Frauen an der Filmfront: Die Regisseurin Delphine Lehericey (oben rechts) von «Le milieu de l‘horizon» und ihre Hauptdarstellerinnen Clémence Poésy (oben links) als Cécile und Laetitia Casta (unten links) als Nicole; Miriam Stein überzeugte als aufmüpfige Schauspielerin in «Moskau. Einfach!» (Bilder: Outside the Box, Vinca Film).


SCHWEIZER FILMPREIS 2020

Frauenpower

Seit 1998 wird der Schweizer Filmpreis verliehen – eine Initiative übrigens von Ivo Kummer, dazumal Leiter der Solothurner Filmtage, heute Chef der Sektion im Bundesamt für Kultur. Die Preisträger 2020 sind bekannt, es sind vor allem Preisträgerinnen. Respekt. Die Preis-Gala, Ende März vorgesehen, wurde infolge der Corona-Einschränkungen auf das Filmfestival Locarno (5. bis 15. August) verschoben.

Gleichwohl orientierte das Bundesamt für Kultur (BAK) über die Gewinner/Gewinnerinnen eines Quartz, der kantigen Trophäe. Elf Kategorien standen zur Auswahl, achtmal gewannen Frauen. Ein Novum und deutliches Zeichen für Anerkennung, die längst fällig war. Frauenpower! Damit ist die Schweiz den USA und Hollywood weit voraus. Siehe Oscar-Preisträger 2020!

Fanny Bräuning gewann in der Kategorie Bester Dokumentarfilm. Sie hatte ihre Eltern auf deren Reisen mit dem Camper durch Europa begleitet. Er ehemaliger Fotograf, und sie, vom Hals abwärts gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt, lassen sich nicht unterkriegen. «Immer und ewig» heisst der aussergewöhnliche Liebesfilm (12 000 Besucher). Den Quartz als Bester Spielfilm gewann nicht ein Publikumserfolg wie «Platzspitzbaby», «Moskau. Einfach!» oder «Bruno Manser –Die Stimme des Regenwaldes», sondern die Welsche Produktion «Le milieu de l'horizon» von Delphine Lehericey. Ihre stimmige Beschreibung des Landlebens in der Sommerhitze und die Geschichte um ein Knaben und dessen Mutter, die ihre Liebe zu einer anderen Frau entdeckt, gingen in Deutschschweizer Kinos ziemlich unter. In der Westschweiz wurden hingegen über 10 000 Kinoeintritte verbucht. Neben der Regisseurin wurde auch Joanne Giger für das beste Drehbuch quartz-belohnt.
Auch Hauptdarsteller Sven Schelker als Bruno Manser kam zu Preisehren (nunmehr zum zweiten Mal). Seine Leistung im Dschungel und darüber hinaus ist tadellos. Es blieb die einzige Auszeichnung für den Manser-Film. Miriam Steiner erhält den Schweizer Filmpreis für ihre Darstellung als aufmüpfige Schauspielerin Odile in «Moskau. Einfach!» von Micha Lewinsky. Als beste Nebendarstellerin hat sich Cecilia Steiner als sympathische Anhängerin einer Freikirche in «Der Büezer» durchgesetzt – gegenüber Antonio Buil («Insoumises») und Andrea Zogg («Der Büezer»). Bleibt noch zu erwähnen, dass Basil da Cunha für die beste Kameraarbeit («O Film do Mundo») und Olivia Pedroli für die beste Filmmusik («Immer und ewig») ausgezeichnet wurden. Samirs spannender Exilantenspielfilm «Baghdad in my Shadow», dreimal nominiert, kam einmal in die Ränge, und zwar für den besten Schnitt (Jann Anderegg).

Der Schweizer Filmpreis 2020 tut der Branche in diesen Zeiten geschlossener Kinos gut, kann aber über den aktuellen verordneten Stillstand nicht hinwegtrösten oder helfen. Der mit Quartz belobigte Film «Le milieu de l'horizon» könnte eine Renaissance erleben. Bei den Schweizer Filmpreisen haben Werke mit gewissem künstlerischen Wert und Ambitionen mehr Erfolg als Erfolgsfilme. Eintrittszahlen spielen kaum bis keine Rolle. Publikumsfilme werden nach wie vor von der Akademie schnöde behandelt.

Und doch könnte der Quartz Signalwirkung haben und in der Deutschschweiz zu beachteten Werken ein Schub verleihen. Das eindringliche Comingout-Drama «Le milieu de l'horizon» hätte es ebenso verdient wie die kubanisch-schweizerische Produktion «Insoumises» (2019). Der Film von Laura Cazadar und Fernando Perez – nach wahre Begebenheiten – schildert, wie 1819 der junge Schweizer Arzt Enrique Faber (Sylvie Testud) ohne Rücksicht auf Rasse und Status auch Schwarze und Sklaven behandelt. Antonio Buil, nominiert als bester Nebendarsteller, spielt den Bürgermeister, der Faber, der eine Frau ist, so gut und so weit er kann, unterstützt. «Insoumises» wurde an den Solothurner Filmtagen 2020 aufgeführt, aber sonst …

Nachdem auch die Kinowoche der Nominierten (23. bis 29.März) in Zürich abgesagt werden musste, wird es in naher Zukunft kaum noch Gelegenheit geben, «Insoumises» und andere Filme wie «Le milieu de l'horizon» im Kino zu sehen.

Verschiedene Filmverleihe oder Produktionsfirmen bieten Kino daheim an. Dschoint Ventschr beispielsweise offeriert als kleinen Trost vier Filme an, die man kostenlos daheim visionieren kann (Video on Demand): «Iraqui Odyssey» (2015) von Samir, «Verliebte Feinde» (2013) von Werner «Swiss» Schweizer, «Do It» (2000) von Sabine Gisiger und Marcel Zwingli sowie «Nachbeben» (2006) von Stina Werenfels. Kostenlos beim Promocode «HomeCinema». Nicht alles ist also düster in der Kinoszene, es gibt auch Lichtblicke.


QUARTZ 2020
Spielfilm: Delphine Lehericey für «Le milieu de l'horizon»
Dokumentarfilm: Fanny Bräuning für «Immer und ewig»
Animationsfilm: Maja Gehrig für «Average Happiness»
Drehbuch: Joanne Giger für «Le milieu de l'horizon»
Darstellerin: Miriam Stein in «Moskau. Einfach!»
Darsteller: Sven Schelker in «Bruno Manser – Die Stimme des Regenwaldes»
Nebenrolle: Cecilia Steiner in «Der Büezer»
Filmmusik: Olivia Pedroli für «Immer und ewig»
Kamera: Basil Da Cunha für «O Film do mundo»
Montage: Jann Anderegg für «Baghdad in my Shadow»
Abschlussfilm: Aurelio Buchwalder für «Isola»
Spezialpreis der Akademie: Chefbeleuchter Ernst Brunner für «Tambour battant» und «Sekuritas»


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Veröffentlicht März 2020