Skulptur des Heiligen Pirmin, um 1500, Pfäfers; Mönch Anno übergibt dem Kölner Domherrn Gero den Codex, Kloster Reichenau, vor 969. (Fotos: Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt; Urs Baumann, Arne Kienzl)


1300 Jahre Klosterinsel Reichenau
Weltkulturerbe – der Klostergeist lebt

Kulturreisen sind gefragt. Es muss ja nicht gleich Palenque in Mexiko, Kyoto in Japan oder der Tadsch Mahal in Indien sein. Manches Weltkulturerbe liegt so nah wie beispielsweise die Insel Reichenau im Bodensee. Sie feiert ihre Geschichte, ihre klösterliche Kultur unter anderem mit einer fulminanten Ausstellung im Archäologischen Museum Konstanz: «Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau» (bis 20. Oktober 2024).

«Dort, wo der Rhein von den Höhen der ausonischen Alpen herabfliesst,/ Weitet er sich gegen Westen und wird zum gewaltigen Meere./ Mitten in dieses Meers Fluten erhebt sich die Insel,/ Aue wird sie genannt, ringsum liegen Deutschlands Gebiete;/ Sie aber bringt hervor der Mönche trefflichen Scharen …», hielt Walahfrid Strabo fest, Mönch, Gelehrter, Literat. Er hat unterem auch das Leben des Heiligen Gallus für St. Gallen neu bearbeitet.

Pirmin soll ursprünglich von Irland stammen, vielleicht aber auch aus Westfrankreich oder Spanien. Eine Reihe von Klostergründungen werden dem Wanderbischof zugeschrieben, vor allem im elsässisch-oberrheinischen Raum. Dazu zählt auch das Kloster Pfäfers (Kanton St. Gallen). Ein Bild im Kopialbuch zeigt Klostergründer Pirmin und Maria mit Kind (1590), in der Ausstellung zu sehen. Der Legende nach soll Pirmin vor der Gründung des Klosters Reichenau 724 eine Schlangenkolonie von der Insel vertrieben haben. Solche Gründungslegenden gibt es beispielsweise auch in Irland. Schlangen sind Symbole für das Böse (siehe Adam und Eva). Nach derartiger Vertreibung sollen die Grundlagen für ein irdisches Paradies, ein Kloster, geschaffen sein. Bereits drei Jahre nach der Gründung 724 verliess Pirmin die Insel.

Das Kloster stand anfangs unter Leitung der Konstanzer Bischöfe, bis Karl der Grosse ihm den Status einer Königsabtei verlieh, ihm Immunität und eigene Gerichtbarkeit gewährte. Die Klosterinsel Reichenau erlebte seine Blütezeit vom 9. Jahrhundert bis Ende des 15. Jahrhunderts. Der letzte Abt hiess Markus von Knöringen, er resignierte 1535. Dann, 1540 wurde das Kloster dem Konstanzer Bischof übergeben, der für den Unterhalt von zwölf Mönchen zu sorgen hatte. 1757 wurde es aufgehoben. Wiederbelebung. Im Juni 2004 wurde die Cella St. Benedikt errichtet, heute leben dort drei Benediktiner und drei Benediktinerinnen von den Philippinen.

Die Klosterinsel Reichenau war ein kulturelles Zentrum mit bedeutendem Besitz am Bodensee, Rhein und Thur. Man tauschte sich aus vom Kaiserhof bis zum Kloster und umgekehrt. Die Reichenau wie auch St. Gallen waren zur Karolingerzeit (etwa 750 bis 920) als geistliche Zentren bedeutender als Konstanz, und mit der Welt vernetzt. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Reichenauer Verbrüderungsbuch «Memoria». Es umfasst 38’000 Namen von Pilgern, Mönchen, Nonnen, Bischöfe, Päpste, Könige und mehr. Für all diese Menschen ist im Kloster gebetet worden.

Wichtiger Bestandteil der Ausstellung «1300 Jahre Klosterinsel Reichenau» sind Handschriften: Kostbarkeiten des UNESCO-Weltkulturerbes, beispielsweise das «Liuthar-Evangeliar» (zwischen 990 und 1000), ein Widmungsbild für Kaiser Otto III., oder der «Gero-Codex» (vor 969) aus dem Skriptorium der Reichenau. Die Ausstellung bietet Möglichkeiten, Einblicke in das Skriptorium der Reichenau, also der Schreibwerkstatt des Klosters, zu nehmen – von der Pergament- und Farbherstellung bis zur Skizzierung, Malerei und Buchbindung. Die Bücherschätze der Reichenau nehmen breiten Raum ein. Ergänzt werden sie durch Leihgaben von Trier bis St. Gallen. So ist auch das Kloster Einsiedeln vertreten, wie unser Begleiter, Bruder Gerold aus Einsiedeln, erfreut feststellte.

Fälschungen (heutzutage Fakes) gab’s auch dazumal. Davon legen einige Dokumente Zeugnis ab. Das Kloster fälschte Dokumente, um eigene Rechte zu schützen und belieferte auch andere Klöster. Markante Beispiele sind die Gründungsurkunden von 724, die tatsächlich aus dem 2. Jahrhundert stammen. Der Reichenauer Mönch und Archivar Udalrich hatte eine echte Urkunde von Kaiser Arnulf (887–899) benutzt, den alten Text abgeschabt und neu beschrieben.

Was wäre Geschichte ohne Geschichten? So erfahren wir, was es mit der Stadtgründung von Frauenfeld, mit dem «Freuli mit dem Leuli» auf sich hat. Auf der Stadtscheibe von 1543 wird in sieben Bildern die Begebenheit illustriert – von einer Jagdszene mit der Tochter des Grafen von Kyburg, die Brautwerbung eines Ritters um das Fräulein, die ihm freilich verwehrt wurde. Das verliebte Fräulein wandte sich darauf an den Abt der Reichenau und bat um Vermittlung. Und wie es weiterging mit dem «Freuli» und Frauenfeld, kann man in der Ausstellung nachsehen.
Heilige und Reliquien haben ihre Legenden und Geschichten. Das wäre beispielsweise das Münster Maria und Markus auf der Reichenau mit dem Markus-Altar (15. Jahrhundert) und dem Heilig-Blut-Altar (1739). Am besten vor Ort zu besichtigen. Das Interesse der Klostergemeinschaft an Reliquien wuchs seit dem 9. Jahrhundert. Adeligen verdankt das Kloster 923/925 die bedeutendsten Reliquien: das Blut Christi und Splitter vom Kreuz Christi. Manifestiert (und ausgeschmückt) wurden die Reliquien, in dem Mönche die Geschichten von Märtyrern und Bekennern niederschrieben (Vita, Passio, Translatio) und dichterisch ausschmückten.
 
Keine dichterischen Freiheiten erlaubten sich die Mönche beim Entwurf des St. Galler Klosterplans, um 825/27 entstanden. Er besteht aus fünf Schafspergamenten, die mit Pflanzenfasern zusammengehalten werden. An diesem Plan für die Benediktinerbrüder in St. Gallen war wie erwähnt Walahfrid Strabo wesentlich beteiligt. Er und Bruder Reginbert hatten einen umsichtigen Entwurf geliefert mit Bibliothek, Gästegebäude, Bäckereien und Brauereien, Schule, Noviziat, Gesundheitskomplex mit Bad, Aderlass- und Ärztehaus sowie Werkstätten. Ideen des Klosterplans, so hat Forscher Hans Rudolf Sennhauser belegt, seien nur punktuell realisiert worden.

Auf zwei Stockwerken wird die Geschichte und kulturelle Bedeutung der Klosterinsel umfassend erkundet, beschrieben, illustriert und mit modernen Mitteln nahegebracht – gediegen und fundiert. Auch ein Blick ins 3. Stockwerk lohnt, dort wurde die Insel im Playmobilformat aufgebaut, besonders für junge Besucher ein Spass. Wer will, kann am Wettbewerb teilnehmen und haarsträubende Fehler suchen (20 und mehr) in der Familienschau «Archäologie und Playmobil: Mönche, Mission, Abenteuer».

Vollendet oder besser vertieft wird die Ausstellung «Welterbe des Mittelalters» durch ein schwergewichtiges Buch, das übliche Kataloge weit übertrifft, (Schnell + Steiner Verlag Regensburg 2024, 36 Euro). Skulpturen, Handschriften, Reliquien, Pläne, Bauwerke und vieles mehr werden detailliert beschrieben und mit Geschichten bereichert, beispielsweise über Kirchenvater Gregor des Grossen oder Hermann «dem Lahmen» von Reichenau.

25 Autoren und Autorinnen befassten sich zudem mit Themen wie «Reichenau – ein queerer Ort?», mit himmlischen Abglanz, mit der Insel Reichenau als «Glückselige Insel», ihren Gästen und Entwicklung des Tourismus.

Vom Museum zur Insel «Augia Felix»: Ein Besuch auf der Reichenau lohnt alleweil, neun Kilometer von Konstanz. Hier finden sich die drei mittelalterlichen Kirchen St. Georg, St. Peter und Paul sowie das Münster St. Maria und Markus, ehemalige Klosterkirche der Benediktinerabtei mit Klostergärten und Weinkellerei.


Veranstaltungen
Augia Konzert mit Bernhard Kratzer und Paul Theis im Münster St. Maria und Markus,
Mariä Himmelfahrt 15. August; Inselfeiertag mit Parade und Festgottesdienst
Skriptorium, 2-Tages-Workshop für Kinder (16./17. August) und Erwachsene (6./7. September)
Führungen bis 20. Oktober

info@reichenau-tourismus.de
www.reichenau-tourismus.de

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Veröffentlicht August 2024