Regisseur Thomas Stuber und «Shooting Star» Franz Rogowski. (Bilder: Gerhard Kassner, Berlinale)

 

Geschichten unerfüllter Liebe

Viermal war das Grossmarkt-Kammerspiel «In den Gängen» für den Deutschen Filmpreis nominiert worden, einmal wurde es ausgezeichnet – bester Hauptdarsteller, Franz Rogowski. Wir sprachen mit Regisseur Thomas Stuber und Schauspieler Franz Rogowski anlässlich einer Vorpremiere in Zürich.

Der Spielfilm «In den Gängen» von Thomas Stuber basiert auf der Erzählung von Clemens Meyer, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat. Die Stories «Die Nacht, die Lichter» erschienen 2008 (S. Fischer Verlag). Schauplatz sind Lagerhallen und Gänge eines Grossmarkts. «Bevor ich Warenverräumer wurde und meine Abende und Nächte in den Gängen des Grossmarkts verbrachte, Regale einräumte, Warenpaletten mit dem Gabelstapler von hoch oben aus den Lagerregalen holte, ab und an einen der letzten Abendkunden beriet und alle möglichen Arten von Lebensmitteln kennenlernte, hatte ich paar Jahre auf dem Bau gearbeitet», beginnt Christian seine Geschichte vom Leben «In den Gängen». «Frischling» Christian (Franz Rogowski) lernt das Handwerk mit gütiger Unterstützung von Kollege Bruno (Peter Kurth). Er begegnet der verheirateten Marion (Sandra Hüller, Deutscher Filmpreis), die in der Süsswarenabteilung arbeitet – und verliebt sich. Man kommt sich näher, in «Sibirien», der Tiefkühlabteilung. Doch dann wird Marion krank, und Bruno bleibt weg. Thomas Stuber (37) aus Leipzig hat diese Erzählung inszeniert: Ein spröder, und lakonischer Liebesfilm mit viel Herz und Hintersinn, in Berlin 2018 mit dem Preis der Ökumenischen Jury und dem Gilde Filmpreis ausgezeichnet.
Der Film startete im November 2017 in deutschen Kinos (war aber bei uns noch nicht zu sehen).


Thomas Stuber: Filmer für leise Geschichten

Stuber (Sternzeichen: Widder) hatte bereits bei den früheren Verfilmungen «Von Hunden und Pferden» (2012, Silberner Studenten-Oscar) und «Herbert» (2015) mit Clemens Meyer (Preis der Leipziger Buchmesse, 2008) zusammengearbeitet. Thomas Stuber studierte an der Filmakademie in Baden-Württemberg, wo ja auch der Schweizer Stefan Jäger (Produzent bei «Blue My Mind») lehrte, Regisseur Stuber wohl bekannt.


Wie haben Sie sich gefunden?
Thomas Stuber: Die erste Arbeit mit ihm war meine Abschlussarbeit «Von Hunden und Pferden». Da hat er auch eine kleine Rolle gespielt. Clemens ist ein grosser Pferdeliebhaber, ein Fan des Galopp-Rennsports. So haben wir uns kennengelernt.

Taucht denn Clemens Meyer auch «In den Gängen» auf – und als was?
Er hat einen kleinen Cameo-Auftritt und spielt den Mann der Marion, der Arbeiterin in der Süsswarenabteilung.

In Ihrer «Regievison» zum Film schreiben Sie, dass diese Kurzgeschichte Sie sofort gepackt hat. Ihr Wunsch war es, diesen Stoff unbedingt zu verfilmen. Wie entwickelte sich die Arbeit mit dem Autor Meyer, wer hatte die Federführung?
Die Zusammenarbeit ist über Jahre bei den Projekten gewachsen. Ich habe mal gehört, dass es bei Coen-Brüdern ähnlich ist. Es gab keine Federführung. Die Arbeit hat wahnsinnig viel mit Reden zu tun. Es ist nicht so, dass jeder etwas schreibt, das dann zusammengefügt wird. Das funktioniert am Tisch wie wir hier jetzt. Man redet über den Stoff, nimmt ihn auseinander. Clemens kommt vom literarischen Standpunkt und ich vom handwerklichen, drehtechnischen Standpunkt her.

Man findet tatsächlich Meyers Kurzgeschichte im Film punktuell genau wieder.
Ich wollte bei der Verfilmung nicht viel verändern. Ich fand ja die Atmosphäre der Geschichte genial. Die Schwierigkeit war dann, wie man das Literarische ins Filmische transportiert – das Karge, die Auslassungen etwa. Das ist ein zentrales Merkmal der Prosa Clemens Meyers, die Auslassungen, die Andeutungen, die Ellipsen, die grossen Sprünge. Und der Zuschauer sollte bei meinem Film diese Lücken und Auslassungen selber füllen. Zum Beispiel die mutmasslichen Misshandlungen der Marion. Ein Gerücht wird transportiert, ob das wirklich stimmt, lösen wir nicht auf.

In der Kurzgeschichte erzählt Christian selber. Sie arbeiten mit einer Voice-over-Stimme, gehen quasi auf Distanz.
Wir wollten eine beobachtende Position einnehmen, wollten nicht eingreifen, sondern das Ganze schweben und die Figuren sich in diesem Grossmarktraum, in diesen Gängen bewegen lassen.

Der Schauplatz ist ein prägendes Element, ein Grossmarkt als Lebens- und Begegnungsraum. Er spiegelt Innen- wir Aussenwelt dieser Menschen wieder.
Er ist eine kleine Stadt. Die ganze Welt spielt sich für diese Menschen im Grossmarkt ab. Sie schaffen sich diesen geschützten Raum, auch weil sie glauben, dass sie draussen nicht mehr dazugehören. Hier ist Geborgenheit, draussen ist Einsamkeit und Kälte. Die Gänge im Grossmarkt sind wie Strassen mit Verkehr, es gibt Schluchten, Viertel mit Getränken oder Süsswaren, es gibt Liebe und Gerüchte und Betrügereien.

Im Nachspann taucht der Name Hamberger, Grossmarkt für Gastronomie und Handel, auf. Es gibt fünf davon in Deutschland. Wo haben Sie gedreht?
In Bitterfeld und Wittenberg. Die beiden Grossmärkte haben wir mit einem anderen Schauplatz zu einem zusammengefügt.

Ganz leise wird bei Bruno, dem gutmütigen Kumpel Christians, die vergangene DDR angesprochen. Bruno trauert seiner Arbeit als Fernfahrer nach, ihm ist etwas verloren gegangen. Das haben Sie hinzugefügt…
Eine Drehbuchidee neben dem Besuch Christians bei Marion. Man soll etwas von der Einsamkeit Brunos begreifen.

Der «Frischling», der zum Gabelstapler wird, und die Süsswaren-Prinzessin – wann kamen die beiden Schauspieler ins Spiel?
Die Figur der Marion haben Clemens und ich für Sandra Hüller geschrieben, das war uns beim Schreiben klar. Beim Christian, dem Schweigsamer, war es schwieriger. Franz Rogowski war mir zwar ein Begriff, aber erst beim Casting, im Spiel mit Sandra Hüller, waren wir überzeugt.

«In den Gängen» ist eine verhaltene stille Liebesgeschichte. Typisch ist dabei die Eskimo-Kussszene in «Sibirien». Am Ende erleben die beiden das Meeresrauschen beim Gabelstapeln. Wie haben Sie es selber empfunden: Fantasy, Träumerei?
Das ist Phantasie, die Realität gibt das nicht wieder. Auch wenn wir versuchen, eine grosse Wahrhaftigkeit zu erzielen, und doch: Das ist alles ausgedacht – ein Spielfilm. Das Meeresrauschen ist Symbol für Sehnsucht, für Freiheit und Sich-an-einen-anderen-Ort-Wünschen.

Ihr Film hat viel Poesie, erzählt von Liebe (ohne Sex), Freundschaft im Stillen, Kollegialität und Solidarität.
Absolut. Es ist ein Film, den Menschen sehr zugewandt, ein humanistischer Film.

Ein Hauch von Tragik schwebt gleichwohl darüber. Man sieht sie nicht direkt, spürt sie aber. Schwingt da auch ein wenig DDR-Bewältigung mit?
Ich bin 1981 in Leipzig geboren und war sieben, als die Mauer fiel. Ich mache keine DDR- oder Wendefilme. Das ist nicht mein Thema. Was mich aber interessiert, ist die Post-Wende, also die Zeit nach der Wende – die Orte, Landschaften und Menschen. Ich habe keinen politischen Film gemacht, glaube aber, dass jede Kunst politisch ist. Ich gebe mit diesem Film einen Kommentar über die Menschen dort ab, gebe ihnen eine Stimme. Ja, diese Menschen fühlen sich abgehängt und nicht mehr zugehörig.


Franz Rogowski: «Experte für unerfüllte Liebe»

Er ist ein stiller Vertreter der Schauspielergilde. Seine Lippe ist gespalten, er lispelt ein wenig, spricht aber nicht mit «gespaltener Zunge», wie der Indianer bemerken würde. «Mein Markenzeichen», kommentiert er emotionslos bei unserm Interview. Franz Rogowski, Schauspieler aus Freiburg i.Br. ist offen, direkt, schnörkellos. Er hat seine ersten «mimischen» Schritte in Dimitris Teatro im Tessin gemacht und sich als Strassenclown während des Filmfestivals Locarno versucht – vor etwa zwölf Jahren. Der 32-jährige Freiburger (Sternzeichen Fisch) erlebt derzeit einen Höhepunkt als Schauspieler. In Berlin wurde er bei den Filmfestspielen als deutscher «Shooting Star» gefeiert, neben neun anderen Kollegen und Kolleginnen aus Europa, so auch der Schweizerin Luna Wedler («Blue My Mind»). Er war gleich in zwei Wettbewerbsfilmen präsent: «Transit» und «In den Gängen». Für letzteren ist er als bester Hauptdarsteller mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet worden.

Christian Petzold hat Anna Seghers' Roman «Transit» (1940) verfilmt und ins heutige Marseille transferiert. Menschen auf der Flucht, die Deutsche Besatzer rücken näher. Georg (Franz Rogowski) nimmt die Identität eines Schriftstellers an, der sich das Leben genommen hat, und trifft auf Marie (Paula Beer), die auf ihren Mann, den Schriftsteller, wartet, um nach Mexiko zu fliehen. Georg verliebt sich. Ein intimer Film über verlorene Existenzen und Flucht, Hoffnungen und Verzicht.


Nach der Berlinale, wo Sie als «Shooting Star» vorgestellt wurden nun der Deutsche Filmpreis. Was machen Sie jetzt?
Franz Rogowski: Wir hatten eine Theaterpremiere an den Kammerspielen in München: «No Sex» von Toshiki Okada. In den nächsten zwei Monaten bin ich hauptsächlich in Italien zu Dreharbeiten in einer deutsch-italienischen Produktion. Mehr kann ich darüber noch nicht sagen.

Aktuell sind Sie in den beiden Kinofilmen «In den Gängen» und «Transit» zu sehen, beide beruhen auf Literaturvorlagen. Wie sind Sie an die Rolle als Gabelstapler Christian herangegangen?
Ich habe einen Staplerschein gemacht. Der Gabelstapler hat mich im ganzen Film «In den Gängen» begleitet, er wurde quasi mein bester Freund.

Ihre Figur, dieser Christian, ist ein stiller Einzelgänger im Mikrokosmos einer Grossverteiler-Gemeinschaft, ein Kumpel mit ungestillter Sehnsucht. Wieviel steckt von Ihnen in dieser Figur?
Man kommt nicht drum rum: Man steckt immer ein Stück weit mit drin und sucht nach einer Verbindung mit dieser Figur. Ich versuche zu verstehen, was diesen Christian antreibt.

Die Geschichte, die Regisseur Thomas Studer erzählt, lässt vieles offen, schafft bewusst Lücken.
Lücken haben etwas Mangelhaftes. Ich finde eher, Thomas kreiert Zwischenräume und zeigt vieles im Unausgesprochenen. Das hat mir gut gefallen.

Im anderen Film «Transit» spielen Sie Georg, einen stillen Zeitgenossen. Schauplatz ist Marseille. Georg, ein getriebener Mann auf der Flucht. Was unterscheidet die beiden Helden?
Beide, Christian wie Georg, haben Gemeinsamkeiten und sind doch sehr unterschiedlich. Christian versucht über den Beruf eine soziale Stellung und einen Platz im Leben zu erkämpfen. Georg ist aus der Zeit gefallen. Er hat die Heimat verloren, vermisst sie aber nicht. Erst die Liebe führt zu Entwicklungsschritten und zum Bedürfnis nach Verantwortung. Georg begreift das Lieben ein Stück weit. Er spürt, dass er die Identität der Frau auf der Suche, die er liebt, zerstört, wenn er sie aufklärt, an sich bindet und egoistisch handelt. Er lernt, jemanden gehen zu lassen – aus Liebe. Das ist die grösste Entwicklung, die er in «Transit» durchmacht. Georg wie Christian verbindet die Liebe, eine unerfüllte Liebe.

Und Sie?
Vielleicht bin ich ein Experte für unerfüllte Liebe – im Film. Privat kann ich das nicht bestätigen.

Wer von den beiden Figuren ist Ihnen näher?
Das kann ich so nicht sagen. Ich wollte auch nicht den Flüchtling spielen – als Phänomen. Es gefällt mir, dass Georg den Krieg aus einer passiven Opferhaltung erleidet. Der Krieg widerfährt ihm. Aber er bleibt ein Stück davon unbeeindruckt. Christian, der Gabelstaplerfahrer, fühlt sehr viel, kann es aber nicht verbalisieren. Das gefiel mir auch bei den anderen Figuren «In den Gängen», weil sie sich sehr spröde, fast nur funktional mitteilen. Grosse Gefühle von Freundschaft, Gemeinsamkeit, Einsamkeit, Liebe kommen nur trocken und gefiltert herüber.

Sowohl Thomas Stubers «In den Gängen» als auch Christan Petzolds «Transit» sind bemerkenswerte deutsche Filme. Wie schätzen Sie diese Filme ein?
Beide sind auf ihre Art Liebesfilme, eine Liebe, die gewissermassen unerfüllt bleibt. Beide bleiben am Ende offen. Die Liebe bleibt möglich.

In welcher Richtung möchten Sie sich als Schauspieler entwickeln?
Mein Wunsch wäre, bei anderen schönen Projekten mitzuarbeiten.

Haben Sie Ihr leichtes Lispeln je als Behinderung empfunden?
Eigentlich nicht. Ein kleines Manko ist, dass ich nicht so eine laute Stimme auf grosser Bühne habe.

Sie sind ausgebildeter Tänzen. Schwebt da etwas nach, würden Sie gern solch eine Rolle übernehmen?
Nein. Die Menschen, die ich spiele, bewegen sich ja permanent. Blicke, Gänge – das sind ja alles physische Vorgänge, die etwas über die Figuren erzählen.

Machen Sie irgendwelches Training?
Ich gehe klettern – mit Hand und Fuss, also Bouldern, das heisst freies Klettern ohne Seil.


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Veröffentlicht Mai 2018