Konzert im Kino: Wenzel, ein Ur-Barde aus Wittenberg, lässt sich nicht verbiegen.
Rechts: Preisverleihung: Verena Altenberger brilliert in der Filmpoesie «Sterne unter der Stadt». (Bilder: rbr)


32. Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern (2. Mai bis 7. Mai 2023)

Fest für Filmer und Filme

Weit oben im Norden Deutschlands, gut 50 km südöstlich von Lübeck, liegt Schwerin, die Hauptstadt des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Zum 32. Mal versammelten sich Filmschaffende, Cineasten und Kinofreunde zum Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern (2. bis 7. Mai). 13 Preise wurden verteilt, einen davon gewann der Schweizer Film «Réduit» von Leon Schwitter (Preis der Fipresci).
 
Mecklenburg-Vorpommern, leger auf Meck-Pomm verkürzt, ist ein junges Bundesland, erst nach der Wende 1990 etabliert. Die Landeshauptstadt Schwerin wird nicht als Grossstadt eingestuft – mit «nur» 96'000 Einwohnern. Wer denkt da schon an Filme und Filmfeste? Und doch haben Enthusiasten ein Filmfest ins Leben gerufen, das sich sehen lassen kann. Just im Mai (2. bis 7. Mai) ging das 32. Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern (MV) in Schwerin über die Kinoleinwände. Das bedeutete: rund 120 Filme in sechs Tagen, aufgeteilt in vier Wettbewerben plus der Sektionen «Gedreht in MV», «NDR-spezial», der DEFA-Reihe, dem französischen Schulfilmfestival «Cinéfête» sowie dem Gastland Norwegen.

Der filmbegeisterte Schweriner Oberbürgermeister Rico Badenschier («eine Landeshauptstadt mit einer Kulturszene von Format») und die Ministerpräsidentin Manuela Schwesig begrüssten Filmschaffende und alle cinephilen Gäste. Die Landesherrin unterstrich, dass das Filmkunstfest MV nicht nur ein kultureller Höhepunkt, sondern auch ein grosser Wirtschaftsfaktor für Schwerin und Umgebung sei.
 
Die Filme sprachen für sich und lockten das Publikum in grosser Zahl in die Kinosäle des Capitol. 15'000 Besucher in diesem Jahr gegenüber 9500 im letzten. Dazu passt ein Zitat von Altmeister Goethe: «Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.» Und so geschah es.
 
Der «Fliegende Ochse», der Hauptpreis, mit 10‘000 Euro dotiert, flog nach Österreich – dank Chris Raibers poetische U-Bahn-Underground-Romanze «Sterne unter der Stadt. Ein Lichtblick in verschiedener Hinsicht. Erzählt wird die tragische Liebesgeschichte von Alex, einem Graffiti-Künstler, der in einem Fundbüro arbeitet, und Caro, der Hutverkäuferin. Poesie und Tragik verbinden sich, heben ab und bleiben haften. Verena Altenberger als Caro erhielt den Preis für die beste darstellerische Leistung (3500 Euro).

«Alaska» findet in Mecklenburg-Vorpommern statt. Kerstin paddelt mit ihrem DDR-Kajak über verschiedene Seen in Mecklenburg, quasi stellvertretend für ihren verstorbenen Vater, der einst Alaska mit dem Boot erkunden wollte. Der Film «Alaska» des Rostocker Max Gleschinski, bereits in Saarbrücken als bester Film ausgezeichnet, beschreibt naturnah den Streit um eine Erbschaft, eine Liebschaft und die Reise einer Frau zu sich selbst. Die Produktion wurde von der neu aufgestellten Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern mit 330‘000 Euro unterstützt. Regisseur Gleschinki erhielt dazu in Schwerin den NDR-Regiepreis (5000 Euro).

Eine weitere österreichische Produktion fand Anklang: «Breaking the Ice» von Clara Stern. Die junge Mira liebt das Eishockeyspiel, muss sich aber auch um den Opa, ihren abdriftenden Bruder und das elterliche Weingut kümmern. Dazu kommen Rivalitäten auf dem Eis und eine neue Liebe. Zu viel. Mira droht sich aufzureiben. Ein starker Kinofilm.
 
Regisseur Leon Schwitter taucht mit seinem Film «Réduit» in die Urner Bergwelt und schildert, wie sich menschliche Abhängigkeiten verändern. Der Rückzugsort für Vater und Sohn wird zur Falle. Die Jury der Filmkritikerwoche (Fipresci) überzeugten die konzentrierte Bildsprache und die Konzentration auf wesentliche Handlungselemente. «Die Naturgewalten übernehmen den Soundtrack, so dass es nicht mehr vieler Worte bedarf.» Schwitters «Réduit» ist ein sprödes winterliches Kammerspiel, in dem Abhängigkeiten wechseln und der Sohn seine Freiheit gewinnt. Der Film hat bereits einen Schweizer Verleih gefunden (Sister Distribution), und so steht einem Kinostart nichts im Wege.

Das Kinopublikum stimmte für German Krals «Adiós Buenos Aires». Der Publikumspreis ist mit 2500 Euro dotiert. Buenos Aires im Jahr 2001. Es herrscht wirtschaftliches Chaos, Juli, ein leidenschaftlicher Bandoneonspieler, will weg – nach Deutschland, in die Heimat seiner Mutter. Aber Musik und seine Gefährten bremsen seine Pläne. Der sehr authentische Spielfilm fasziniert durch seine Musikalität und Darsteller, die für den Tango brennen.

Im Dokumentarfilmwettbewerb vertrat Laura Kaehrs «Becoming Giulia» die Schweiz. Der sehr intime Blick in Alltag und Arbeit einer Mutter und Primaballerina am Zürcher Opernhaus ist zurzeit in unseren Kinos zu sehen. Beim Wettbewerb in Schwerin stach vor allem die Teamarbeit für «Vergiss Meyn nicht» heraus. Dabei ging es um die Filmaktionen des Dokumentaristen Steffen Meyn im Hambacher Forst, der bei den Dreharbeiten 2018 verstarb.
 
Einige der schönsten und beeindruckendsten Filme lieferte Norwegen, beispielsweise mit «Everybody Hates Johan» (2022), einem markigen Porträt über einen Sonderling, der Explosionen liebte und deswegen geächtet wurde. Sehenswert auch «Munch» (2023), ein Biopic über den berühmten Maler Edvard Munch. Der Dreistünder «War Sailor» (2022) schildert, norwegische Seeleute auf hoher See ungewollt in den Zweiten Weltkrieg gerieten und Schaden nahmen. Das Epos erstreckt sich über 30 Jahre und erweist sich als einer der packendsten Antikriegs- und Liebesfilme der jüngsten Kinogeschichte. Es ist zu hoffen, dass diese Werke auch den Weg in unsere Kinos finden.
 
Mit dem 32. Filmkunstfest hat Mecklenburg-Vorpommern eindrücklich ein kulturell-cineastisches Zeichen gesetzt. Das unterstrichen Ministerpräsidentin Manuel Schwesig und Oberbürgermeister Rico Badenschier mit ihren engagierten Statements für Kultur. Und diese Worte bei Eröffnung und Schlussgala werden mit Taten unterstrichen. Stadt Schwerin und das Land Mecklenburg-Vorpommern fördern das Filmschaffen im Lande nach Kräften. Es gibt Preise für eine Filmresidence in MV für Regisseur Jannes Alexander Kiefer und ein Ehrenstipendium für Autor und Filmer Lutz Pehnert. Eine ganze Sektion war den Produktionen gewidmet, die in MV realisiert wurde. Der Bogen spannt sich von Dominik Grafs Dokumentation «Jeder schreibt für sich allein» über Schriftsteller im inneren Exil während der Nazi-Zeit bis zu Christian Petzolds Spielfilm «Roter Himmel». Dessen Film beschreibt hintergründig und dramatisch, wie junge Menschen ihren Weg, Lebenssinn und Liebe suchen. Die Funken, die sich (privat) entzünden, verdichten sich real zu einem Feuer, das nicht nur den Wald verschlingt. «Roter Himmel» läuft in unseren Kinos.

Ein musikalische Marke setzte der Sänger, Poet und schalkhafte Kritiker Hans-Eckardt Wenzel aus Wittenberg. Er gab nicht nur ein zündendes Konzert mit seiner Band im Kino Capitol, ihm ist auch der Dokumentarfilm «Wenzel – Glaubt nie, was ich singe» von Lew Hohmann gewidmet.

Höhepunkt des Filmfestes in Schwerin war die Preisverleihung mit anschliessender Aufführung des Stummfilmklassikers von Charlie Chaplin «The Kid» (1923), musikalisch begleitet von der Mecklenburgischen Staatskapelle im Staatstheater Schwerin. Schöner kann man ein Filmfest nicht ausklingen lassen.



Ochse oder Stier

Da streiten sich die Geister: Ochse oder Stier. Wir sind dem Wappentier Mecklenburg-Vorpommerns und den Hauptpreisen auf die Spur gekommen – dank Oberbürgermeister Rico Badenschier und seinen Experten. Ochsenköpp oder Büffelköpp wurden die Mecklenburger einst von den Hamburgern genannt, das besagte Wappentier, Auerochse oder Stier, soll Kraft und Stärke symbolisieren, steht aber auch für Dickschädel. Mecklenburgische Fürsten trugen ein solches Siegel bereits im 13. Jahrhundert. Bei der Gründung des Filmkunstfestes 1990 musste also der Ochsenköpp herhalten. Seither gibt es die Auszeichnungen Fliegender Ochse und Goldener Ochse. Denn Löwen, Leoparden oder Bären waren ja bekanntlich an Filmfestivals bereits vergeben.


Weitere Informationen: filmkunstfest.de


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Veröffentlicht Mai 2023