Ulrich Tukur, Hesse und Weltbürger, Schauspieler, Musiker und Gentleman: «Man schafft ein Universum aus sich selbst», sagt der Schriftsteller Tukur. (Bild: rbr)


Ulrich Tukur, Schauspieler, Sänger, Schriftsteller

Der Gegenspieler

Ein Charmeur im Gespräch und Künstler mit vielen Facetten: Ulrich Tukur ist auf vielen Bühnen zuhause – in Theatern und Konzertsälen, vor Kameras und am Schreibtisch. Der Schauspieler, Sprecher (Hörspiele), Sänger und Löwe (im Sternzeichen) schreibt auch Bücher, zuletzt den Roman «Der Ursprung der Welt». Der gebürtige Hesse (Viernheim) wurde als Ulrich Gerhard Scheurlen 1957 geboren und ist einer der bekanntesten und beachtesten Schauspieler Deutschlands. Er mimt den «Tatort»-Kommissar, Generalfeldmarschall Rommel oder einen Stasi-Offizier im Kino. - ebenso selbstverständlich, behände und eigenwillig wie einen perfiden CEO im Schweizer Managerdrama «Jagdzeit».

Wir trafen Ulrich Tukur zu einem anregenden Gespräch an den Solothurner Filmtagen, wo Sabine Boss' Spielfilm «Jagdzeit» Premiere feierte. Er spielte den gnadenlos auf Erfolg und Gewinn geeichten CEO Hans-Werner Brockmann, an dem sein Gegenspieler, der Finanzchef Maier (Stefan Kurt) zerbrach. Tukur verdankt seinen Künstlernamen einer Begebenheit aus früher Familiengeschichte, wo es um den französischen Ausdruck «tout court – ganz einfach» ging, und Regisseur Michael Verhoeven, der den Namen Scheurlen partout nicht akzeptieren wollte.

Als Schauspieler sind Sie bekannt – vom Kino, vom Fernsehen und tanzen auf mehreren Hochzeiten. Welche Bühne ist Ihnen am liebsten, auf welcher spielen Sie am liebsten?
Ulrich Tukur: Es fing mit der Musik an und hört wohl auch mit der Musik auf. Ich bin ja kein begnadeter Pianist, spiel ganz ordentlich und singe gerne. Über die Musik bin ich zum Theater gekommen.

Im September treten Sie mit den Rhythmus Boys im Berliner Schiller Theater auf. Fühlen Sie sich als moderner Troubadour – nicht mit Laute, aber mit Band?
Ja, Troubadour ist ein sehr schöner Beruf: ein fahrender Sänger mit Akkordeon. Ich hab es gern, dass man nicht an einem Ort bleibt, sondern sich dem Leben ausliefert. Ich mag es, dass man nicht festgezurrt ist in den grossen Schlachtschiffen, den Staatstheatern, und verkommt. Von Herzen bin ich Musiker. Musik ist für mich die Königin der Künste, weil sie die Herzen der Menschen trifft.

Und das Theaterspielen?
Ich mag es, wenn die Dinge live passieren, wenn sie nicht abgesichert sind. Beim Film ist das anders: Wenn der Film durch die Postproduktion gelaufen ist, scheint alles festgezurrt. Dann kann nichts mehr passieren. Aber das ist nicht mehr spannend. Spannend ist es, wenn du an einem Abend untergehen kannst. Du kannst aber auch eine mittelmässige Inszenierung durch inspiriertes Spiel herausreissen und als Bühnenschauspieler ungewöhnlich machen.

Und das Schreiben?
Das ist eine neue Erfahrung. Du schaffst ein Universum aus dir selbst: Du bist der Schauspieler, der Drehbuchautor, der Kameramann – du bist alles. Aber das macht auch einsam.

Welche Rolle spielt Ihre Frau beim Schreiben dabei?
Sie ist Sparringpartnerin, ich brauche sie sehr, denn sonst wüsste ich gar nicht, ob ich mich nicht in ein Nirwana hineinschreiben oder gegen die Wand schreiben würde.

Wie war die Reaktion auf Ihr Buch «Der Ursprung der Welt»?
Wunderbar. Elke Heidenreich ist einer der grössten Fans dieses Buches. Andere fanden es dann nicht so … Aber das dauert. Ich will damit sagen, dass du die Publikumsreaktionen auf der Bühne sofort spürst, beim Konzert auch. Beim Film dauert es etwas länger. Aber beim Buch wartest du wochenlang, bis eine Reaktion kommt.

Bei Lesungen ist doch eine Reaktion da.
Ja das schon, aber bei Buchveröffentlichungen hört man lange Zeit nichts. Dann gibt es irgendwann eine tolle Kritik, eine Reaktion. Das kommt aber mit einer zeitlichen Verzögerung, die man nicht gewohnt ist.

Das Schreiben hat doch auch immer mit Ihnen selbst zu tun. Verarbeiten, bewältigen Sie damit auch etwas?
Das ist sehr psychologisch. Ich habe mit diesem Buch zum ersten Mal über meine Kindheit nachgedacht. Ich bin eingestiegen in das Haus meiner Grosseltern, das ich beschreibe, dann kam mir die Erinnerung an meinen Vater und seine Lebensverklemmtheiten. Da kam vieles hoch, was ich alles in mir hatte, woran ich aber Jahrzehnte nicht gedacht hatte.

Was waren die Auslöser für Ihren Roman, der die Recherche und die Begegnung eines jungen Deutschen in Frankreich mit der Vergangenheit beschreibt?
Ausgangspunkt war ein altes Photoalbum. Dann fiel mir einfach dieser Onkel ein, der sich Paul Goullet nannte, und dazu mein Patenonkel Paul Göz, der Richter in Stuttgart war und Gedichte geschrieben hatte. An den kann ich mich sehr lebhaft erinnern, obwohl er bereits 1964 verstorben war. So kam Gedanke zu Gedanke. Mein Grossvater war Kunstmaler. Der Vater meines Vaters hatte meinen Vater 1925 produziert und hatte sich nach Zentralsardinien abgesetzt. Einmal Anfang der Sechzigerjahre kam er zurück und hat mich unheimlich beeindruckt. All das habe ich in das Buch eingearbeitet, wo ich die fiktive Geschichte des jungen Mannes erzähle, der Züge von mir hat. Und so ist es passiert. Es war spannend, auch weil ich nicht wusste, wohin die Reise gehen würde. Ich hatte nur das Schlussbild im Kopf. Die Figuren führen ein Eigenleben, wenn sie stimmig sind.

Wie sind Sie beim Spielfilm «Jagdzeit» ins Spiel gekommen? Haben Sie überhaupt etwas mit Jagen zu tun?
Ich habe mit Jagen überhaupt nichts am Hut. Ich hasse Jagen. Ich lebte teilweise in einem alten Bauernhof in den nördlichen Apenninen zwischen Bologna und Florenz, und die Italiener jagen von Februar bis Oktober und schiessen alles. Sie schiessen sich auch gegenseitig ab. Sabine Boss kam auf mich zu und hat mich gefragt, ob ich den CEO spielen wolle. Klar. Ich kannte ihren Film «Der Goalie bin ig». Ein toller Film.

Haben Sie schon einmal mit Stefan Kurt gearbeitet?
Ich kenne ihn, er war ja auch in Hamburg am Thalia Theater, hatte aber mit ihm vorher nicht zusammengearbeitet. Ich habe ihn mehrmals gesehen und finde ihn einen wunderbaren Komiker und tollen Schauspieler, abgesehen davon ist er ein guter bescheidener Mensch. Es war ein grosses Vergnügen mit ihm.

Kennen Sie die Hintergründe, die den Spielfilm inspiriert haben?
Ja, ich kenne die Geschichte von Josef Ackermann, habe ihn auch kennengelernt. Ackermann ist so ein janusköpfiger Mensch, war wahnsinnig sympathisch, sehr nett, als ich mich mit ihm lange unterhalten habe. Auf der anderen Seite hat er kein Problem, in seinem Geschäft Menschen über die Klinge springen zu lassen.

Sie verkörpern in diesem Film den rigorosen CEO, eigentlich Firmenzersetzer. Wie kommen Sie als Schauspieler mit solchen negativen Figuren klar?
Man lernt den Text und spielt die Figur. Es gab eine Szene, wo sich der CEO Brockmann ein Whisky einschenkt und seine Hand zittert, nachdem er vom Selbstmord erfahren hat. Man sieht, dass er «angefressen» und nicht kalt ist. Er ist ein Alphamännchen, das auch Angst hat. Interessant ist immer, wenn man auch die andere Seite von so einem Menschen zeigt. Du musst auch ein Gegenstück haben. Es gibt nichts Langweiligeres als einen bösen Nazi.

«Jagdzeit» ist Ihr zweiter Schweizer Film. Vor zehn Jahren haben Sie beim «Grossen Kater» von Wolfgang Panzer mitgewirkt. Auch dazumal spielten Sie einen Widersacher und Rivalen, waren Gegenspieler von Bruno Ganz, der den Bundespräsidenten, «Kater» genannt, verkörperte.
Genau. Da wird auch der eine vom anderen abhängig, und dann beginnt die Jagd. Die Schweizer wollen wohl immer, dass ich den Antigonisten gebe, auch in meinem zweiten Schweizer Film.

Haben Sie wesentliche Unterschiede zwischen deutschen und Schweizer Produktionen erlebt?
Grosse Unterschiede bestehen nicht. In der Schweiz geht es gelassener zu. Die grosse Hetze ist es nicht. Ich fand's sehr angenehm.

Sie sind von Italien wieder nach Berlin gezogen. Hat Ihnen die Grossstadt gefehlt?
Meine Frau, Katharina John, ist Fotografin und die wünschte zurückzugehen. Sie hat es jahrelang mit mir in Italien ausgehalten und konnte dort nicht arbeiten. Wir waren zwanzig Jahre in Italien. Dieser Lebenskreis hatte sich geschlossen. Es war eine wunderbare Erfahrung, aber dass mich der «Tod in Venedig» dort nicht ereilen würde, wusste ich von Anfang an.

Sie leben seit Anfang des Jahres also wieder in Berlin. Wo denn?
In Berlin-Schöneberg.

Sie werden mit Ihren Rhythmus Boys im Schillertheater auftreten, wo die Komödie am Kurfürstendamm quasi Unterschlupf gefunden hat. Die Nachfrage ist so rege, dass nach dem 7. September ein zweites Konzert am 8. September angesetzt wurde: «Liebe, Jazz und Übermut – 125 Jahre Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys» ist das Programm überschrieben. Was darf man erwarten?
Der Titel steht sinnbildlich für eine lange erfolgreiche Wegstrecke. Zu hören und zu geniessen sind neue, auch bekannte Titel aus 125 Jahre Musikgeschichte – von Jazz und Swing bis zum niveauvollen Schlager.

Wenn ich richtig gezählt habe, haben Sie seit 2010 achtmal den eigenwilligen LKA-Ermittler Felix Murot aus Wiesbaden gespielt. Geht es weiter?
Ja sicher. Der nächste «Tatort» mit mir kommt 2020 bestimmt.




Der «Tatort»
Der «Tatort» feiert 2020 sein 50-Jahr-Jubiläum. Gemäss Informationen vom Hessischen Rundfunk (HR) wird Ulrich Tukur wohl im Oktober wieder im Einsatz sein, und zwar in einer Doppelrolle. «Die Ferien des Monsieur Murot» soll die skurrile Folge heissen.

Der Roman
Das jüngste Buch von Ulrich Tukur: «Der Ursprung der Welt», S. Fischer Verlag 2019, 22 Euro. Der junge Deutsche Paul Goullet stösst in Paris auf ein altes Photoalbum. Er beginnt zu recherchieren, reist nach Südfrankreich, wo er mit einem Doppelgänger und einer schrecklichen Vergangenheit konfrontiert wird. Es geht um Träume und reale Eindrücke. «Angesichts der rapiden Zerstörung unserer poetischen Spielgründe, die in den geheimnisvollen Wäldern, den lichtverlorenen Ebenen und schattigen Tälern liegen, scheint mir die Beschwörung des Traums essentieller denn je», schreibt Ulrich Tukur im Vorwort seines Romans.


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Veröffentlicht Februar 2020