Engagement mit Risiko: Die irakische Schauspielerin Zahraa Ghandour (im Hintergrund die Piazza Grande von Locarno) ist Frauenrechtlerin und spielt eine Frau, die Irak und ihren Mann verlassen hat. (Bild: rbr)


Samirs neustes Filmwerk «Baghdad in My Shadow»

Flucht- und Treffpunkt London

Sie treffen sich im Cafe Abu Nawas, so benannt nach einem arabischen Dichter aus dem 8. Jahrhundert. Der war Hofpoet zurzeit des Kalifen Harun ar-Raschid, schrieb Wein-, Jagd- und Liebesgedichte und büsste 815 eines seiner Spottgedichte mit dem Tode. Eine persische Familie hatte sich gerächt. Besagtes Cafe wird von einem kurdischen Aktivisten geführt und ist Treffpunkt freier Geister und Exil-Irakis. Stammgäste sind etwa der Dichter Taufiq (Haytham Abdulrazak) und der homosexuelle IT-Spezialist Muhanad (Waseem Abbas). Dort arbeitet auch die Architektin Amal (Zahraa Ghandour). Sie alle haben ihre Geheimnisse, mussten untertauchen und suchten Sicherheit in England. Der öffentliche Sammelpunkt ist gefährdet, als Taufiqs fanatischer Neffe Nasseer (Shervin Alenabi) einem radikal-islamischen Prediger mehr glaubt als seinem Onkel. Als dann noch Amals Ex-Mann als Kulturattaché auftaucht, wird's brenzlig und lebensgefährlich für die «Gottlosen».

Ein Café ist beliebtes Sujet und Synonym für Kommen und Gehen, Abschied und Aufbruch, flüchtige und feste Bekanntschaften, Hoffen und Bangen. Man muss an Rick's Cafe im Filmklassiker «Casablanca» denken. Nur bestehen hier gravierende Unterschiede, damals in Casablanca zur Nazizeit flüchten Menschen, brechen auf und hoffen auf eine sichere Zukunft. Hier und jetzt in London ist das Café Abu Nawas feste Begegnungsstätte, sicherer Hort und Endpunkt. So ein Café hätte sich angeboten, meint Samir, «wo Menschen verschiedener Generationen aufeinandertreffen, die in verschiedenen Zeiten aus verschiedenen Gründen den Irak verlassen mussten. Sei es aus politischen Gründen, wegen fehlender wirtschaftlicher Perspektiven oder wegen ihrer sexuellen Orientierung. Ein Café Abu Nawas gab es vor etwa zwanzig Jahren tatsächlich – allerdings in Berlin.»

Samir, der Dokumentarfilmer («Iraqi Odyssey», «Forget Baghdad»), strebt nach Authentizität und Wirklichkeit. So suchte er für die massgeblichen Rollen «echte» Iraki. Für die Rolle des schwulen Emigranten fand er im Irak keinen bereitwilligen Schauspieler. Der Iraki Wasseem Abbas, der in England lebt, hatte damit keine Berührungsängste und Probleme. Haytham Abdulrazaq aus Kirkuk (Irak) ist Regisseur und Schauspieler, der auch in Paris arbeitet, eine Persönlichkeit mit Renommee und Freiheiten. Nein für ihn sei es leicht gewesen, die Rolle Taufic zu spielen, der eine Bürde aus der Vergangenheit mit sich trägt, erklärte er im Gespräch.

Zahraa Ghandour (Amal) ist Journalistin, TV-Moderatorin, Schauspielerin und Feministin, seit 2012 aktiv und bekannt im Irak. Hatte sie Bedenken. Befürchtungen? Sie hatte kurz vor Drehbeginn abgesagt. «Es war eine Herausforderung», meinte sie im Gespräch. «Aber alles lief gut.» Sie spielt eine Frau, die ihren Mann verlassen hat und nun mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Wieviel hat Amal mit Zahraa Ghandour zu tun? «Ich habe auch in meinem Leben dafür gekämpft, frei, ein freier Mensch zu sein.» Wird sie vom Staats und Sicherheitsorganen nicht beobachtet, bedrängt? «Ich bin eine Frau – gegen das System, aber man ignoriert mich», unterstreicht die Schauspielerin. Wird der Film auch im Irak zu sehen sein? «Ich bezweifele es, denn er behandelt drei kritischen Themen: Korruption, Homosexualität und eine Frau, die ihr Leben in die Hand nimmt und ihren Mann verlässt.»
Zahraa Ghandour arbeitet zurzeit an einem unabhängigen Dokumentarfilm über eine führende Persönlichkeit im Irak, die sich seit den Sechzigerjahren (!) für Menschenrechte einsetzt: Hanaa Edwar.

Samir, 1955 in Bagdad geboren und seit den Sechzigerjahren in der Schweiz, ist gelernter Typograph und realisiert seit den Achtzigerjahren eigene Filme wie «Morlove – Eine Ode für Heisenberg» (1987), «Immer & Ewig» (1991), «Babylon 2» (1993), «Norman Plays Golf» (2000), «Forget Baghdad» (2002, «Snow White» (2005) oder «Iraqi Odyssey» (2014). An den Hofer Filmtagen 2019 wurde Samir eine Werkschau mit insgesamt neun Filmen von 1992 «(It was) just a Job» (Kurzfilm) gewidmet bis «Baghdad in My Shadow.» Hinzu kamen vier Filme aus der Dschoint Ventschr-Produktion. Im Rahmen der Ausstellung «Theater of Operations. The Gulf Wars 1991 - 2011» im Museum of Modern Art (MoMA) von November bis 1.März 2020 zeigt Sami seinen Film «Iraqi Odyssey» und die Videoarbeit «(It Was Just a Job»). Sein neuster Film wurde auch zum Filmfestival in Kairo eingeladen.

Wir trafen Samir in Zürich zu einem Gespräch.

Gab's in einem arabischen Land wie Ägypten keine Auflagen?
Samir: Doch, ich musste die Liebesszenen zensurieren.

Und wie war die Reaktion in Hof?
Grossartig. Die Hoferfilmtage sind ein Publikumsfestival – und zwar in Franken, in der deutschen Provinz sozusagen. Die Zuschauer waren hingerissen. Ich habe alle Filme begleitet. Ein wunderbarer Anlass – sehr familiär zum Schluss. Die Leute waren einfach neugierig und überrascht über die breite meines Filmschaffens. Kurz darauf am Filmfestival in Washington DC, Sektion «Arabian Sites» habe ich den Zuschauerpreis gewonnen.

Wie wichtig sind solche Anlässe?
Für Deutschland war die Aufführung von «Baghdad in My Shadow» sehr wichtig. Nach der erfolgreichen Aufführung und der enthusiastischen Rückmeldung des Publikums, entschloss sich der Verleih, den Film im April 2020 in Deutschland zu starten.

Der Schauplatz deines Spielfilms ist London. Das hat sicher Gründe…
Etwa vier Millionen Iraqis leben im Exil, davon allein drei Millionen in Grossbritannien und davon 700 000 London. Da ist es schon natürlich, dass der Film dort spielt und nicht in Zürich.

Wie schon erwähnt ist der Treffpunkt der Exil-Irakis ein Café, benannt nach dem arabischen Dichter Abu Nawas.
Er ist einer der weniger arabischen Dichter, der in der westlichen Welt nie richtig rezipiert worden ist. Es gibt keine Übersetzung. In der arabischen Welt ist er dagegen ein Klassiker. Seine Spezialität sind Liebesgedicht, erotische Gedichte auch über die Schönheit der Jünglinge. In diesem Café treffen sich Menschen verschiedener Generationen, die in verschiedenen Zeiten aus verschiedenen Gründen den Irak verlassen mussten.

Ein besonderes Anliegen war dir das Ensemble: Iraqi sollten auch Iraqi spielen. Wie hast du das geschafft?
Das würde dies Interview sprengen. Es war schwierig.

Nehmen wir das Beispiel der Hauptdarstellerin, Amal, der Frau, die ihren Mann im Irak verlassen hat. Eine Unerhörtheit in irakischer Gesellschaft.
Ich habe drei Anläufe unternommen. Ältere Schauspielrinnen aus dem Irak kamen nicht infrage, weil sie sich chirurgisch verschönert hatten. Das wollte ich nicht. Dann bin ich ins Ausland gegangen, habe in England auch einige gefunden, doch sie waren zu «white». Ich wollte Frauen, wie ich sie als Kind erlebt habe: Sie waren alle dunkel. Zahraa Gahndour war ideal, sie ist die Frau, wie ich sie im Film postuliere. Und das war auch das Problem. Ihre Realität hat sich übergestülpt, und sie hat drei Wochen vor Drehbeginn abgesagt – aufgrund eines Riesenekklat in der Familie. Die Rolle war in diesem Moment vakant, und sie stand unter Druck. Sie kämpft für das, was sie im Film vertritt, und hatte sich zurückgezogen. Ein kritischer Moment. Dann hat sie ihre Absage zurückgenommen. Bei dem schwulen Muhanad hatten wir Glück und fanden Waseem Abbas in London, einen arabischen Schauspieler. Andere im Irak hatte gleich abgesagt, als sie erfuhren, dass sie einen Schwulen verkörperten sollten.

Gab's bei den Dreharbeiten in Bagdad keine Probleme?
In London war es schwieriger, weil die Auflagen höchst bürokratisch und mühsam waren und unseren Fahrplan durcheinander gebracht haben. Dreharbeiten im Britischen Museum wurden uns beispielsweise verboten. In Bagdad war das Problem, dass dort keine Filmindustrie existiert. Aufnahmen mit Drohnen über der Innenstadt waren kein Problem, in der Innenstadt London wäre das unmöglich.

Wie war bisher die Reaktion der Beteiligten?
Sie waren alle begeistert und sagen: Das ist unser Film.

Besteht die Gelegenheit, dass dein Film im arabischen Raum gezeigt wird?
Der Film wird am 20. November in Kairo gezeigt. Er schlägt eine Brücke zwischen Orient und Okzident und hält dem arabischen Publikum den Spiegel vor: Was ist schief gelaufen? Dabei geht mehr als um Toleranz. Wer die Augen davor verschliessen will, lebt nicht in der Realität einer globalisierten Welt.


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Veröffentlicht November 2019