern, Pädagogen, Erzieher vom Jugendamt sind überfordert. Allein Micha (Albrecht Schuch), Boxfan und Anti-Aggressionstrainer, findet Zugang zum «wilden» Mädchen. Benni hängt sich an diesen neuen Freund, will ihn vereinnahmen, kommt seiner Familie (zu) nah.
Der impulsive, explosive Film über traumatische Erfahrungen, Verletztheit, Einsamkeit und emotionale Not zog bis Ende 2019 über 630'000 Besucher in Deutschland an. In der Schweiz startete «Systemsprenger» im Herbst. Streaming: Netflix, Google Play, Amazon Prime Video.
FILM – STREAMING: A TALE OF THREE SISTERS Drei Mädchen und ein Vater: In einem abgelegenen Dorf in Zentralanatolien hausen drei Mädchen mit ihrem Vater zusammen – mehr schlecht als recht. Die Töchter – Reyhan (29), Nurhan (16) und Nesthäkchen Havva (13) – wurden vom Vater nach dem Tode der Mutter als Dienstmädchen in die nächste Stadt geschickt und sind nun – aus unterschiedlichen Gründen – heimgekehrt. Jede hat Enttäuschungen erlebt. Reyhan, die älteste, diente dem Arzt Necati und wurde schwanger. In der Not wurde sie im Dorf mit dem Hirten Veysel verheiratet. Die jüngste Havva hatte den Platz ihrer Schwester bei den Necatis eingenommen, kam aber mit dem bettnässenden Sohn der Arztfamilie nicht klar. Die Dritte im Bunde, Teenager Nurhan, hatte als Kindermädchen ihren Schützling und damit ihren Job verloren. Drei junge Frauen, die ihren Weg, ihre Bestimmung, ihr kleines Glück suchen in einer von alten Männern bestimmten Welt. Der Vater Sevket, ein einfacher überforderter Mann, ist enttäuscht, hilflos. Auch der Hirte Veysel versucht seiner Bestimmung zu entgehen, bemüht sich, seiner Frau Reyhan zu helfen, dem scheinbar vorbestimmten Schicksal zu entkommen.
Der türkische Filmer Emin Alper beschreibt die Folgen der traditionellen «Besleme», der Fremdplatzierung von Kindern in der Türkei. Sein Spielfilm – halb Sozialdrama, halb Märchen – zeigt die Diskrepanz von Klassen, von Wünschen, Sehnsüchten und Wirklichkeiten. Die Launen des Schicksals spiegeln sich in den Launen und Gefühlen der Schwestern, eingebettet in majestätischen, auch schroffen Landschaftsbildern. Streaming: filmingo (Trigon Film)
FILM – STREAMING: ALL MY LOVING All das, was wir lieben, geht flöten, könnte der Titel/Untertitel auch heissen. Doch er heisst schlicht: «Eine Geschichte von drei Geschwistern». Es gibt einen Prolog, einen Epilog und drei Kapitel. «Das wird schon wieder» muss sich Stefan (Lars Eidinger) von seiner Schwester Julia (Nele Mueller-Stöfen) sagen und trösten lassen, als er ihr gesteht, dass er wegen eines latenten Hörschadens seinen Job als Pilot verloren hat. Eben diese Schwester unternimmt mit ihrem Mann Christian (Godehard Giese) einen Italientrip (Turin und so). Doch anstatt die kriselnde Zweisamkeit zu beleben (das Paar verlor den Sohn), hat Julia nur noch einen Strassenköter im Sinn, den sie aufgelesen hat. «Inglaterra, ein Traum» ist das zweite Kapitel überschreiben. Tobi (Tobias) ist 39, noch immer Student und ein Mensch, der nichts geregelt kriegt. Tobi (Hans Löw) sollte sich um seine drei Kinder und seine Eltern kümmern, aber «Alles, was er anfasst», geht eben daneben. Die Mutter (Christine Schorn) will das Bad neu bestücken, und der Vater (Manfred Zapatka) ist nicht ganz bei Trost und verweigert jegliche Hilfe.
Der Episoden Film «All My Loving» von Edward Berger (Buch, Regie) und Nele Mueller-Stöfen (Buch) nimmt Alltagssituationen aufs Korn von Menschen, die sich verlieren und kein Ziel finden. Sie sind auf die eine oder andere Weise gescheitert, in ihrer Krise gefangen. Obwohl es zwischen den Geschwistern nur lose Berührungspunkte gibt, wirkt diese Bestandsaufnahme wie aus einem Guss, obwohl viele Aspekte offen bleiben und der Film ausläuft wie eine Welle am Strand. Streaming: Outside the Box via Partnerkinos
FILM – STREAMING: MIDNIGHT FAMILY Sie jagen nachts durch die Strassen, wie von Furien gehetzt. Der 17jährige Juan lenkt den Wagen, Vater Fernando («Fer») Ochoa dirigiert und versucht den Fahrweg via Lautsprecher frei zu «schreien». Der jüngere mollige Bruder Josué ist Mitfahrer in diesem Rettungswagen. Er findet die nächtlichen Touren in Mexico City spannender und schwänzt die Schule. Das kleine Familienunternehmen ist auf der Jagd nach Patienten, Menschen, die verunfallt, geschlagen, angeschossen oder aus dem vierten Stockwerk gestürzt sind. Die Ochoas und andere sind Rettungsengel, die auch mal zu spät kommen, bisweilen keinen Pesos bekommen und oft von (korrupten) Polizisten behindert und erpresst werden. Familie Ochoa gehört in Mexico City zur Armada privater Rettungsambulanzen, die helfen, wo sie können. Unglaublich, aber wahr: In der mexikanischen Metropole mit neun Millionen Einwohnern sind ganze 45 (!) staatliche Rettungswagen im Einsatz. Der Amerikaner Luke Lorentzen (27) hat die «Midnight Family» Ochoa begleitet, war stiller Zeuge mit der Kamera, zeigt, wie sich das Trüppchen einsetzt, oft enttäuscht und abgezockt wird. Manchmal gibt's kleine Glücksmomente. Ein Dokumentarfilm, der sich jeden Kommentars enthält. Die Aktionen, die knappen Dialoge der Ochoas genügen. Die nächtlichen Touren sind oft spannender als manches Actionspektakel. Ein ungeschminkter gradliniger Film, der u.a. am Sundance Film Festival 2019 mit einem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet wurde.
«Midnight Family» kann man streamen, in einem Arthouse-Kino abrufen, beispielsweise beim Rex in Bern, Bourbaki in Luzern, KinoK in St. Gallen oder RiffRaff in Zürich. Kosten: 10 Franken, die Hälfte erhält das Kino der eigenen Wahl.
outside-thebox.ch oder myfilm.ch
BUCH: #CINEMA 65. SKANDAL Die unabhängige Schweizer Filmzeitschrift Cinema geht in den 65. Jahrgang. Die Broschüre, 215 Seiten stark (plus 16 Inseratsseiten) ist freilich kein Jahrbuch im herkömmlichen Sinn. Zwar werden in der Sélection Cinema (Schweizer Filmschaffen 2018–2019) auch 39 Filme besprochen (z.B. «Zwingli», «Der Büezer» oder «Baghdad in my Shadow»), doch das Hauptthema heisst «Skandal». Über ein Dutzend Beiträge angesehener Filmwissenschaftler und Kritiker kreisen mehr oder weniger um dieses Thema.
Interessant ist beispielsweise, wie Thomas Basgier, u. a. Gastdozent am Filmwissenschaftlichen Seminar der Uni Zürich, den Skandal-Bogen vom Schauspieler Roscoe «Fatty» Arbuckle 1921 zum Hollywood-Star Kevin Spacey und Produzent Harvey Weinstein heute schlägt, allesamt wegen Übergriffigkeit angeklagt und in Verruf gekommen. «Die türkische Sexploitationwelle 1974–1980)» beschreibt Aysel Özdilek (Uni Hamburg). Sie schreibt: «Die Vorstellung, dass die Tabuisierung und Stigmatisierung von sichtbarer weiblicher Sexualität ein überholtes Relikt aus den 1970er-Jahren ist, täuscht. Slutshaming angesichts freizügig bekleideter Frauen und vermehrte Vorfälle von Femiziden sind auch heute noch in einer von der islamisch-konservativen AKP-Partei regierten Türkei an der Tagesordnung.» Wieso Luis Buñuel und Salvador Dalí mit ihrem Film «L'âge d'or» 1930 für einen grossen Aufreger und Skandal der Filmgeschichte sorgten, beschreibt Christian Alexius in seinem Artikel «Angriff der Skorpione».
Aus Schweizer Sicht höchst spannend ist die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Fernsehfilms «Ursula» nach einer Geschichte aus Gottfried Kellers «Zürcher Novellen». Die Literaturverfilmung, eine Koproduktion zwischen dem Schweizer Fernsehen und der DDR 1978, inszenierte der DDR-Regisseur Egon Günther. Nach massiver Kritik im Westen wie im Osten beantragte Günther die Ausrede aus der DDR. Sie wurde ihm noch 1978 gewährt.
«Cinema #65.Skandal» bietet fundierten Lesestoff über auch über frühe Hollywoodfilme und ihre Regulierung, Gewaltfilme oder den Japaner Koji Wakamatsu 1965, das Enfant terrible des japanischen Kinos, und die Berlinale 1965. Ich persönlich freilich vermisse Beiträge über Ingmar Bergmans «Das Schweigen» (1963), das in meiner Jugend für Skandale sorgte, oder über Hildegard Knef und ihre Rolle als «Die Sünderin» (1951). Dienlich wäre es auch, wenn im Impressum der Redaktionsschluss der Ausgabe vermerkt würde.
«Cinema #65. Skandal». Unabhängige Schweizer Filmzeitschrift 65. Jahrgang, Schüren Verlag, Marburg 2020
FERNSEHEN: DEAD END In den Sechzigerjahren gab es einen Schlager, in dem Bill Ramsey die Binsenweisheit «Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett» verbreitet. Lächerlich? Nicht ganz. Krimis sind beliebt wie nie – in Büchern, Filmen, in Fernsehserien. Kein Vorabend ohne Krimi, keine Region ohne eigene Ermittler von Ost- und Nordsee bis Bayern und Bozen, von Mallorca («The Mallorca Files», ZFFneo, bieder und blond, Klischees en masse wie im Tourismusprospekt) bis Istanbul («Mordkommission Istanbul», ARD).
Die Krimiserie «Dead End» (6 Folgen) wurde 2019 bereits von ZDFneo ausgestrahlt, nun also im ZDF-Hauptprogramm. Eine interessante Konstellation: Die Pathologin Emma (Antje Traue) kehrt aus den USA heim in eine Kleinstadt im Brandenburgischen – zum 75. Geburtstag ihre Vaters Peter (Michael Gwisdek). Der werkelt als Leichenbeschauer und hat manchmal Leichen im Keller bzw. Knöchelchen im Kühlschrank in Folge 1 (17. April): «Mit den Cowboys kam das Verbrechen». Vater und Tochter spannen zusammen und ermitteln in einigen fragwürdigen Todesfällen. Der Bürgermeister (Fabian Busch) sabotiert, die junge Polizistin Bettin (Victoria Schulz) ist hilfreich und clever, der Lokalkommissar Schubert (Lars Rudolph) ein fauler Sack, und dann taucht FBI-Agent Dorsett (Nikolai Kinski, der Sohn des berühmt-berüchtigten Mimen), auf. Mal düster, mal skurril, mal geht es um ein «Schneewittchen» mit tödlichem Hustenanfall, um einen abgestürzten Gleitschirmflieger oder eine Greisin, die ihren 100.Geburtstag feiern will, aber…Der Alte, der Angst vor Demenz hat, und die naseweise, leicht überhebliche Tochter bilden ein Gespann, das übliche Krimiverhältnisse sprengt. Keine Sackgasse also, die Reihe hat Chancen, in eine zweite Staffel zu gehen. «Dead End», ab 17. April freitags jeweils um Mitternacht, ZDF. Weiter am 26. April, 1., 16. 23. und 30. Mai (ZDF, auch Mediathek) Weitere Krimi-Tipps: «Spreewaldkrimi: Zeit der Wölfe», 27. April, ZDF; «Nachtschicht: Cash & Carry», 4. Mai, ARD
WEITERE KULTURTIPPS FÜR ZUHAUSE Auch wenn die neusten Bond- und Mulan-Abenteuer sowie «Black Widow» und andere Filme verschoben wurden, aktuelle Filme eingefroren wurden, kann Kino daheim stattfinden. Manche Produktionsgesellschaften bieten dazu Hand. Neben Netflix («Freud», jüngst vom ORF ausgestrahlt) gibt es Alternativen. Der Schweizer Spielfilm «Mare», die Rentner -Komödie «Cittadini del mondo» oder das schwedische Episoden-Puzzle «About Endlessness» sind auf der Online-Plattform von cinefile.ch bzw. myfilm.ch als Streaming zu sehen, ebenso der Dokumentarfilm über Bruno Manser von 2007 (Regie: Christoph Kühn), eine Wiederentdeckung.
Dschoint Ventschr offeriert als kleinen Trost Filme an, die man kostenlos daheim visionieren kann (Video on Demand): «Iraqui Odyssey» (2015) von Samir, «Verliebte Feinde» (2013, Bild) von Werner «Swiss» Schweizer, «Do It» (2000) von Sabine Gisiger und Marcel Zwingli sowie «Nachbeben» (2006) von Stina Werenfels. Neu hinzugekommen sind: «In wechselndem Gefälle» (Kurzfilm 1963 von
Alexander J. Seiler), «Motor Nash» (1996) von Sabine Gisiger und Marcel
Zwingli, «Opération Libertad» (2012) von Nicolas Wadimoff und «My
Father, the Revolution & Me» (2013) von Ufuk Emiroglu. Kostenlos beim Promocode «HomeCinema».
Samirs Spielfilm «Baghdad in My Shadow» ist als VoD bei cinefile.ch, myfilm.ch und filmingo.ch erhältlich.
FILM – STREAMING Bruno Dumont stellt die Nationalheilige Jeanne d'Arc ins Zentrum seines spröden stilisierten Films «Jeanne» – ohne Schlachtgetümmel und Brimborium. Keine andere Persönlichkeit, abgesehen vielleicht von Jesus, Napoleon und anderen Gestalten aus der antiken Mythologie, hat Filmemacher mehr inspiriert als die französische Nationalheroin Jeanne d'Arc. Die jüngste Version Bruno Dumonts folgt auf «Jeanette – Die Kindheit der Jeanne d'Arc», eine Art Musical von 2017. Nun hat er mit derselben Hauptdarstellerin Lise Leplat Prudhomme (12, Bild oben und unten) also nachgedoppelt.
Sein eigenwilliges, hoch stilisiertes Drama von 2019 ist statisch und schwerfällig, mit einigen Lieder aus dem Musical gespickt, die eher befremdlich wirken. «Jeanne» (siehe Filmkritik), die Jungfrau von Orleans, ist ein Teenager, der stoisch und sehr erwachsen seinen Leidensweg geht. Das Kind um 12 Jahre alt bietet den alten überheblichen Kirchenmännern Stirn. Der Spielfilm stellt den absolutistischen Anspruch einer Männerkirche an den Pranger, zeigt die Zerrissenheit einer gläubigen Seele, die sich nicht beugen und verbiegen lässt. Sie, von göttlicher Botschaft besessen, unterliegt kirchlichen Machtdünkeln. Den Film kann man fürs Heimkino (Streaming) abberufen und so Kinos der eigenen Wahl unterstützen. outside-thebox.ch
FERNSEHEN Die ZDF-Dokureihe Terra-X von Mirko Drotschmann taucht in 1000 Jahre Geschichte – von 500 bis 1500 n.Chr., das heisst vom Ende des Römischen Reiches bis zur Erfindung des Buchdrucks. In der «Kurzen Geschichte … übers Mittelalter» schildern Historiker, wie gewaltige Kathedralen entstehen, Burgen das Land überziehen (30 000 in Deutschland), Städte wachsen, Gilden gegründet werden, wie Ritter, eigentlich Pferdemänner, Teil des niederen Adels, aufsteigen, und wie das Lehnswesen funktioniert (Teil 1). Drotschmann zeigt aber auch, dass Frauen mehr drauf hatten, als als Burgfräulein besungen zu werden. In einem weiteren Kapitel widmet er sich der Hexenverfolgung (5. April). Bis 1780 fielen rund 50 000 Menschen diesem religiösen Wahnsinn zum Opfer in Europa, Jeanne d'Arc inbegriffen. Was geschah in den Folterkammern, weshalb wurden besonders Frauen Opfer dieses Hexenwahns? In einem dritten Beitrag der Reihe «Eine kurze Geschichte über…» geht es um das Alte Ägypten (14. April). Terra-X (sonntags 19.30 Uhr oder ZDFmediathek).
BUCH «Trotz alledem. Mein Leben» – so lautet der Titel der Biographie des Liedermachers Hannes Wader. Auf rund 580 Seiten plus Zeittafel und Diskografie beschreibt der Komponist, Liedermacher und Barde sein Vagantenleben zwischen Bethel bei Bielefeld, seinem Geburtsort 1942, und Kassel, seinem momentanen Wohnsitz. «Und ich denke beim Schreiben die ganze Zeit, ich habe mein gelebtes Leben vor Augen – dabei ist es immer nur der Tod. Was bleibt mir da anderes übrig, als einfach weiterzumache? Ich beende das letzte Kapitel – mal sehen, was dann passiert.» Seine Lieder wie «Der Rattenfänger», «Kokain», «Heute hier morgen dort» oder «Ich hatte mir noch so viel vorgenommen» sind unvergänglich wie der Barde mit der Gitarre selber, der im November 2017 sein letztes Konzert gab. Ein Lied hat ihn jahrzehntelang begleitet und wurde zu einer Art Bekenntnis: «Trotz alledem» (siehe Buchtitel).
Seine sehr persönliche Biographie liest sich wie eine Zeitgeschichtslektüre, etwa über Festnahme und Verhöre 1971 wegen Beteiligung einer kriminellen Vereinigung. Hannes Wader hatte der vermeintlichen Journalistin Hella Utesch seine Wohnung in Hamburg überlassen, während er durch Europa tourte. Die gewisse Hella war die Terroristin Gudrun Esslin (RAF). Wader wurde falsch beschuldigt, observiert, von Konzertveranstaltern boykottiert, obwohl man ihm nichts nachweisen konnte. Sein Liedermacherfreund Reinhard Mey und andere Kollegen haben sich für den Vorverurteilten eingesetzt, Konzerte erzwungen. Wader wurde immer wieder verdächtigt, beschattet und verhört wird. «Eine schier endlose Geschichte», zieht Wader Bilanz. Natürlich beschreibt er auch seine Auftritte und Begegnungen in der Schweiz mit Bernhard Stirnemann und seinen Berner Troubadours, mit Emil und Mani Matter oder Franz Hohler. Hannes (eigentlich Hans Eckard) ist ein politischer Mensch (DKP) und Poet, Volkssänger und Barde, der 2013 die Auszeichnung Echo für sein Lebenswerk bekam. «Übrigens», stellt Wader klar, «2013 kann ich den Echo noch mit Freude annehmen. Zu dieser Zeit gilt der in Deutschland wichtigste Musikpreis noch nicht als desavouiert und entwertet.» Ein Buch so reich wie das Liedergut Hannes Waders, der sich hier mit der Bildlegende «Macht's gut.» verabschiedete. Hannes Wader: «Trotz alledem. Mein Leben», mit zahlreichen Abbildungen im Penguin Verlag, 2. Auflage 2019, München
FILM – STREAMING Er ist Choreograph, sie seine Tänzerin, Geliebte, Widerpart. Ema und Gastón bilden ein wildes Paar, das den Reggaeton, einen poppigen Musikstil, bis zum Exzess lebt. Der Chilene Pablo Larraín schuf ein ekstatisches Drama über Kunst, Liebe, Lust und Leidenschaft, dessen Bilder haften bleiben (siehe Filmkritik). Trigon Film bietet den exaltierten Tanz- und Liebesfilm auf seinem Streaming-Dienst filmingo.ch an (ausgewählte Arthouse-Filme für 9 Franken für 2 Filme).
FERNSEHEN Sie ist anders als manche Schnüffler, die man aus deutschen Serien kennt und hat mit Matula (Claus Theo Gärtner in «Ein Fall für zwei»), dem Methusalem unter den TV-Detektiven, wenig am Hut. Doro Decker (Bild) hat ihren Vater verloren – er kam als Polizist bei einer Personalkontrolle ums Leben. Sie hat selber den Polizeidienst quittiert und wurschtelt als Privatdetektivin durchs Leben – in Dunkelstadt (Drehort Antwerpen). Doro bevorzugt Whisky und Alleingänge. Sie ist tough (gleichzeitig apart hübsch), raucht wie ein Schlot und muss viel einstecken. Ihr zur Seite stehen Assi Adnan (Rauand Taleb), ein vifer flatterhafter Paradiesvogel, und Kommissar Chris (Artjom Gilz). «Diese Stadt», sinniert Doro Decker, die gern sich selbst kommentiert, «zieht verlorene Seelen an wie das Licht die Motten – auf der Suche nach Nähe, Wärme oder einfach einer schnellen Nummer – kommt sie aus den Löchern gekrochen. Diese Stadt hat jede Menge Liebe zu geben, aber umsonst ist sie nicht.»
Die Serie «Dunkelstadt» im Film Noir-Stil sticht aus allen deutschen Krimiserien heraus – mit Alina Levshin in der Hauptrolle, die ihre eigenen Macken und Ausstrahlung hat. Die 1. Staffel ist auf sechs Folgen ausgelegt: «Traumfänger» (Folge 5) ausgestrahlt am 28. März (ZDF) oder «Schafspelz» (6) am 1. April (ZDFneo) oder 4. April (ZDF, alle Folgen auf ZDF Mediathek).
BUCH Berlin ist «in», besonders in den Roaring Twenties, den wilden Zwanzigerjahren. Die TV-Reihe «Berlin Babylon» mag dazu beigetragen haben. Susanna Goga hat ihre Krimireihe in eben dieser Zeit und in dieser pulsierenden Stadt angesiedelt. Kommissar Leo Wechsler ermittelt – mal in Clärchens Ballhaus (das gibt's wirklich), mal im Cabaret des Bösen, einem Sensationstheater. Wie im Roman «Nachts am Askanischen Platz» (2018) wird auch im jüngsten Fall «Der Ballhausmörder» (2020, der siebte Band) wird eine Leiche in einem Hinterhof gefunden. Leo Wechsler macht sich auf die Suche in einer schummrigen Welt zwischen Amüsement und Tristesse, Theater, Sekt und Charleston. «Ich möchte das Weimarer Berlin in seiner ganzen Vielfalt zeigen, nicht nur den Tanz auf dem Vulkan oder die Goldenen Zwanziger, die nie so richtig golden waren», bemerkt die Autorin Susanne Goga (Bild), die in Mönchengladbach lebt. Alle Krimis in der dtv Verlagsgesellschaft, München.
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