Im Uhrzeigersinn von oben: Prix de Soleur für «Wet Sand» von Elene Naveriani; Prix Opera Prima für «Pas de deux» von Elie Aufseesser; Upcoming Förderpreis Hauptpreis geht an Keerthigan Sivakumar für «Doosra»; Prix du Public für «Presque» von Bernard Campan und Alexandre Jollien. (Bilder: Filmtage)


57. Solothurner Filmtage 19. bis 26. Januar 2022

Filme sehnen sich nach Publikum

Die 57. Solothurner Filmtage haben stattgefunden – vor Ort mit Publikum. Rund 30’000 Besucher (Eintritte) wurden verzeichnet. Die Filme, besonders die Dokumentarfilme, waren gewohnt stark, die Publikumsresonanz fiel eher spärlich bis dürftig aus. Geprägt wurde die diesjährige Ausgabe wie schon 2021 von Frauen. Der Prix de Soleure geht an die Georgierin Elene Naveriani für «Wet Sand», der Prix du Public an Bernard Campan und Alexandre Jollien für «Presque» sowie der Opera Prima an Elie Auseesser (Regie) und Joshua R. Troxler (Produzent) für «Pas de deux».

Das Kino darbt mit und durch die Pandemie. Als Alternative bieten sich Streamingdienste an – mit grossem Erfolg. Kinoerlebnisse können sie indes nicht ersetzen. Bilder im Laptop-Format oder anderen Bildschirmen sind nur Ersatz und bieten eine oberflächliche Alternative. Die letztjährigen Filmtage haben sich – mehr der Corona-Not denn der eigenen Überzeugung gehorchend – online angeboten. Mit ansehnlicher Resonanz. Gleichwohl ist die Entscheidung der Verantwortlichen der Solothurner Filmtage 2022 richtig und wegweisend, die ausgewählten Filme live, also im Kino mit Publikum, vorzuführen richtig. Da mögen manche bequeme Zuschauer, Beobachter und Kritiker noch so sehr darüber mäkeln, dass man in Solothurn nur auf Kinosäle setzte und Online-Alternativen ausklammerte. Filme gehören ins Kino, nur dort können sie sich richtig entfalten, die Konzentration der Zuschauer fesseln, Emotionen bündeln – im sozialen Umfeld, im Gemeinschaftserlebnis. Allein mit anderen. Dass bedeutet nicht, dass man Produzenten wie Netflix, Disney und andere, die auf Streamingdienste setzen, ächten oder gar aussperren sollte. Es geht auch miteinander im Dienste einheimischer Produktionen. Doch das Kino sollte stets Vorrang haben.
Die 57. Solothurner Filmtage fanden also statt vom 19. bis 26. Januar 2022 – unter der neuen künstlerischen Leitung von Marianne Wirth und David Wegmüller. Was fiel auf, was fiel ab, was ist zu erwarten?

Publikum Deutlich weniger Filmschaffende, Cineasten und Kulturinteressierte strömten 2022 an die Aare. 30’000 Besucher meldeten die Veranstalter, man hoffte auf annähernd 50’000. Im Jahr 2020 vor Corona waren es 66’000 (reale) Besucher (Auslastung: 70,5 Prozent). Die Säle in diesem Jahr waren bisweilen nur spärlich besetzt, selbst am Samstagnachmittag klafften im Landhaus grosse Lücken. Kaum Warteschlangen – höchstens Verzögerungen wegen Zertifizierungsnachweis, kein Platzmangel in Beizen und Restaurants. Die Stimmung in den Sälen und auf der Gasse eher lau. Das lag nicht an der Organisation, die lief meistens reibungslos bei der Online-Reservierung oder beim Einlass, sondern an den Pandemieverhältnissen im Land und der Menschen, die das Risiko oft scheuen, zusammen zu sein. Die Hemmschwelle zum Kino ist noch immer hoch!

Gewinner

Prix de Soleur (60’000 Franken) für «Wet Sand» von Elene Naveriani. Die Filmerin aus Georgien erzählt von einer verborgenen Liebe zwischen zwei Männern in einem Dorf am Schwarzen Meer. Einer stirbt, und eine junge Heimkehrerin deckt ein Netz aus Lug und Trug, Angst, Vorurteilen und labilen Werten der Dorfbewohner auf. Am Ende setzt sich die Liebe durch. Ein feinfühliges, traurig-wehmütiges Beziehungsdrama mit einem guten Schuss Hoffnung. (Kinostart: 5. Mai).

Prix du Public (20’000 Franken) für «Presque» von Bernard Campan und Alexandre Jollien. Der 40jährige Igor ist behindert. Der 58jährige Louis ist Junggeselle. Beide lernen sich zufällig kennen und machen sich auf eine Tour – mit der Urne einer alten Dame im Gepäck. Eine aufschlussreiche, erkenntnisreiche Reise. «Presque» lockte in der ersten Kinowoche in der Romandie bereits 10’000 Besucher an. (Kinostart in der Deutschschweiz: 7. April).

Prix Opera Prima (20’000 Franken) für «Pas de deux» von Elie Aufeesser. Zwei Brüder, geografisch getrennt, leben sich auseinander. Die Trennung scheint unüberwindlich. «Anhand des Porträts dieser erstaunlichen Familie stellt der Film Fragen zur Abstammung, zum Erwachsenenwerden, zum Tod zur Unbeschwertheit und zum Wahnsinn», lobte die Jury. Ein Erstlingswerk.

Upcoming Förderpreis (15’000 Franken). Der Hauptpreis geht an Keerthigan Sivakumar für «Doosra», ein Film über einen Asylbewerber aus Sri Lanka. 

Beste Schweizer Trickfilme Simon Schnellman und «Bis zum letzten Tropfen» (5000 Franken), Marcel Barelli und «Dans la nature» (3000 Franken), Anna Lena Spring und Lara Perren für «Sauna» (2000 Franken).

Schauspielerpreis Prix Swissperform (je 10’000 Franken) an Hauptdarstellerin Isabelle Caillat («Cellule de Crise»), Hauptdarsteller Julian Koechlin («Neumatt»), Nebenrolle Marlise Fischer («Neumatt») und Spezialpreis an Estelle Bridget («Sacha»).

Filme 

Über 150 Filme wurden an den Solothurner Filmtagen 2022 aufgeführt. Werke aus der Romandie waren stark vertreten, viele wurden von Frauen realisiert. Hier seien nur einige wenige Filme neben den genannten Preisträgern hervorgehoben, die man sich vormerken sollte.

«Loving Highsmith», der Eröffnungsfilm von Eva Vitija. Die Filmerin spürt der jungen wilden Autorin Patricia Highsmith, ihren Liebesaffären und Eigenarten nach. Bewusst verzichtet sie fast ganz auf die alte verbitterte Schriftstellerin, die ihre letzten Lebensjahre im Tessin verbrachte. Ein Porträt, das zu vervollständigen wäre. (Kinostart: 10. März)

«Rotzloch» von Maja Tschumi. In einem versteckten Nest in Nidwalden leben Asylanten. Sie schildern ihre Lage, Befindlichkeiten Hoffnungen und tristen Behörden-Alltag.

«(Im)mortels» von Lila Ribi. Zehn Jahre begleitete die Filmerin ihre Grossmutter, die dazumal 93 Jahre alt war, rüstig und sehr erdverbunden. Sie glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod. Doch die Enkelin aus dem Waadtland, Lila Ribi, lässt die Frage nicht ruhen. Sie will mehr über das Unausweichliche erfahren, über Nahtod-Erfahrungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, Vorstellungen und Wünsche. (Kinostart:14. April).

«The Tiger Mafia» von Karl Ammann und Lourin Merz. Annähernd zehn Jahre lang hat Karl Ammann den Handel mit Wildtieren, speziell mit Tigern in Afrika und Asien, verfolgt und ist auf erschreckende Machenschaften und kriminelle Geschäfte gestossen. (Amazon Prime)

«Luchs» von Laurent Geslin. Wildlife-Fotograf Geslin ist über alle Jahreszeiten den Spuren einer Luchs-Familie im Jura gefolgt – mit unendlicher Geduld und Hartnäckigkeit. Bilder aus freier Wildbahn, die einen packen und zu Herzen gehen. (Kinostart: 24. Februar).

«Do You Remember Me?» von Désirée Pomper und Helena Müller. Sara (28), eine junge Frau aus Äthiopien in der Schweiz, will wissen, was Frauen – Mutter, Grosssmutter, Beschneiderin – dazu veranlasst hat, in ihren Körper einzugreifen. Sie hat jahrelang an den seelischen Wunden gelitten. Ein aufrüttelndes Dokument über brutale Rituale, Schmerz und Traumata. (ab März im Kino)

«Stand Up, My Beauty» von Heidi Specogna. Die äthiopische Azmari-Sängerin Nardos versucht ihr Leben, mit Liedern zu bewältigen. Spiegelung des Alltags und Hoffnung auf Selbstverwirklichung. (Kinostart: 17. Februar)

«Schwarzarbeit» von Ulrich Grossenbacher. Arbeitsmarktkontrolleure wie Frédy Geiser, Stefan Hirt oder Regula Aeschbacher spüren auf Baustellen, Restaurants oder in anderen Betrieben Schwarzarbeitern nach, eigentlich um sie vor Ausbeutung und Lohndumping zu schützen. Ein politisches Roadmovie, bei dem auch SP-Politiker und Gewerkschaftler Corrado Pardini ein gewichtiges Wort in Sachen Lohnschutz mitzureden hat. (Kinostart: 28. April)

«Olga» Spielfilm von Elie Grappe. Eine junge Turnerin aus der Ukraine versucht, die Balance zwischen Heimatsehnsucht und sportlichen Ehrgeiz zu finden. In der Ukraine revoltieren die Menschen, aber nur in der Schweiz findet Olga Sicherheit. Nominiert von der Schweiz für die Oscar-Nominierungen. (Kinostart: 24. Februar)

«3/19» von Silvio Soldini. Der Titel «3/19» bezieht sich auf eine Aktennummer der Bestattungsbehörde: der dritte unbekannte Tote in Mailand 2019. Die erfolgreiche Konzernanwältin Camilla wird nachts von einem Motorrad umgefahren. Der Fahrer flieht und lässt seinen Kumpan zurück, der an den Unfallfolgen stirbt. Das lässt Camilla keine Ruhe: Wer ist der Tote? Die Anwältin ist verstört, wird an ihre Kindheit, an Versäumtes erinnert. Wie besessen sucht sie nach Hintergründen und wird auf sich selbst zurückgeworfen. Ein Psychokrimi und eine Liebesgeschichte der leisen Art. (Kino: ab 27. Januar im Tessin)



Zurück


Veröffentlicht Januar 2022