Vom Sihlsee bis Indien: Dem Innerschweizer Dokumentaristen und Pädagoge Karl Saurer ging es immer um Menschen, ihre Umwelt, ihre Probleme und Bedürfnisse. Er war ein Wächter und Ritter der Menschlichkeit. (Bild: Jože Rehberger Ogrin/Innsbruck, 2012)


Karl Saurer -
Ein Menschenfreund mit Herz und Verstand

Er war Kulturschaffender, Fussballer, Fan, Filmemacher, Freund. Er ist zu seiner letzten Reise aufgebrochen. Karl Saurer, Weltenbürger und Menschenfreund, hat die Bühne des Lebens verlassen. Er ist gegangen und doch geblieben – in unseren Herzen und Gedanken, mit seinen Werken, seinen Taten und seinen Anliegen, den Menschen zu Menschenwürde, Recht und Gerechtigkeit zu verhelfen.

Es ist, als wäre es gestern gewesen, dass wir uns in einem Biergarten zu Einsiedeln getroffen haben – zum Plaudern und natürlich zu einem Bierchen. Sommerzeit 2019. Da war Corona ein Fremdwort, bekannt nur als Biermarke. Er erzählte von seinem Projekt Paracelsus, dem Mann aus Egg, Kanton Schwyz, bürgerlich Theophrastus Bombast von Hohenheim. Der Schwyzer hatte als Arzt, Naturphilosoph und Sozialethiker im 16. Jahrhundert gewirkt. Mit seinem Namen verbindet man heute ganzheitliche Medizin. Das interessierte «Kari», wie er von Freunden genannt wurde, brennend. Ein Forscher und Philosoph – das war nach dem Gusto von Dokumentarfilmer Karl Saurer, einem Sohn des Klosterdorfs Einsiedeln, der zu Beginn seiner Karriere auch Spielfilme realisiert hat.

Der Mensch, seine Umwelt, seine Zeit, die wirtschaftliche wie menschliche Situation haben ihn ein Lebens lang interessiert, haben ihn getrieben. Dafür hat er sich eingesetzt, in Wort und Bild. Sein letzter Film «Ahimsa – die Stärke von Gewaltfreiheit» unterstreicht sein Anliegen und seine Leidenschaft für Menschen, für Entrechtete nochmals deutlich. Es geht um Würde und Stimme indischer Landfrauen. Sein Film wurde vor allem für die Landlosenbewegung nicht nur in Indien, sondern auch in Afrika und Lateinamerika zum bedeutenden Dokument.

Ich erinnere mich noch gut an seinen Dokumentarfilm über den Sihlsee und seine Menschen. «Der Traum vom grossen blauen Wasser» (1993) war ein Heimat-Poem aus «Fragmenten und Fundstücken einer Hochtal-Geschichte» (so der Untertitel). «Sein jüngstes Dokument», schrieb ich dazumal unter dem Titel «Der Heimatboden kommt ins Wasser» in einer Luzerner Tageszeitung, «handelt vom einfachen entbehrungsreichen Leben im Hochtal zwischen Drusberg und Etzel, von der Bewahrung persönlicher Erfahrungen, Erinnerungen und Fast-Vergessenem und von der Erkundung eines Traums vom Stausee, den wenige hatten und viele verwirklicht haben. Sie fliessen zusammen in einem Strom vergangener und gegenwärtiger Zeiten.»

Vom Sihlsee reiste Karl Saurer nach Amerika, nach «Steinauer Nebraska» (1997), begleitet von Co-Writerin und Lebensgefährtin Elena M. Fischli. Er tauchte in die Vergangenheit und fand Gegenwärtiges. Saurer hatte die Spuren Schwyzer Auswanderer aufgenommen, die im 19. und 20. Jahrhundert ihre Heimat wegen Armut, Perspektivlosigkeit, aber auch infolge des Sihlsee-Stausees (1937) verlassen hatten. «Diese seine Geschichten um Gewinn und Verlust verdichten sich zum komplexen Umweltpoem», beschrieb ich seinerzeit seinen speziellen Heimatfilm. «Lyrische, indianische Texte aus dem Off oder Briefpassagen werden mit Aussagen alteingesessener oder junger Landbesitzer und Historiker verknüpft zu einem mosaikartigen Zeitdokument.»

Zu einem besonderen Anliegen wurde Saurer das Schicksal von Asylbewerbern. In «Kebab & Rosoli» gibt er Flüchtlingen aus dem Kosovo, Angola, Zaire, Tamilen und Kurden eine Stimme. Er beschreibt 1992, wie sich Heimische und Geflüchtete arrangierten, miteinander zurechtkommen, sich nähern und Vertrauen fassen.

Das Schicksal eines besonderen Asylanten schildert der Innerschweizer in «Rajas Reise» (2007). Der indische Elefant Raja wurde um 1550 aus den Wäldern Keralas über Lissabon nach Wien geschickt – als Geschenk für den österreichischen Kaiser. Diesen historischen Trip nutzt Saurer für Betrachtungen über Kolonialismus, Entfremdung und Heimatlosigkeit. «Die schwerfälligen, aber sanftmütigen Dickhäuter», schrieb der Verfasser damals, «werden zu Zeitzeugen und zum Symbol der Entwurzelung und Fremdbestimmung. Der Reiseleiter heisst P.V. Rajagopal, ein sozialpolitisch engagierter Inder und aktiver Nachfolger Gandhis.»

Rajas und Karls Reise sind zu Ende. Saurer, 2018 als Kulturpreisträger des Kantons Schwyz gefeiert, dankte in seinem «Abspann» speziell seiner Muse und Lebenspartnerin: «Elena Fischli hat mich seit unserer Begegnung vor 30 Jahren mit ihrer analytischen und sprachlichen Begabung bei der Recherchen- und Drehbucharbeit enorm unterstützt, in schwierigen Phasen hat sie neue Impulse gegeben, mich motiviert und inspiriert. A propos Motivation: Einer ihrer kurzen trockenen Hinweise: 'Inspiration gibt es schon, aber sie findet dich nur, wenn du an der Arbeit bist!'»

Karl, du warst und bist Inspirationsquelle – über den Abschied hinaus! Dein sanftes Wesen, dein herzliches Teilnehmen, dein schelmisches Schmunzeln werden wir vermissen und versuchen, es dir gleichzutun. Deine Filme sind dein Vermächtnis. Aber auch deine Flankenläufe auf linker Stürmerposition bei den legendären Fussballspielen im Rahmen des Filmfestivals Locarno bleiben mir persönlich in ganz besonderer Erinnerung. Dazumal markierte ich den Ausputzer und Hannes Schmidhauser stand im Goal. Nun ruht der Ball und vieles mehr. Ciao Kari!



Karl Saurer
Geboren am 16. Juli 1943 in Einsiedeln, gestorben am 12. März 2020.
Ab 1969 publizistische Tätigkeit in der Schweiz und in Deutschland.
Seit 1970 Drehbuchautor und Regisseur von 20 Dokumentar- und Spielfilmen.
1979 Master of Arts der Medienwissenschaft, Literaturwissenschaft und Psychologie.

1980–84 Studienleitung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) und Dozent für Dramaturgie in Berlin.
1985–2011 Lehraufträge an der FU Berlin, GHK Kassel, Uni Zürich, Universität Fribourg, HSfG Zürich, Filmschule Zelig Bozen.
1985–2014 Dokumentarfilm-Seminare in Ostafrika und in den USAS für das Goethe Institut, Dokumentarfilm-Ausbildungsworkshops in Indien.
2008–2012 Verfassung der Konzeptskizze «Filmische Dokumentation von traditionellem Handwerk» und fachliche Betreuung der ersten drei Beiträge der Filmreihe «Die Letzten ihres Handwerks für SchwyzerKulturPlus».

1993 Anerkennungspreis Innerschweizer Radio- und Fernsehgesellschaft (IRF)
2018 Kulturpreis des Kantons Schwyz


Filmografie    
2012 «Ahimsa – Die Stärke von Gewaltfreiheit», Dokumentarfilm
2007 «Rajas Reise», Dokumentarfilm mit E. M. Fischli als Co-Autorin
1997 «Steinauer Nebraska. Geschichten um Gewinn und Verlust», Dokumentarfilm  
1993 «Der Traum vom grossen blauen Wasser. Fragmente und Fundstücke einer Hochtal-Geschichte», Dokumentarfilm
1992 «Kebab & Rosoli. Ein Film mit Heimischen und Geflüchteten», Dokumentarfilm mit Elena M. Fischli
1991 «Heimweg; Eine rechte Schweiz; Gastland» u.a., 7 Videobriefe mit Geflüchteten
1991 «Holz schlaeike mid Ross», Dokumentarfilm mit Franz Kälin
1982 «Das Unbehagen an der Vergangenheit. Schweizer Filme von gestern und heute», Dokumentation mit H. Meier
1981/82 «Der Hunger, der Koch und das Paradies», Spielfilm, Co-Autor mit Erwin Keusch
1976 «Das Brot des Bäckers», Spielfilm, Co-Autor mit Erwin Keusch
1975 «Tatort Luzern oder Wem gehören unsere Städte?», TV-Dokumentation mit G. Camenzind und C. Niederberger
1975 «Kaiseraugst», Dokumentarfilm mit der Filmcoopi Zürich
1973 «Es drängen sich keine Massnahmen auf oder Selbstzensur ist besser», Doku-Fiction mit Erwin Keusch und H. Meier
1971/72 «Ruhe», Dokumentarfilm mit G. Camenzind und H. Meier
1970 «Das kleine Welttheater», Dokumentarfilm mit Erwin Keusch   


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Veröffentlicht April 2020