Ein Jahrzehnt in Bewegung: Ernest Neuschul «Takka-Takka tanzt», 1926; Félix Vallotton «La poudreuse», 1921; Hannah Höch «Die Journalisten», 1925 (im Uhrzeigersinn). (Bilder: Kunsthaus Zürich)


Aufbruch nach dem Zusammenbruch

Hundert Jahre sind vergangen, und doch sind sie lebendig geblieben in vielen Bereichen auch heute noch: Die Goldenen oder Wilden Zwanziger –The Roaring Twenties. Das Zürcher Kunsthaus hat dieser Epoche eine breit gefächerte Ausstellung gewidmet: «Schall und Rauch: Die Wilden Zwanziger» (bis 11. Oktober 2020)

Wie fasst, erfasst oder rekapituliert man eine Epoche, eine Zeitströmung, eine Bewegung, stilbildende Produkte, Neuerungen, Phänomene? Kuratorin Cathérine Hug hat ein breit gefächertes Panorama und Panoptikum zusammengestellt – mit Werken, Arbeiten, Produkten, Entwürfen, schriftlichen, filmischen, fotografischen und malerischen Zeugnissen von 80 Künstlern und Künstlerinnen. Der Bogen spannt sich von A wie Architektur bis Z wie Zelluloid. Gesellschaftliche, kulturelle, musische und modische Phänomene, aber auch ideologische, soziale Aspekte kommen zur Geltung. Das politische Umfeld wird nicht thematisiert.

Der Gang in die Zwanziger beginnt mit dem «Abschied vom Kriegstrauma», führt über Einblicke in Arbeit und Freizeit zu revolutionärem Design in Architektur, Möbeln und Mode sowie zu neuen Rollen von Mann und Frau, zu Bildern, Ästhetik, Fotografie und Film. Die Ausstellung mündet in «Neuen Körperempfindungen – im Rausch von Bewegung und Musik». «Was für ein Jahrzehnt », schreibt Kunsthaus-Direktor Christopher Becker im Vorwort zum Katalog. «Kaum hatte es begonnen, nach einem unfassbar grauenvollen Krieg, war es schon wieder vorbei, versunken in einem wirtschaftlichen Untergang ungekannten Ausmasses.» Die Jahre zwischen 1918 und 1928 waren geprägt vom Aufbruch nach dem Zusammenbruch, von radikalen Umbrüchen, pulsierenden Strömungen, Errungenschaften, Erneuerungen. Ein schrilles überbordendes Jahrzehnt. Dem trägt die Ausstellung Rechnung und vereint «alle Medien in Raum», wie Direktor Becker betont.

Kuratorin Hug zentriert die Zwanziger in sechs Themenblöcke, installiert einen «Dialog der Stile und Medien auf der Suche nach neuen Gesellschaftsentwürfen.» Dabei knüpft sie eine bemerkenswerte Verbindung zwischen damals und heute: Nach dem Ersten Weltkrieg starben Abermillionen Menschen (20 bis 50 Mio.) an der Spanischen Grippe (eine Influenza-Pandemie 1918–1920). Danach war den Menschen nach Lust und Leben, Vergnügen und Partyrausch zumute.
Wer verkörperte das besser als die Tanzgöttin Josephine Baker, die in Paris und Berlin für heisse Köpfe und Furore sorgte. Die schwarze Charleston-Pionierin aus New York wird in einem Kurzfilm wieder lebendig. Hier manifestierten sich neue Körperempfindungen, sehr anschaulich dargestellt in Gemälden wie «Takka-Takka tanzt» (1926) von Ernest Neuschul oder «Figuren im Ausschnitt mit schwarzen Streifen» 1919) von Oskar Schlemmer, in Skizzen, Plakaten, Fotos (von Man Ray u.a.).

Natürlich dürfen Bauhaus und Dada nicht fehlen. Unter dem Titel «Ikonen des Designs und der Architektur» sind Bauten von Dessau, Möbel, Entwürfe und Bilder zu sehen, etwa vom Architekten Xanti Schawinsky. In Sachen Dada empfiehlt es sich, in den ausgelegten Magazinen zu blättern. Man findet dort köstliche Texte …
Überhaupt, man kann witzige, beeindruckende, erstaunliche Entdeckungen machen: eine Collage von Kurt Schwitters («Man soll nicht asen mit Phrasen», 1930) beispielsweise, das Bild «Die Journalisten» (1925) von Hannah Höch, «Die Matrosenbraut» (1921) von Otto Dix, die Illustrationen «La garçonne» (1926) von Kees van Dongen oder das Ölbild «La poudreuse» (1921) von Felix Valloton.

Speziell ist die Installation «Laszlo Maholy-Nagy und die Ausstellung 'Film und Foto'» von 1919». Kai-Uwe Hemken hat sie virtuell rekonstruiert. Eine neue Seherfahrung. Einen breiten Raum nimmt der Komplex Mode ein. Titelbilder von Magazinen («Vogue», 1925), Gemälde von Christian Schad («Maika», 1929) und anderen, Modezeichnungen und Kleider, die auch heute noch modisch scheinen, lassen erahnen, was Frauen bewegte. Die Berliner Zeichnerin, Malerin, Porträtistin und Illustratorin Jeanne Mammen (1890–1976) war eine scharfe Beobachterin der Zeit und Gesellschaft. Sie ist nur mit drei Aquarellen (Frauenfiguren) vertreten. Von ihr hätte man sich mehr in der «Schall und Rauch»-Ausstellung gewünscht, vor allem auch textlich im Katalog. Die Retrospektive 1910-1975 in Berlin (2017/18) hat diese bemerkenswerte Künstlerin quasi wiederentdeckt.
Die Aspekte Performance und moderne Frauen sind im Katalog gut abgedeckt – durch spezielle Beträge von Petra Joos («Gelebte Performance») und Gioia Mori («Die modernen Frauen von Feminapolis»). Mir persönlich fehlt eine Ikone des Films, der «Blaue Engel» (1930), sprich Marlene Dietrich. Sie spielte in 18 Stummfilmen und prägte ein neues Frauenbild. Überhaupt spielt der Kinofilm in der Kunsthausausstellung eine Nebenrolle, immerhin ist die «Sinfonie der Grossstadt» (1927), ein experimenteller Dokumentarfilm von Walther Ruttmann, zu sehen. Gewünscht hätte ich mir auch ein Hinweis auf Alfred Döblins Romans «Berlin Alexanderplatz» (1929), dessen Neuverfilmung just in den Kinos läuft. In der stilbildenden Tragödie von Franz Biberkopf spiegelt sich das Leben einer Grossstadt wieder – mit Blick auf Gosse, Drogenhandel und Party.
Zugegeben, eine Ausstellung mit dieser epochalen Thematik muss auswählen, sondieren und punktieren. So gesehen, bietet sie insgesamt ein facettenreiches Spektrum.


«Schall und Rauch. Die Wilden Zwanziger», Kunsthaus Zürich bis 11. Oktober 2020. Katalog mit Beiträgen von Cathérine Hug, Petra Joos, Gioia Mori, Alexis Schwarzenbach und Jakob Tanner, 44 Franken

«Jeanne Mammen. Die Beobachterin. Retrospektive 1910–1975», Berlinische Galerie, Hirmer Verlag, München 2018

Thomas Bleitner «Frauen der 1920er Jahre», Insel Verlag 2017, 22.90 Franken


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Veröffentlicht Juli 2020