Breites Spektrum (im Uhrzeigersinn): «Close» –  eine sehr nahe Annäherung; «Der junge Häuptling Winnetou», viel Lärm um ein Kinoabenteuer; «Unruly», ein düsteres Erziehungskapitel; «A Forgotten Man», ein Schweizer Gesandter kehrt aus Nazi-Deutschland zurück. (Bilder: ZFF)


Rückblick aufs ZFF 2022

Ein Fest fürs Kino und
ein gefundenes Fressen fürs Publikum

Die Lichter sind ausgegangen, der grüne Teppich wurde eingerollt die Augenklappen sind gefallen. In Zürich ist wieder Kinoalltag eingekehrt.  Das 18. Zurich Film Festival (ZFF) hat sichtlich für kulturelle Belebung gesorgt und konnte Rekordzahlen verbuchen. 137000 Zuschauer und Zuschauerinnen besuchten 146 Filme aus 49 Ländern.
Das Zürcher Filmfestival fand spürbaren und zählbaren Anklang. Annähernd 140000 Besucher wurden registriert. Zürich überholt damit das Filmfestival Locarno (Zuschauer 2022: 128 500).  Das breite Spektrum an Filmen sprach viel an. Jedermann und (-frau) konnte auf seine (ihre) Kosten kommen.

 
Direktor Christian Jungen kann mit seiner dritten ZFF-Ausgabe höchst zufrieden sein. Das Filmfestival hat sich als Publikumsevent bewährt und etabliert. Hier lebt das Kino. Kinder bevölkerten geradezu die Kinosäle in Sihlcity. Ich war Augenzeuge bei der Aufführung vom «Jungen Häuptling Winnetou». Das macht Hoffnung, denn noch immer halten unsichtbare Hemmschwellen manche Besucher vom Kinoeintritt ab – abseits eines Events oder Festivals. Wir blicken zurück …
 
Ticketing. Freundlichkeit wurde gross geschrieben bei der ZFF-Ausgabe 2022, und das in Zürich. Vom Pressebüro bis zur Ticketkontrolle in den diversen Kinosälen. Da könnten sich manche Leute hinter Ladentheken oder beim Service eine Scheibe abschneiden. Die Ticketorder via Internet war dagegen arg mühsam, zumindest für Pressevertreter.

Blutig. Beim Rindersteak bestelle ich gern blutig (rare oder saignant), im Kino kommt’s drauf an, wenn Vampiren oder Killer am Werk sind. Doch wenn Kannibalen von heute agieren wie im Roadmovie «Bones and All» von Luca Guadagnino, stehen einem die Haare zu Berge. Das Pärchen Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet) unternimmt einen wilden Trip durch US-Lande (Ohio, Kentucky usw.) und hat sich zum Fressen gern. Guten Appetit! Blutrünstig geht’s auch im SF-Body-Thriller «Crimes of the Future» von David Cronenberg zu. Saul (Viggo Mortensen) «produziert» quasi Organe und stellt die Entnahme öffentlich zur Schau, innig begleitet und animiert von Partnerin Caprice (Lèa Seydoux). Die Performance einer OP wird zum Sexualakt – eine gruslige Vision aus der «dystopischen Zukunft». Der Body-Horrorstreifen geht unter die Haut. Wer will sich das antun, auch wenn der «Filmschöpfer» David Cronenberg heisst …?
Blutig, aber auf andere elende und grausame Art geht’s im Antikriegsfilm «Im Westen nichts Neues» zu. Hier wird nichts beschönigt, die Helden krepieren elendiglich im Ersten Weltkrieg. Der gleichnamige Roman von Erich Maria Remarque wurde vom deutschen Regisseur Edward Berger grau und grausam in Szene gesetzt. Die Bilder vom mörderischen Schlachtfeld brennen sich ein. Keine Action zur Unterhaltung, kein Heldentod, keine Versöhnung und Heilung. Übrigens eine der markanten Netflix-Produktionen am ZFF.
 
Familienbande. Die Schweizerin Ursula Meier schuf ein tiefgründiges Familiendrama mit «La ligne». Die 35jährige Margaret (Stéphanie Blanchoud) rastet aus, geht handgreiflich auf ihre Mutter (Valeria Bruni Tedeschi) los, verletzt sie und beendet so abrupt deren Pianistin-Karriere. Der rabiaten Tochter wird juristisch eine Linie gezogen, sie muss sich 100 Meter von ihrer Familie fernhalten. Ein Beziehungskonflikt wird bis zur Schmerzenslinie(-grenze) ausgereizt. Familienbande spielen auch im Spielfilm «The Swimmers» von Sally El Hosaini eine prägende Rolle. Lebensmittelpunkt und -sinn der syrischen Schwestern Yusra und Sarah ist das Schwimmen. Yusra ist ehrgeizig und träumt von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen. Aber Damaskus ist 2011 kein sicherer Ort. Das Schwimmbad wird bombardiert. Der einzige Ausweg heisst Flucht. So wird «The Swimmers» zum Flüchtlingsdrama, das 2016 in Rio de Janeiro olympisch endet. Die Mardini-Schwestern schrieben ein Kapitel Sport- und Flüchtlingsgeschichte. Eindrücklich.

Liebesdramen. Zwei Burschen, 13 Jahre jung, sind schier unzertrennliche Freunde. Sie sind sich nah. So auch der Filmtitel «Close» des Belgiers Lukas Dhont. Doch zwischen Léo und Rémi entstehen Rissen. Gedankenlose Schulkameraden diffamieren sie als Schwulenpaar. Léo geht auf Distanz, das verkraftet sein Freund nicht. Und Léo muss eine schwere Last verkraften, sich seinen Gefühlen und vermeintlichen Mitschuld stellen.
Ein Liebesdrama ganz anderer Art ist «Dalíland» von Mary Harron. Der junge Galerist James (Ezra Miller) wird Assistent beim exzentrischen Künstler Salvatore Dalí (Ben Kingsley) und wird Zeuge des bizarren Schaffens des Malers und dessen süchtigen Beziehung zur Gattin Gala (Barbara Sukowa). Ein dramatisches Endzeit-Porträt des genialen Künstlers.

Drama oder Satire? In Sönke Wortmanns Familienclinch «Der Nachname» artet ein Treffen auf Lanzarote aus. Nach «Der Vorname» serviert Wortmann eine Fortsetzung mit sarkastischem Humor, entlarvenden Emotionen und herrlichen Dialogen – dargeboten von einem bewährten Ensemble mit Christoph Maria Herbst, Caroline Peters, Iris Berben und mehr. Eine intelligenter Familiencrash mit Wortwitz und Ironie.

Historisch. Schweiz 1945. Das Nazi-Reich liegt in Trümmern. Der Schweizer Boschafter kehrt aus Berlin zurück. Hans Frölicher hatte sich mit den braunen Machthabern arrangiert. Unbefleckt? Dramatiker Thomas Hürlimann hatte dies in seinem Theaterstück «Der Gesandte» angezweifelt. Diese Problematik greift Laurent Nègre in seinem Spielfilm «A Forgotten Man» auf. Hier heisst der Diplomat Heinrich Zwygart, überzeugend verkörpert durch Michael Neuenschwander. Der Heimkehrer wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, er soll tatenlos zugesehen haben, wie der gescheiterte Schweizer Attentäter Maurice Bavaud (Victor Poltier) gefasst und gehenkt wurde. Der scheinbar smarte Ex-Botschafter wird diesen Geist nicht los. Der Film nimmt sich dies bezügliche dramatische Freiheiten heraus, auch was einen Studenten angeht, der den Opportunisten beschuldigt. Bestechend gleichwohl, das kammerspielartige Drama hat dokumentarischen Charakter, nimmt sich aber dramaturgische Freiheiten. Es verdichtet. In der Figur Zwygarts spiegelt sich die politische Stimmung in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, hier zugespitzt auch auf die Frage: Ist der Diplomat Täter oder Opfer, ist die Schweiz mitschuldig oder nur mitgefangen? Am Ende dieses schwarzweissen Dramas um den Diplomaten im braunen Deutschland taucht eine Schweizer Fahne auf – schmutzig rot eingefärbt. Regisseur Laurent Nègre hat ein Stück Schweizer Geschichte in ein Kammerspiel «eingepackt» und aufgerollt. Sein kompromissloser Spielfilm hat noch keinen Verleih gefunden. Ist seine Spiegelung einer ambivalenten Schweiz zwischen Geschäft und Gewissen zu entlarvend?
 
Outing. In Beispiel harscher Tarnung beschreibt der Österreicher David Wagner in seinem Spielfilm «Eismayer». Besagter Eismayer (Gerhard Liebmann) ist ein Schleifer, der seine Rekruten erbarmungslos triezt. Doch Vizeleutnant Eismayer, Ausbilder beim 4. Österreichischen Garderegiment, führt ein Doppelleben. Er ist homosexuell und geht eine Beziehung mit dem Rekruten Mario ein. Wagner grober und doch feinfühliger Film beruht auf Tatsachen. Der Nachspann klärt auf. Die beiden strammen Soldaten sind heute noch ein Paar. Beeindruckend.

Entmündigt. Der dänische Film «Unruly» von Malou Reymann im Wettbewerb ging unter. Reymann schildert ein düsteres Kapitel dänischer Gesellschaftsgeschichte. In den Dreissigerjahren wurden junge Frauen mit geistiger Schwäche oder sexuellen Trieben isoliert und in ein Fraueninstitut gesteckt und bevormundet. So auch die 17-jährige Maren (Emilie Kroyer Koppel). Sie darf ihr Kind gebären, wird jedoch von ihm getrennt und sterilisiert. Ihre Freundin Sørine begehrt auf … Einer der eindrucksvollsten Filme, die am ZFF zu sehen waren.

Winnetou gebrandmarkt. Ein Gespenst geht um, das der «kulturellen Aneignung» im Zusammenhang mit rassistischen Vorwürfen. Schweizer Beizer sagten wegen «Rastafarilocken» Konzerte ab, weil sich Konzertbesucher unwohl fühlten oder fühlen könnten. Dürfen Schauspieler und Sänger noch Chinakostüme und -zöpfe tragen, wenn sie in Bregenz die Oper «Madame Butterfly» aufführen? Eine Schweizer Kritikerin hatte sich darüber mokiert. Kritische Anmassung? Und nun hat es auch den Phantasten Karl May erwischt. In Deutschland bremste der Ravensburger Verlag das Buch zum Film «Der junge Häuptling Winnetou» aus. ZFF-Direktor Christian Jungen zeigte sich davon unbeeindruckt und liess den Film im Rahmen des «ZFF für Kinder» aufführen. Warum auch nicht! Bei der Aufführung, die ich im Abaton besuchte, waren die jungen Besucher zufrieden und applaudierten. Der junge Winnetou bewährte sich und schloss nach anfänglicher Skepsis Freundschaft mit einem weissen Jungen. Gemeinsam legten sie einem goldgierigen Banditen das Handwerk. Man sah und staunte: Keine geringerer als der internationale Schweizer Filmstar Anatole Taubman machte böse Miene als Banditen-Boss und suhlte sich als Kerl, der Indianer austrickste …? Aber die junge Freundschaft und edle Absichten siegten gleichwohl. Ein harmloser gut gemeinter und kindergerechter Abenteuerfilm, in dem es wohl Prügeleien und Fesselungen gab, aber keine Tote und Verletzte! Im Gegensatz zu den jungen Zuschauern war der Moderator im Kino freilich nicht auf der Höhe. Er versuchte den jungen Besuchern zu erklären, dass Karl May die Länder, die er beschrieben hat, also auch den Wilden Westen, nicht vor dem Verfassen seiner Erzählungen besucht hat. Korrekt. Dieser bereiste erst 1899 den Orient und 1908 Amerika. Der berühmte Autor war ein Phantast, er hatte seine Reiseerzählungen schlicht erfunden. Karl May wurde 1842 in Ernstthal geboren, und nicht 1942 wie der Moderator zweimal verkündigte. May starb 1912 in Radebeul. Nach dem Ende des ZFF wurde bekannt, dass der «Junge Häuptling Winnetou» (Ascot-Elite) nicht in Schweizer Kinos gezeigt wird. Er wurde wohl auch Opfer kultureller Bevormundung und rassistischer Anmassung!

Missverstanden. Wenn man nicht im Rampenlicht steht als Preisträger oder Star auf dem grünen Teppich in Zürich, bleiben oft nur der Schatten oder das Licht des eigenen Films. Filmschaffende waren froh, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen, auch weil es kaum anderen Fore dafür am ZFF gab. Die Polin Anna Kazejak («Fucking Bornholm») genoss es sichtlich, dass das Publikum Kontakt mit den Filmern suchte – nach der Vorstellung. Die polnische Regisseurin konnte sich mit Publikum austauschen. Sie bemerkte freilich nicht, dass manche Szenen und Dialoge zwar von polnischen Zuschauern verstanden wurden, vom Rest aber nicht, will man den häufigen Lachern im bei Publikum glauben. Viele Anspielungen und Wortwitz kamen nur im Polnischen rüber. Die Untertitelung hatte hier wohl nach eigenem Bekunden versagt. Mir war bei dieser Camper-Familiengeschichte nicht zum Lachen zumute. Die Ankündigung der Regisseurin, «Fucking Bornholm» mit «Fucking Monte Rosa» oder so ähnlich, also Camping im Winter, fortzusetzen, kam bei mir als schlechter Witz an. Das trifft auch auf den Programmhefthinweis eines «komödiantischen Dramas» zu. Offenbar ein Missverständnis …?

 
Preisträger.
Die Goldenen Augen, dotiert mit je 25 000 Franken, gehen an:

Im Wettbewerb Fokus  an «Cascadeurs» von Elena Avdija, im Wettbewerb Spielfilm an «Los reyes del mundo» von Laura Mora Ortega und im Wettbewerb Dokumentarfilm an «Sam Now» von Reed Harkness.
Kritikerpreis an «Foudre» von Carmen Jaquier
ZFF für Kinder Juryspreis an «Lucy ist jetzt Gangster» von Till Endemann; Publikumspreis Kinderfilm für «My Robot Brother» von Fredrik Meldal Nørgaard
Publikumspreis an «Becoming Giulia» von Laura Kaehr
Beste Internationale Filmmusik: Robert IJserinkhuijsen

Das 19. Zurich Filmfestival findet vom 28. September bis 8. Oktober 2023 statt.
Infos: info@zff.com


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Veröffentlicht Oktober 2022