Dokumentarfilmer Nino Jacusso: «Ich habe mich gefragt: Gibt es in unserer kapitalistischen Welt nicht Leute, die heute schon ein Stück vom Traum über Fairness, Gerechtigkeit umgesetzt haben?» (rbr)


Mut machen!

Der Solothurner Nino Jacusso drehte «Fair Traders», ein spannendes, nachhaltiges Dokument. Wir trafen ihn in Solothurn zum Interview.

Siehe auch Filmkritik

Dokumentarfilmer Nino Jacusso hat sich an die Fersen von drei Produzenten geheftet, die alternative Wege suchten und fanden: Der Schweizer Patrick Homann baut seit Jahrzehnten Biobaumwolle in Indien und Tansania an; die Augsburgerin Sina Trinkwalder stellt Kleider nach ökologischen, sozialen Massstäben her, Claudia Zimmermann bewirtschaftet mit ihrem Mann einen Bauernhof und Bioladen im Solothurnischen.

Du hast dich schon früh mit Emigration befasst und sie filmisch thematisiert.
Nino Jacusso: «Emigrazione» war mein Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Meistens ist es so, dass man seinen Abschluss macht und dann auf der Strasse steht. Ich habe mir damals überlegt: Ich mache einen Film wie einen ersten Teil, um dann einen zweiten auf dem sogenannt freien Markt zu finanzieren. So habe ich es angelegt, und meine Eltern gefragt, ob ich einen Film über sie machen könnte, in dem sie mir aus ihrer zwanzigjährigen Erfahrung als Emigranten in der Schweiz erzählen würden. So entstand 1979 «Emigrazione». Die logische Konsequenz war dann der zweite Teil über die Herkunft , eine Produktion mit dem Filmkollektiv Zürich: «Ritorno a casa» (1989). So bin ich von einem Film zum nächsten gewandert.

Was war denn dein Antrieb, Filme zu realisieren?
Für mich war immer die Frage: Wie bringt man Wirklichkeit auf die Leinwand? Das fasziniert mich seit jeher. Du kannst die Leinwand benutzen, um Träume festzuhalten, irreale oder ideale Welt zu zeigen. Die Kernfrage für mich bleibt: Wie sieht die Wirklichkeit auf der Leinwand aus? Eine Möglichkeit ist es, bestimmte Prämissen einzugehen. Eine ist es, die Geschichte, die du erzählst, mit den Leuten zu besprechen, zu erarbeiten. Das war bei «Klassengeflüster» so. Wir haben Schüler und Schülerinnen gesucht, uns getroffen, miteinander gesprochen immer wieder, verworfen, geschrieben, geprobt. Zum Schluss hatten wir ein Konzept, ein Drehbuch erarbeitet und dann umgesetzt. Die Leute, die betroffen sind, bringen ihre Erfahrung, ihre Wirklichkeit in die Arbeit ein und auf die Leinwand. Das war auch bei «Fair Traders» so.

Die Nähe zu den Leuten ist dir sehr wichtig, um so Authentizität zu erreichen.
Ich mache keine Filme über die Leute, sondern einen Film mit den Leuten. Das ist eine grosse Herausforderung, denn du wirst von diesen Leuten, die den Film mitgestalten, korrigiert. Ich habe das damals in der Filmhochschule gelernt. Das geht zurück auf Eisenstein, der seine Filme so konzipiert hat und bei seinem Film «Potemkin» sagte: Kann ich mal richtige Bauerngesichter haben und nicht diese Moskauer Schauspieler?

Umweltzerstörung und Umweltschutz, Klimaveränderung sind grosse Themen, die sogar in Davos beim Wirtschaftsforum aufgegriffen wurden. Auch dein Dokumentarfilm befasst sich damit. Was hat dich zu «Fair Traders» motiviert?
Bei mir entstehen Filme häufig aus dem vorhergehenden. Nachdem mein Spielfilm «Shana – the Wolf's Music», die Geschichte eines indianischen Mädchens in Kanada, sehr erfolgreich war im Kino und auf Festivals gezeigt worden ist, habe ich an viele Diskussionen teilgenommen und festgestellt, dass sich Jugendliche grosse Sorgen um die Zukunft machen. Eine Frage, die mir oft gestellt wurde, war: Haben indigene Völker eine grössere Chance als wir? Die 15-, 16-, 17-Jährigen haben Sorge, dass wir in unserem System keine Zukunftsperspektiven mehr haben. Das hat mich sehr beschäftigt, und ich habe mich gefragt: Gibt es in unserer kapitalistischen Welt nicht Leute, die heute schon ein Stück vom Traum über Fairness, Gerechtigkeit umgesetzt haben? Ich habe mich auf die Suche gemacht, und in der Schweiz kommst du sehr schnell auf die Remei AG und Patrick Hohmann, einer der ersten Biobaumwoll-Pioniere der Schweiz. Er hat schon vor 40 Jahren fairen Handel getrieben, als es das Wort dazu gar nicht gab.

Und was bedeutet das? Wie ging es weiter?
Als ich ihn fragte, warum hast du das vor 40 Jahren schon so gemacht, ist seine Antwort klar: Es führt kein Weg daran vorbei, dass man fair zueinander ist. Die Bauern produzieren für mich etwas, warum soll ich diese Leute über den Tisch ziehen? Das hat mich fasziniert. Aufgrund von Patrick Hohmann habe ich die zweite Persönlichkeit, Sina Trinkwalder, kennengelernt. Sie bezieht nämlich Biobaumwolle von ihm. Die gefällt mir, sie trägt das Herz auf der Zunge. Patrick produziert International, Sina national, und nun wollte ich jemanden finden, der ganz lokal ausgerichtet ist. Ich habe recherchiert, bis meine Frau sagte, nimm doch diesen Hofladen vor der Tür. Ein junges Paar macht jetzt einen Bioladen auf. So kamen drei Persönlichkeiten im Film zusammen: drei Schicksale – lokal, national, international, drei Generationen. Stellvertretend für unsere Gesellschaft.

Wie lange hat es gedauert, bis das alles zusammen gekommen ist?
Ein Film ist immer ein grosses Unternehmen. Es hat vier Jahre gedauert: Im ersten Jahr Konzept, Entwicklung und Recherche, im zweiten Finanzierung, dann Realisierung und Postproduktion. Im Laufe dieser Arbeit kommst du den Menschen nah. Es ist kein schnelles Produkt, das wir herstellen und wir verschwinden wieder. Es entstehen Freundschaften, Verbindlichkeiten, auch Verbundenheiten.

Diese Unternehmer stehen für eine Lebenshaltung, sie machen auch Mut. Ging es dir auch darum, positive Gegenbeispiele zu all den negativen Meldungen und Fakten von heute zu zeigen?
Absolut. Das ist mir ein ganz wichtiges Anliegen, mit meinem Film Mut zu machen, und ich wünsche mir, dass der Funken, der von diesen Persönlichkeiten, der vom Film ausgeht, auf das Publikum überspringt. Du sollst aus dem Filmerlebnis herauskommen und bist darin bestärkt, das zu machen, was du dir vielleicht wünscht, aber noch nicht zu machen gewagt hast. Ich habe nach einer Vorführung erlebt, wie eine Frau zu mir kam und mir für den Film dankte. Sie schiebe seit längerem eine wichtige Lebensentscheidung vor sich her und nach unserem Film käme sie gestärkt aus dem Kino und wisse jetzt, dass und wie sie sich entscheiden werde. Das ist für mich der schönste Beweis dafür, dass unser Film das Publikum stärkt und berührt. Ein Film für Herz und Verstand.

Wie geht die Reise weiter?
Ich mache nicht nur Filme, sondern begleite sie auch – auf einer nationalen und internationalen Kinotour. Er startet ja auch am 28. März in Deutschland mit Kinovorpremieren ab dem 17. März in Berlin, tags darauf in Augsburg, dann in München, Konstanz u.a.m. Ich setze mich dafür ein, dass er gezeigt, wahrgenommen wird und etwas bewirkt.

Haben Schulen reagiert, nachgefragt?
Die Aufmerksamkeit der Schulen ist gross und wir organisieren und betreuen Schulvorstellungen. Ich gehe nach Möglichkeit an jede Schulvorführung und diskutiere nach den Film mit den Schulklassen. Der Gedankenaustausch mit dem jungen Publikum ist für mich wegweisend.

Schule und Kino ist das möglich?
Wir haben festgestellt, dass Arthouse-Filme oft in Schulzimmern gezeigt werden unter technisch schlechten Bedingungen. Ein Klassenzimmer ist kein geeigneter Ort für Filme. Wenn nun Jugendliche Arthouse-Filme unter solchen Bedingungen rezipieren, machen sie die Gleichung Arthouse gleich technisch schlecht gemachte Filme. Wenn sie mit der Klasse aber ins Kino gehen, dem Ort, der ja extra für Filmvorführungen gebaut wurde, erleben sie, wie Arthouse-Filme technisch wirklich sind – nämlich genauso wie Kinofilme eben sind, mit brillantem Bild und hervorragendem Surround-Ton. Und sie erleben, dass anspruchsvolle Filme ein filmtechnischer Genuss sind. Wir haben uns beim Bund dafür stark gemacht, dass Schulen unsere Filme im Kino rezipieren sollen. Daraus ist Kinokultur entstanden, eine Organisation, die Schulen animiert, ins Kino zu gehen. Hinzu kommt, dass mit dem Kauf eines Kinotickets unsere Filme in der Boxoffice erfasst werden und Rückflüsse für einen neuen Film generieren. Im Kanton Solothurn und im Kanton Aargau werden zudem die Schuleintritte mit 50 Prozent unterstützt, so dass die Schüler und Schülerinnen nur noch 5 Franken Eintritt für einen Film bezahlen. Das ist grossartig und wegweisend für andere Kantone. Wenn ich also höre, dass Lehrkräfte auf die DVD warten, um diese dann im Schulzimmer vorzuführen, frage ich sie, ob sie denn zum Beispiel «Buddenbrooks» von Thomas Mann auch als mies kopierte Blätter mit schwarzem Rand und unscharfen Buchstaben der Klasse verteilen, um damit Freude an der Literatur zu wecken? Viele werden daraufhin nachdenklich und gehen mit ihrer Schulklasse ins Kino.


Nino Jacusso
Geboren 1955 in Acquaviva Collecroce, Regione Molise, Provinz Campobasso, Südtalien
Seit 1960 in der Schweiz. Hochschule für Fernsehen und Film, München.
1979 erster Kinofilm «Emigrazione» (doc). 1980 «Ritorno a casa» (doc). 1982 «Klassengeflüster»(fic). 2001 «Escape To Paradise» (fic) u.a. 2014 «Shana – The Wolf's Music» (fic – mit 26 internationale Auszeichnungen!). 2018 «Fair Traders».


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Veröffentlicht Februar 2019