Strahlender Winter an Aare und volle Beizen in Solothurn «Mutterland» statt Vaterland, Dokfilm von Miriam Pucitta. Frauenclinch in «Rivière» mit Flavie Delangle und Sarah Bramms. (Bilder: Solothurner Filmtage, rbr)


59. Solothurner Filmtage (17. bis 24. Januar 2024)

Existenzielle Grenzen ausloten

Solothurn rief, und viele Filmfreunde kamen. Rund 63'000 Eintritte wurden registriert (im Vorjahr 60'000). Über 170 Filme wurden in zehn Kinos aufgeführt, davon 23 Weltpremieren und 13 Schweizer Premieren. Der Dokumentarfilm war traditionell stark vertreten, der Spielfilm fiel ab. Was gefiel, was fiel auf und worauf kann man sich im Kino freuen …?

Der Konzertsaal ist wieder zum Konzertsaal, die Reithalle zur Eventhalle geworden (beispielsweise für ein Oktoberfest) in Solothurn und das Landhaus, 1722 erbaut, fällt mehr oder weniger in den Winterschlaf. Die Ströme von Cineasten und Filmemachern sind versiegt. Nach den Filmtagen ist wieder Ruhe ins Aare-Städtchen eingekehrt – bis zur Fasnacht ...

Ins Auge fielen zahlreiche gelungene bis ausserordentliche Produktionen aus der Westschweiz. «Bisons» wurde sechsmal für den Schweizer Filmpreis «Quartz» nominiert (bester Spielfilm, beste Darsteller, Filmmusik, Kamera, Montage), kam aber in Solothurn nicht in die Preisränge. Dabei handelt es sich um den wohl besten Schweizer Spielfilm seit Langem, nominiert war er für den Prix du Public, aber eben .... Pierre Monnard schildert in seinem Drama, wie zwei Brüder um den elterlichen Bauernhof im Welschland kämpfen. Steve ist Schwinger und hat Ambitionen, lässt sich aber von seinem zwielichtigen Bruder Joel zu illegalen Faustkämpfen in Frankreich verleiten. Mit Preisgeldern wollen beide den verschuldeten Hof retten – nach der Devise «alles oder nichts». Wobei natürlich vor allem Steve Kopf und Kragen riskiert. Monnard («Platzspitzbaby», «Wilder») lieferte eine aufwühlende Tragödie, in der Maxime Valvini, von Hause aus Ringer, und Karim Barras Topleistungen als Brüderpaar liefern, das sich hasst und liebt. Ein elementarer Kampf um Sein oder Nichtsein. «Bisons» startet am 15. Februar in den Kinos.

Eine zweite Produktion überzeugte voll und ganz. Claudine ist die Heldin in «Laissez-moi» vom Genfer Maxime Rappaz. Sie zieht ihren behinderten Sohn Baptiste, ein grosser Verehrer von Lady Diana, allein gross und versucht ihre Einsamkeit jeweils dienstags zu betäuben. Dann reist die elegante Modeschneiderin zur Staumauer Grande Dixence im Wallis. Dort trifft sie in einem Berghotel durchreisende Männer und vergnügt sich mit den Zufallsbekanntschaften für ein paar Stunden. Anders ist es mit dem Deutschen Michael (Thomas Sarbacher), denn der verliebt sich in die attraktive, selbstbewusste Frau um die 50. Claudine pendelt zwischen Verantwortung, Sehnsucht und Befriedigung, phänomenal und ausdrucksstark gespielt von der Pariserin Jeanne Balibar. Ein beeindruckender Film über Emanzipation und Selbstbestimmung. Kinostart am 14. März.

Die alleinerziehende Pauline versucht alles unter einen Hut zu bringen, ihre Kinder und ihre Karriere als Landschaftsgärtnerin. «Pauline grandeur nature» von Nadège de Benoit-Luthy schildert, wie eine Frau an ihre Grenze stösst. Sie will unbedingt einen Park am See allein gestalten. Doch das Zentrum ihres Projekts wird hinfällig: Der alte Zederbaum erkrankt und muss gefällt werden. Paulines schöner Plan ist für die Katz. Erst jetzt ist sie bereit, die Hilfe ihrer Kollegen anzunehmen. Die schweizerische-belgische Koproduktion besticht durch Alltagsrealismus. «Pauline lebensgross» ist eine sympathische «grüne» Romanze über eine Frau, dargestellt von Déborah François. Pauline erkämpft ihren Platz in einer Männerwelt, findet sich und Erfüllung.

Der Name «Rivière» steht für einen Eishockeyspieler. Die 17-jährige Manon Rivière (Flavie Delangle) bricht von Graubünden nach Frankreich auf, um ihren Vater zu finden, der abgehauen ist. Sie landet in Belfort. Das Eis lockt den Teenager, der sich erste Sporen beim Hockey-Eliteteam in Chur verdient hatte. Manons Talent wird schnell vom Trainer in Belfort erkannt. Ihre Leidenschaft für den Puck treibt sie an. Sie freundet sich mit der labilen Eiskunstläuferin Karine an. Doch die aufkeimende Liebe wird beschädigt, zudem liebäugelt Manon mit einer Eishockeykarriere in Montreal. Sebastian Seidlers herbe Coming-out-Romanze besticht durch knallharte Eisszenen, Einfühlungsvermögen und Nähe. Kinostart Ende Februar.

Das Spielfilmangebot aus der Deutschschweiz war trotz «Rivière» eher mager, sieht man mal von Filmen ab, die bereits im Kino angelaufen sind – wie der Publikumsrenner «Bon Schuur Ticino», der Partyclinch «Die Nachbarn von oben», die packende Literaturverfilmung «Jakobs Ross», die flaue Netflix-Produktion «Easy Bird» oder das bemühende Liebesdrama «Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste».

Der brandneue Spielfilm «8 Tage im August» von Samuel Perriard aus Männedorf erwies sich als flauer Ferienclinch. Zwei Familien verbringen ihre Ferien in Süditalien (Apulien). Der schöne Schein trügt, die vorgegaukelte Harmonie bekommt Risse. Fazit: Gute Schauspieler (Julia Jentsch, Sarah Hostettler, Florian Lukas, Sami Loris), schwache Story.

Doch halt, ein Film verdient besondere Erwähnung, und zwar eine Produktion, die ohne die üblichen Finanzhilfen entstanden ist: Bathbayor Chogsom. Seit 2000 in der Schweiz ansässig ist mit kleiner Crew in sein Heimatland aufgebrochen. In der Mongolei hat er einen bemerkenswerten Liebes-Krimi realisiert: «White Flag». Zwei Nomadinnen, um die zwanzig Jahre jung, leben allein in der Steppe, mit Pferden und Schafen. Ein lesbisches Liebespaar – ungeheuerlich für die mongolische Gesellschaft. Ihre raue Idylle wird infrage gestellt, als der Ermittler Zorig auftaucht. Er fahndet nach einem verschwundenen Mann. Saran und Naran kommen in Bedrängnis. Am Ende reitet Naran nackt, nur mit einem Gewehr «bekleidet», ins Provinzstädtchen. «Ich habe nichts zu verbergen», behauptet sie. Beeindruckend. Das ist eine Geschichte, sind Bilder, die sich einprägen.

Wie immer ist die Schweizer Werkschau bestens mit Dokumentarfilmen bestückt. Hier seien nur ein paar herausragende Arbeiten genannt.

Adrian Winkler (Buch/Regie) und Laurin Merz (Idee/Produktion) blenden zurück ins Jahr 1970. Dazumal entführten Palästinenser der Befreiungsorganisation PLO eine DC-8 der Swissair. Gleichzeitig wurden zwei weitere Maschinen gezwungen, in der jordanischen Wüste zu landen. Der Film «Swissair Flug 100» dokumentiert nicht nur das «Geiseldrama in der Wüste» und schildert die politischen Hintergründe, sondern bietet auch Überlebenden, zwei Stewardessen beispielsweise, Gelegenheit, das Geschehen aus ihrer Sicht zu schildern – 50 Jahre danach. Breit angelegt, quasi vom Tatort in Jordanien bis zum Bundeshaus, hat diese spannende Dokumentation ungewollt ungeahnte Aktualität bekommen. Am Tag vor dem Hamas-Überfall und der Geiselnahme im Oktober sei der Film fertig geworden, berichten die beiden Filmer an den Solothurner Filmtagen. Wir kommen auf diese akribische Aufarbeitung des Terroraktes von 1970 zurück.

Das kennt man von ihm, dem unermüdlichen Produzenten und Filmfahnder: Werner «Swiss» Schweizer hat sich auf Spurensuche begeben. Der Fall Flükiger beschäftigte ihn seit Jahren. Zuerst wollte er einen Spielfilm drehen. Dann kam die Pandemie, und fehlende finanzielle Unterstützung taten ihr Übriges. Jetzt feierte sein Dokfilm «Operation Silence – die Affäre Flükiger» in Solothurn Premiere. Zur Erinnerung: Im September 1977 ist der Berner Offiziersanwärter Rudolf Flükiger (21) nach einem nächtlichen Orientierungslauf verschwunden. Wochen später wurde sein Leichnam in der Nähe der französischen Grenze gefunden, zerfetzt von einer Handgranate. Dazumal kämpften Jurassier (Group Bélier) um einen eigenen Kanton, die RAF wütete in Deutschland und hatte den Industriellen Hanns-Martin Schleyer entführt (und getötet). Um den Tod Flükigers wurden allerlei Verdächtigungen und Mutmassungen konstruiert – vom Selbstmord bis Tötung durch radikale Jurassier oder gar durch RAF-Mitglieder oder Schmuggler. Es wurde ermittelt, verschleiert, ad acta gelegt. Der Fall ist ungeklärt geblieben. Dokumentarfilmer Schweizer beschreibt die ganze Spannbreite dieser «Affäre», inklusive bundesrätlicher Ungereimtheiten und zwei weiterer Tote. Eine der Grundlagen bilden die Aussagen der Schwestern Flükigers, die selber nicht vor die Kamera treten wollten und durch die Schauspielerin Sonja Riesen «ersetzt» wurden. Eine Dokumentation mit Sprengkraft, ausgezeichnet durch Engagement und Akkuratesse. Kinostart im Februar.

Im Gegensatz zum geläufigen Vaterland hat Miriam Pucitta ihren Dokumentarfilm mit «Mutterland» überschrieben. Sie selbst, Kind italienischer Eltern, ist in der Schweiz geboren und ist sogenannten «versteckten Kindern» nachgegangen, Kindern also von Gastarbeiterinnen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, die nur illegal in der Schweiz leben konnten. Ein vergessenes oder totgeschwiegenes Kapitel der Schweizer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Pucittas gemeinsame Spurensuche mit ihrer Tochter Giulia bewegt. Leider hat ihr Film bisher noch keinen Schweizer Verleiher gefunden.

Zu einer amüsanten und beherzten Reise zu Schweizer Dialekten lädt «Omegäng» von Aldo Gugolz an. Einer der wenigen Fälle in Solothurn, wo man auch mal herzhaft lachen kann – mit Franz Hohler, Pedro Lanz und urigen Originalen. Kinostart 18. April.

Ein Film, der nicht nur wegen der Anlage und der Länge zu reden gibt, ist Peter Mettlers «While the Green Grass Grows» (zurzeit im Kino). Seine filmischen Eintragungen drehen sich um Lebenssinn und Vergehen, um eigene Reflexionen und die seiner Eltern. Seine meditativen Tagespartikel kreisen um existenzielle Fragen, wunderbar bebildert mit stehenden oder fliessenden Wassern, mit Bäumen und Landschaften. Heilsame Impressionen sozusagen, persönlich, poetisch, philosophisch. Nach den Teilen 1 und 6 sind weitere Filmpartikel geplant.

In unserer Nachbetrachtung darf eine Dokumentararbeit nicht fehlen, die den Prix de Soleur (60'000 Franken) gewann: «Die Anhörung» von Lisa Gerig. Dabei geht es um das Anhörungsverfahren in der Schweiz, das nicht öffentlich ist. Insofern wurden die Gespräche von vier echten Asylbewerbern und Beamten des Staatssekretariats für Migration nachgestellt. Es sei ein «dramatisches Kammerspiel, in dem sich in fragmentarischen Aussagen und unausgesprochenen erschütternden Schicksalen entfalten», lobt die Jury. Wir kommen ausführlich auf «Die Anhörung» zurück.


Preise in Solothurn

Prix de Soleur (60'000 Franken für Regie und Produktion an «Die Anhörung» von Lisa Gerig.
Prix du Public (20'000 Franken) an «Echte Schweizer» Luka Popadić.
Bester Kurzfilm (10'000 Franken): «2270» von Basil Da Cunha.
Bester Animationsfilm: «Crevette» von Elina Huber, Noémi Knobli, Jill Vágner und Sven Bachmann.
Schauspielerpreise Prix Swissperform, dotiert mit je 10'000 Franken, an Dominique Devenport («Davos 1917»), Arcadi Radeff («Hartes Pflaster/Délits mineurs»), Stéphane Erös («Hartes Pflaster»), Carol Schuler («Tatort»).
Prix d’Honneur: Anna van Brée, Kostümdesignerin.


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Veröffentlicht Januar 2024