Locarno74: Eine prallgefüllte Piazza Grande – schön wär's! Corona reisst immer noch Lücken. (Bild: Massimo Pedrazzini)


Der Rückblick aufs 74. Filmfestival Locarno 2021

Wiederbelebt mit Action und Awards

Ein Neustart nach einer Zwangspause ist nie leicht. Das grösste der kleinen Filmfestivals in Europa feierte seine Wiedergeburt – nach einer amputierten Ausgabe 2020. Zwischen 4. und 14. August besuchten 78 600 Zuschauer und Zuschauerinnen das Festival. Wir blicken zurück von A wie Animation bis Z wie Zuschauer.

A wie Animation. Gleich zwei Trickfilme wurden für die Piazza Grande programmiert: der japanische Trickfilm «Belle: Ryū to sobakasu no hime» (2000 Besucher) und der italienische «Yaya e Lennie – The Walking Liberty» (2100 Besucher). Beide mit mässigem Zuspruch.

B wie Bund und Bundesrat. Bundesrat Alain Berset eröffnete das 74. Filmfestival Locarno und unterstrich die Bedeutung der regionalen Verwurzelung und das internationale Renommee des Kulturereignisses am Lago Maggiore. Bern hatte bereits vorher beschlossen, die finanzielle Unterstützung diverser Filmfestivals in der Schweiz zu verstärken. So fliessen in den nächsten vier Jahren je Ausgabe 1,73 Millionen Franken nach Locarno (Erhöhung um 220 000 Franken).

C wie Cinema Is Back. Dieser Spruch wie auch «Come Together» war an allen möglichen Ecken und Strassen in Locarno zu lesen. Das mag für die elf Festivaltage zutreffen, dürfte aber kaum nachhaltig sein. Locarno lebte mit dem Festival auf, wenn auch gemässigt, aber danach…

D wie Direttore Artistico/Direktor. Nach dem überraschenden Rücktritt der Direktorin Lili Hinstin hat Giona A. Nazzaro die künstlerische Festivalleitung übernommen. Der 1965 in Zürich geborene Filmspezialist, der seit Jahren auch in Locarno tätig war, plädierte für ein publikumsorientiertes Programm und erntete Kritik, vor allem weil er mit dem Netflix-Werk «Beckett» das Festival eröffnete. Der Mann im Knitter-Look steht auf Action und Genrefilmen. «Ich bin keiner dieser Cinephilen, die sich nur Werke von Autorenfilmern anschauen», erklärte er in einem Interview. Das klingt nach Pop- und Popcorn-Anbiederung. Der grosse Wurf war sein Programm (noch) nicht. Man darf auf 2022 gespannt sein.

E wie Edwin. Gewinner des Goldenen Leoparden 2021 ist Edwin aus Indonesien. Sein Thriller «Vengeance Is Mine. All Others Pay Cash» schildert «eine tragische Geschichte über die Unmöglichkeit der Liebe, aber gleichzeitig eine Demontage der Machokultur», schrieb der «Tages-Anzeiger». Mal sehen, ob und wann er im Kino zu sehen ist.

F wie Frauen. Frauen prägten das 74. Filmfestival wesentlich mit als Hauptfiguren oder Regisseurinnen, kamen aber nicht speziell in die Ränge. Ausnahme: «L'été l'éternité» von der Französin Émilie Aussel, belohnt mit dem Spezialpreis der Jury (Wettbewerb Cineasti del Presente). Ein intimes Comingout-Drama um eine Achtzehnjährige, die mit ihrer Clique Ferien am Meer macht und ihren Freund verliert. Ebenso sehenswert sind die Filme «Gerda» der Russin Natalya Kydryashova oder «Medea», wobei die rachsüchtige antike Gestalt nun in der Moderne erscheint, vom Russen Alexander Zewldovich – beide im Wettbewerb. Bemerkenswert auch Sabrina Sarabis «Niemand ist bei den Kälbern» sowie Schweizer Filme wie Mari Alessandrinis «Zahori», Svetlana Rodinas und Laurent Stoops «Ostrov – Lost Island» oder Salomé Jashis «Taming the Garden».

G wie Gedränge. Der Andrang an Kassen und Toren hielt sich im Rahmen. Von Gedränge keine Spur, selbst bei der vierfachen Kontrolle (Impfzertifikat, Ausweis, Ticket, Taschenkontrolle) für den grössten Kinosaal Fevi gab es keine aussergewöhnlichen Wartezeiten. Ein Kränzchen den freundlichen und speditiven Kontrolleuren und Kontrolleurinnen. Bemerkenswert, die Touristen- und Besucherströme waren eher dünn – Corona sei Dank oder Fluch?

H wie Hosoda. Die Reihe der Auszeichnungen in Locarno ist länger geworden. Kindern wurde ein eigener Programmteil mit sieben Filmen eingerichtet, empfehlenswert etwa Sarah Winkenstettes Jugendfilm «Zu weit weg». In diesem Rahmen wurde neu der Kids Awards verliehen. Er ging an den japanischen Altmeister des Animationsfilms, Mamoru Hosoda. Sein Film «Belle» feierte am 9. August auf der Piazza Grande Premiere.

I wie Island. Hier und da sorgte bekanntlich die isländische Fussballnationalmannschaft für Furore, aber auch im Kino setzen isländische Filme wie «Von Pferden und Menschen» oder «Woman at War» Duftmarken. In Locarno wurde der coole Actionfilm «Cop Secret» aufgeführt, nicht von irgendwem, sondern vom Goalie der isländischen Nationalmannschaft: Hannes Thor Halldorsson inszeniert, der bei der EM 2016 schon dabei war und mithalf, England rauszukicken. Dieser Isländer hat nicht nur Messi Paroli geboten, sondern auch eine aberwitzigen Actionkomödie kreiert: «Leynilögga – Cop Secret», zu sehen im Wettbewerb. Ein Vergnügen.

J wie Jubiläum. Die 75. Ausgabe des Festivals soll vom 3. bis 13. August 2022 stattfinden. Es wird gemunkelt, dass dann vielleicht auch Präsident Marco Solari zurücktreten wird, der seit dem Jahr 2000 die Geschicke, sprich Finanzen und mehr, des Festivals managt.

K wie Katalog. Mehrere 100 Seiten schwer ist der Festivalkatalog, leider nur auf Italienisch und Englisch. Ein unhandliches Kompendium, in dem zwar alle Filme sowie das Programm aufgelistet sind, sonst aber wenig Hilfe bietet. Die spärlichen Texte zu den Filmen bieten selten inhaltliche Orientierung und die Kommentare der Filmer helfen wenig weiter.

L wie Leoparden. Die Awards des Festivals werden immer umfangreicher. Hier die wichtigsten Preise im Internationaler Wettbewerb Goldener Leopard für «Vengeance Is Mine, All Others Pay Cash» von Edwin, Indonesien, Jury-Spezialpreis für «A New Old Play» von Qiu Jiongjiong, Hongkong, Leopard für die beste Regie Abel Ferrara und «Zero and Ones», Leopard für die beste Schauspielerin Anastasiya Krasovskaya in «Gerda», Leopard für die besten Schauspieler Mohamed Mellali und Valero Escolar in «The Odd-Job Men», Spezialerwähnungen für Lorenz Merz und «Soul of a Beat» sowie Chema Gracía Ibarra und «Espíritu Sagrado». Wettbewerb Cineasti del Presente: Goldener Leopard für Francesco Montagnes «Brotherhood», Spezialpreis der Jury für Emilie Aussels «L'été l'éternité», beste Schauspielerin Saskia Rosendahl in «Niemand bei den Kälbern», bester Schauspieler Gia Agumava in «Wet Sand».

M wie Marco Solari. Seit 2000 managt der Tessiner (77) aus Bern (dort 1944 geboren) als operativer Leiter das Filmfestival Locarno. Er wollte die 74. Ausgabe unbedingt wieder publikumstauglich machen und die Piazza Grande aufmachen – Corona zum Trotz. Das hat er geschafft. Er ist der Patron, fast schon Schutzheiliger im Schatten der Madonna del Sasso.

N wie Netflix. Netflix und andere Streamingdienste sind aus der Filmwelt nicht mehr wegzudenken – sowohl auf der Produktions- wie auch Konsumationsseite. Dem trug der künstlerische Leiter Giona A. Nazzaro Rechnung. Warum er aber mit einem Netflix-Verschwörungsthriller wie «Beckett», der viel Lärm, aber wenig ausmachte, sein Festival eröffnete, bleibt sein Geheimnis.

O wie Ostrov. Diese Insel im Kaspischen Meer ging irgendwie verloren im «Putin-Reich». Fischer kämpfen ums Überleben – mit illegalem Fischfang, weil der russische Staat ihnen keine Genehmigungen erteilt hat. Einst lebten auf Ostrov 3000 Menschen, heute noch 50 – ohne Gas, Strom, legale Arbeitsplätze. Die Russin Svetlana Rodina und der Schweizer Laurent Stoop haben die Insel heimgesucht und erkundet, beschreiben Menschen und ihren Alltag – und finden im Nachhinein gar beim Staat Gehör: «Ostrov – Die verlorene Insel».

P wie Piazza. Der schönste und grösste Kinoschauplatz in der Schweiz und in Europa, die Piazza Grande, wurde aus dem Corona-Dornröschenschlaf geweckt. Es war «gedeckt», doch die Gäste (Besucher) hielten sich zurück. Die 8000 Plätze wiesen grosse Lücken auf. Lag's am Angebot von Action bis Trickfilm oder an der Pandemie-Vorsicht der Leute? Der Spielfilm «Rose» über eine 78jährige, die ihr Leben neu entdeckt, lockte 3900 Zuschauer. Das stilistisch hochinteressante Nachkriegsdrama «Hinterland» brachte es auf 2700 Besucher. Die Schweizer Premiere von «Monte Verità» fiel wortwörtlich ins Wasser. Stefan Jägers Historienbildnis konnte nur in den Kinosälen Fevi und Sala gezeigt werden (3250). Nur das packende Porträt «Respect» über die Soul- und Gospelsängerin Aretha Franklin dürfte über 4000 Zuschauer angezogen haben.

Q wie Qatar. Der umstrittene Wüstenstaat mit WM-Ambitionen war tatsächlich mit sechs Filmen als Koproduzent in Locarno vertreten. Erwähnenswert ist etwa der arabische Thriller «The Alleys» (Pizza Grande) oder «Al Naher» (Wettbewerb), ein libanesisches Liebesdrama.

R wie Reservierung. Tickets zu reservieren war das A und O in Locarno. Mal gab es freie Plätze (Piazza, Fevi), mal nummerierte, jeweils mit Zertifikat, mal mit Maske (in den Sälen), mal ohne (Piazza). Viel Aufwand.

S wie Spinotti. Eine Handvoll Filmschaffender wie John Landis (Ehrenleopard), Phil Tippet (Vision Award Ticinomoda), Gale Anne Hard (Premio Raimondo Rezzonico) oder Laetitia Casta (Award Davide Campari) wurde am Festival geehrt. Einer überstrahlte jedoch alle: Dante Spinotti. Der italienische Kameramann arbeitet häufiger mit Michael Mann zusammen («Heat», «Insider»). Bei seinem jüngsten Werk «Where Are You» arbeitete die halbe Spinotti-Familie mit – Riccardo (Buch und Regie) und Marcella (Produktion). Dante führte die Kamera in diesem erotischen Fashiondrama.

T wie Terminator. Der junge Arnold Schwarzenegger erlebte eine Piazza-Auferstehung – dank Gale Anne Hurd (Rezzonico-Award), die den legendären Cyborg-Thriller «Terminator» 1984 produziert hatte.

U wie unglaublich. Ein Mann, ein Baum über 100 Jahre alt und eine Entwurzelung: Unglaubliches hat sich am Schwarzen Meer (Georgien) zugetragen. Wie weiland der exzentrische Opernfanatiker «Fitzcarraldo» (im Film von Werner Herzog) lässt ein millionenschwerer Baumliebhaber (der ehemalige Premierminister Georgiens) einen tonnenschweren Baum über Land und Wasser zu seinem Park transportieren. «Taming the Garden – Grosser Baum auf Reisen» heisst der Film von Regisseurin Salomé Jashi, die diesen bizarren und denkwürdigen Prozess kommentarlos dokumentierte. Nie wurde der Begriff Entwurzelung «hautnaher» beschrieben. Nach Sundance und Berlin nun die Entdeckung in Locarno.

V wie Verità. Pech für Regisseur Stefan Jäger und sein Filmteam. Die Piazza-Premiere des historischen Panoramas «Monte Verità» wurde von Petrus regelrecht versenkt – in Regengüssen. Manchmal kann die Wahrheit bitter schmecken, auch weil das Kritikerecho auf die Hommage an den legendären Berg mit seinen Freigeistern und «Spinnern» Anfang des 20. Jahrhunderts eher verhalten und ablehnend war. Mehr in unserer Filmkritik.

W wie Wiederbelebung. «Die Wiederbelebung des Festivals ist uns gelungen, trotz monatelanger Schliessung und Melancholie ist es herauszukommen», bilanziert Präsident Marco Solari. Direktor Giona A. Nazzaro doppelt nach: «Die Reaktion der Menschen auf der Piazza, in den Kinosälen und auf den Strassen von Locarno ist für uns ein sehr bewegendes Zeichen der Wiedergeburt und sicherlich die treibende Kraft für die nächsten Schritte unseres Teams.»

Y wie Yugoslavia. Tatsächlich tauchen im Locarno-Katalog drei Filme im Register unter Yugoslavia/Jugoslawien auf. Natürlich Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Gemeint ist «Fräulein Doktor» (1969), «La steppa» (1962) und «La tempesta» (1958), allesamt Koproduktionen, die unter dem italienischen Regisseur Alberto Lattuada (1914–2005) entstanden sind. Dem grossen Vertreter des Autorenkinos war die Retrospektive in Locarno gewidmet.

Z wie Zuschauer. Unter einschränkenden Bedingungen in Corona-Zeiten (eben reduzierte Platzverhältnisse in den Kinosälen) zeigt man sich in Locarno zufrieden: 78 600 Zuschauer und Zuschauerinnen besuchten die diversen Vorführungen am Filmfestival, auf der Piazza Grande zählte man 29 700 Besucher, in den Kinosälen 48 900 (rund 50 Prozent weniger als 2019). Die Piazza Grande, das Prunkstück des Festivals, hat deutlich an Zuspruch verloren. Nur vier Filme erreichten über 3000 Besucher. Erfolg verbuchte das Festival im Online-Angebot mit 290 000 Besuchern aus 186 Ländern.


Zurück


Veröffentlicht August 2021