Das Schicksal des Teenagers Anne Frank bewegt die Welt seit 1947. Ihr Tagebuch wurde in 80 Sprachen übersetzt. (Bild: rbr)

Bedroht

Das Schweizerische Landesmuseum in Zürich ist alleweil einen Besuch wert – auch im Sommer. Denn neben der breiten Darstellung und Dokumentation Schweizer Geschichte sind immer wieder Sonderausstellungen einen Kulturbesuch wert, aktuell «Im Wald» (nur noch bis 17. Juli) und «Anne Frank und die Schweiz» (bis 6. November).

Der Mensch ist grösster Nutzniesser des Waldes, gleichzeitig ist er die grösste Bedrohung, heisst es. Das zeigt ein Blick in die Natur- und Kulturgeschichte des Waldes, anschaulich dokumentiert im Landesmuseum. Er ist Lebensraum und Fluchtort, Klima- und Wirtschaftsfaktor, gesucht und gefährdet, ausgebeutet und romantisiert. «Er ist ein Ort zwischen Wildnis und Zivilisation, zwischen Unberührtheit und Forstwirtschaft, schreibt Denise Tonella, Direktorin des Landesmuseums, im Vorwort zum spannenden und fundierten Buch «Im Wald». Und der bedarf des Schutzes. Das wusste schon Paul Sarasin und warnte 1907: «Der weisse Mensch ist das Verderben der Schöpfung, er ist der Verwüster des Paradieses der Erde.» Sarasin setzte sich mit aller Energie für die Idee eines Schweizerischen Nationalparks ein, der dann tatsächlich am 1. August 1914 eröffnet wurde. Ein Drittel der Schweiz besteht heute aus Wald, das sind 557 Millionen Bäume, im Durchschnitt 120 Jahre alt.

Der Wald bietet Szenerie für Märchen und Sagen, wurde beschworen und besungen, heimgesucht, abgeholzt, abgelichtet und abgemalt. Die Ausstellung «Im Wald» schlüsselt in sechs Kapiteln die Bedeutung des Waldes gestern, heute und morgen auf – vom Abholzen und Aufforsten, Schaffung eines Nationalparks bis zur weltweiten Gefährdung im Amazonas-Gebiet oder Malaysia. Umwelt- und Naturschützer Bruno Manser ist ebenso präsent wie die Amazonas-Forscher Anita Guidi und Armin Caspar.

Der Wald war und ist Thema für Romantiker und Maler, Denker und Dichter und Künstler aller Art. Joseph Beuys Eichen-Pflanzaktion 1972 anlässlich der Documenta in Kassel ist dabei ebenso gegenwärtig wie die magische Umhüllung von 178 Bäumen («Magic of Trees», 1998) in Riehen, die Christo und Jeanne-Claude inszeniert hatten. Zwölf Filmausschnitte illustrieren die Kulturgeschichte, u.a. aus einem Chaplin-Film (1918) und dem Bruno Manser-Film (2019). Leider fehlt der Innerschweizer Dokumentarfilm «Holz schlaike mid Ross» (1991) von Karl Saurer und Franz Kälin.

Wer den Wald – ausgestellt – verpasst hat, kann sich in der Publikation «Im Wald. Eine Kulturgeschichte» vertiefen. Eine nachhaltige Reise in diesen Natur- und Kulturraum. Literatur und Künstler, Naturschützer und Experten beschreiben und verdichten, erklären das Phänomen Wald. Ein Plädoyer für einen existentiellen Teil unseres Lebens.
 
«Im Wald», Ausstellung im Landesmuseum Zürich bis 17. Juli.  
Buch zur Ausstellung 120 Seiten, 35 Franken.

 


Der Übergang fällt schwer – von Natur- und Kulturgeschichte zu einem Einzelschicksal, das freilich Millionen bis heute bewegt und für andere Flüchtlingstragödien stehen kann. Das Mädchen Anne Frank wurde berühmt durch ihre Tagebücher – nach ihrem Tod 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie wurde zum Symbol für Opfer, für Verfolgte infolge Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und Diktaturen. Am 12. Juni 1929 in Frankfurt a.M. geboren, flüchtet ihre Familie 1934 nach Amsterdam. Mit der Besetzung Hollands 1940 durch die deutsche Wehrmacht begann auch dort die Judenverfolgung. Im Juli 1942 versteckte sich die Familie Frank im Hinterhaus ihres Geschäfts. Es drohte eine Deportation in ein Arbeitslager. Nach über zwei Jahren flog ihr Verseck auf – durch Verrat.

Alle Familienmitglieder kamen in KZ’s um – mit Ausnahme von Annes Vater Otto. Freunde der Familie hatten Annes Tagebuch entdeckt und nach dem Krieg Otto Frank ausgehändigt. Der publizierte die Aufzeichnungen seiner Tochter Anne 1947: «Het Achterhuis» (Das Hinterhaus). 1950 folgte die erste deutsche Übersetzung: «Tagebuch der Anne Frank»
Ein jüdischer Teenager schreibt Geschichte. Das Schreiben wurde Anne zum Elixier. Sie begannt an ihrem 13. Geburtstag, 12. Juni 1942, mit den Eintragungen. Die letzte datiert vom 1. August 1944. «O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.» Ihr Tagebuch hat’s möglich gemacht. Es wurde in 80 Sprachen übersetzt.

Das und mehr dokumentiert die Ausstellung im Landesmuseum, auch die unrühmliche Rolle, welche die Schweiz in Sachen Judenverfolgung gespielt hat – angefangen vom Judenstern, einer schweizerischen Erfindung – bis zu Abweisungen an der Grenze («Das Boot ist voll»). 25'000 Flüchtlingen wurden abgewiesen, 22'000 hielten sich während der Nazizeit illegal in der Schweiz auf, auch dank der Zivilcourage wie dem St. Galler Paul Grüninger, dem der Spielfilm «Akte Grüninger» (2014) von Alain Gsponer mit Stefan Kurt gewidmet ist.
Die Botschaft der Anne Frank für Toleranz und Menschlichkeit ist so aktuell wie eh und je. Auch deswegen hat diese kulturhistorische und gesellschaftspolitische Ausstellung einen wichtigen, nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Eigentlich ein Pflichtbesuch für alle Schulklassen, ab 12 Jahren.

«Anne Frank». Broschüre von Mirjam Pressler, 2015
Schweizerisches Jugendschriftenwerk, 10 Franken.


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Veröffentlicht Juli 2022