Fredi M. Murer präsentiert «Höhenfeuer» 34 Jahre nach dem Gewinn des Goldenen Leoparden in Locarno. Peter Lindbergh ist in Locarno mit Bildern präsent, nicht aber mit dem Filmporträt «Women’s Stories» von Jean-Michel Vecchiet.(Bilder: rbr)


72. Locarno Film Festival

Kein Heimspiel für Schweizer Film

Das Filmfestival Locarno 2019 ist Vergangenheit: Ein neues Direktionskapitel wurde mit der Französin Lili Hinstin aufgeschlagen. Gewinner waren einmal mehr die Filme und ihre Schöpfer: Der Portugiese Pedro Costa gewann mit dem Drama «Vitalina Varela» den Goldenen Leoparden, das Piazza-Publikum kürte «Camille» von Boris Lojkine mit dem Prix du Public.

Man muss nicht Hellseher zu sein, um die grosse Nachfrage nach Quentin Tarantinos Kinohommage «Once Upon a Time…in Hollywood» vorauszusehen. Ein sicherer Wert auf der Piazza Grande. Und so war es dann auch: Das Filmfestival Locarno registrierte 9000 Besucher (8000 auf der Piazza plus 1300 in der Kinohalle Fevi), die Tarantinos Western-und Hollywood-Huldigung samt Stargarnierung (Brad Pitt und Leonardo DiCaprio) auf dem Leim gingen. Publikumsliebling (Prix du Public UBS 2019) wurde freilich ein anderer. Boris Lojkine, Philosophiedozent und Doktor, der über Krise und Geschichte dissertierte, inszenierte «Camille». Sein Drama erzählt von der Fotojournalistin und Kriegsreporterin Camille, die sich 2013 voller Idealismus in Zentralafrika regelrecht in den Bürgerkrieg stürzte und ums Leben kam. Publikumsgewinner und sicherer Kinowert (Trigon Film).

Ansonsten erwies sich das Piazza-Programm, wie befürchtet, als spekulativ und nur punktuell attraktiv. Der Komödienabend am 11. August mit «Notre Dame» (wobei das tatsächliche Drama bei der Präsentation kein Wort wert war) und «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» fiel halbwegs ins Wasser. Just 4600 Besucher wurden gemeldet (plus Crazy Midnight 2900). Von Tarantino abgesehen, registrierte man für die Piazza zweimal 6000 Zuschauer und zwar am 9. August beim Cockpit-Thriller «7500» (plus Crazy Midnight 3100) und am 15. August beim durchaus kritischen «Diego Maradona»-Porträt.

Die Schweizer Komödie «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» von Natascha Beller hatte auf der Piazza Wetterpech. Das hatte die Produktion, der Bern (BAK), Fernsehen und andere Institutionen jeden Support (Beitrag) verweigerten, nicht verdient. Die forsche Krisen-Komödie um Frauen um und über 30 mit Kinderwunsch und Kinderproblemen kann nun seinen Unterhaltungswert in den Kinos beweisen.

Die Wettbewerbe gaben wie immer überwiegend unter Cineasten und Kulturjournalisten zu reden. Nur wenige werden es ins Kino schaffen. Gute Chancen hat der Gewinner «Vitalina Varela» (Goldener Leopard) des Portugiesen Pedro Costa. Er erzählt von einer Frau von den Kapverdischen Inseln, die ihren Mann, von ihm vor Jahrzehnten verlassen, nur noch tot auffindet. Die «hochartifizielle Inszenierung» wird Kunstfreunde anlocken. Die Protagonistin Vitalina Varela erhielt einen Leoparden als beste Schauspielerin.

Ein Spezialpreis der Jury ging an «Pa-go» von Park Jung-bum aus Südkorea, dabei geht es um das Mädchen Yea-eun. Diese Art Psychokrimi um Sehnsüchte, Begierden und Missbrauch» könnte es ins Kino schaffen. Einen Leoparden für die beste Regie heimste Damien Manivel für «Les enfants d'Isadora» ein, für einen Tanzfilm voll Anmut und Schönheit. Eher ein Fall für «Sternstunden»?

Mit den Wettbewerben in Locarno – und nicht nur dort – ist es oft so, dass «Kunstwerken» eine Plattform geboten wird – für erlesenes Publikum, das sich gern auf Experimente einlässt. Die neue künstlerische Leiterin Lili Hinstin setzt nach eigenem Bekunden auf «Qualität» und nicht auf Nationalität. Was bedeutet das? Der Schweizer Film bekam es deutlich zu spüren. Just einer schaffte es in den Wettbewerb: «O Film do Mundo» von Basil Da Cunha beschreibt Spiras Heimkehr von einer Erziehungsanstalt ins Elendsviertel von Lissabon. Fern der Schweiz. Chancenlos.

In der Sektion Concorso Cineasti del presente sah es kaum besser aus: Maya Kosa (Genf) und Sergio da Costa beschreiben in «L'ile aux oiseaux» eine seelenvolle Begegnung in einer Vogelpflegestation; Klaudia Reynicke bemüht sich in «Love Me Tender» um eine Frau, die an Agoraphobie leidet, also Angst hat, ihre Wohnung zu verlassen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Gut gemeint, aber kinotauglich…?

Ausgezeichnet wurde übrigens «Baamum Nafi (Nafi's Father)», eine Tragödie aus dem Senegal, in dem Mamadou Dia mehr als den Streit zweier Brüder schildert. Den Regiepreis bei den Cineasti del presente erhielt der Algerier Hassen Ferhani. In seinem Werk «143 rue de désert» liefert er ein geradezu stoisches «Kammerspiel»: Ein Kiosk in der Wüste an einer Fernstrasse, eine ältere Frau, die Tee, Gebäck und mehr anbietet, auf Passanten, Gäste, Einheimische wartet, die ihr die Welt in ihre Behausung/Cafe bringen. Sie erträgt den Alltag duldsam und optimistisch ergeben. Ein Film, jenseits von Mainstream, Action, Unterhaltung – bizarr, einmalig.

Präsident Marco Solari und Direktorin Lili Hinstin sind anscheinend höchst zufrieden mit dem Debüt 2019. Wie sollte es auch anders ein! Und doch ist es nie zu spät für Verbesserungen des Festivals, so ein Einfall der «neuen Besen», das noch im Laufe des Anlasses wieder in Filmfestival umbenannt wurde.


EINE BILANZ
Der Publikumsandrang war mehr punktuell übergross, die Kinos zu klein. Ruth Schweikerts und Eric Bergkrauts Dokufiktion «Wir Eltern» (Fuori concorso) beispielsweise wurde deswegen ein drittes Mal aufgeführt. Flexibel.

Die Schlangen bildeten sich vor den Kinoeingängen. Wer Glück hatte, konnte bei der Filmerübung «Under the God» (Part 1) vom PalaCinema Scala 2 ins 3 wechseln. Manchmal stand man auch vergebens an. An der Kommunikation darf gearbeitet werden.
Ein sicherer Wert ist alljährlich die Semaine de la critique, die nunmehr ihr 30-Jahrjubiläum feiern konnte und sich dem Dokumentarfilm widmet. Wieder waren Entdeckungen zu machen, zum Beispiel «Lovemobil» von Elke Lehrenkraus, Deutschland, und ihre Annäherung an Liebestrailer und deren Liebesdienerinnen; oder «Shalom & Allah» von David Vogel, Schweiz, und seine Annäherung an Schweizer, die zum Islam konvertierten.

Ehrungen in Ehren, aber die Leoparden-Awards mehren sich zusehends. Aber bitte, wenn schon, denn schon. Fredi M. Murer wurde der Leopard für Lebenswerk verliehen. Warum aber sein preisgekröntes Werk «Höhenfeuer», 1985 mit einem Golden Leoparden ausgezeichnet, nicht auf der Piazza Grande gezeigt wurde, bleibt ein Geheimnis der Direktorin, die im Übrigen als Moderatorin auf der grossen Piazza-Bühne recht unbeholfen und linkisch wirkte. Zwölf Zeichnungen von Fredi M. Murer wurden in Locarno ausgestellt. Nur musste man sie im PalaCinema suchen. Sie lagen lieblos arrangiert auf einer Treppenbrüstung. Ausstellungskultur?

Apropos Piazza Grande: Warum es Samir packendes Exilantendrama «Baghdad in My Shadow«» nicht auf die Piazza schaffte, lag wohl an der etwas eigensinnigen Maxime Lili Hinstins, keine Nationen zu bevorzugen. Dabei waren auffallend viele französische (!) Filme in Locarno zu besichtigen. Überhaupt hatte man das Gefühl, dass die Direktorin noch zu wenig Feeling für das Piazza-Programm entwickelt hat. Aber das kann ja noch werden.
Der zweisprachige Festivalkatalog ist zwar über 360 Seiten stark, sein Informationsgehalt aber dürftig. Spartanischen Inhaltshinweisen folgt ein «artifizieller» Sermon, der sich meistens als Schwafelei und abgehobenes Geschwätz erweist. In diesem Fall: Weniger Autoren, aber mehr Information bitte!

Man wird sehen bei der 73. Ausgabe vom 5. bis 15. August 2020.
www.locarnofestival.ch


DIE PREISE DES LOCARNO FILM FESTIVAL 2019

Goldener Leopard (Internationaler Wettbewerb)
«Vitalina Varela» von Pedro Costa, Portugal

Spezialpreis der Jury
«Pa-go» von Park Jung-bum, Südkorea

Beste Regie
Damien Manivel, Frankreich, für «Les enfants d'Isadora»

Beste Darstellerin
Vitalina Varela, Portugal, für «Vitalina Varela»

Bester Darsteller
Regis Myrupu, Brasilien, für «A febre»

Besondere Erwähnung
«Hiruk-pikuk sials-kisah» von Yosep Anggi Noen, Indonesien
«Maternal» von Maura Delpero, Italien, Argentinien

Goldener Leopard Cineasti del presente
«Baamum nafi» von Mamadou Dia, Senegal

Preis für die beste Nachwuchsregie
«143 rue du désert» von Hassen Ferhani, Algerien

Spezialpreis der Jury
«Ivana cea Croaznica» von Ivana Mladenović, Rumänien

Prix du Public
«Camille» von Boris Lojkine, Frankreich

Preis der Ökumenischen Jury
«Maternal» von Maura Delpero

Semaine de la Critique
«The Euphoria of Being» von Réka Szabó, Ungarn
«Adolescentes» von Sébastien Lifshitz, Frankreich


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Veröffentlicht August 2019