Maria Speth, eine Fränkin in Berlin, beschreibt liebevoll den Kümmerer und Lehrer Dieter Bachmann, der Kindern eine familiäre Atmosphäre bietet, den Finger nicht auf Defizite, sondern auf Fähigkeiten legt. (Bild: rbr)


Maria Speth und ihr Dokumentarfilm «Herr Bachmann und seine Klasse»

Klassenleben – oder eine humanistische Lehre

Man wundert sich sehr, dass es das noch gibt: ein Lehrer mit Leib und Seele und Herz, der eine Klasse betreut, lehrt, natürlich auch belehrt, der eine Schule des Lebens praktiziert. Der Pädagoge heisst Dieter Bachmann und unterrichtete an der Gesamtschule in Stadtallendorf, einer Kleinstadt in Mittelhessen. Maria Speth hat ihn und seine Klasse sechs Monate im Jahr 2017 begleitet und dokumentiert.

19 Kinder im Alter von 12 bis 14 Jahren, dazumal im Jahr 2017. Eine Multikulti-Gemeinschaft an der Georg-Büchner-Schule in einer hessischen Kleinstadt. Stadtallendorf, nahe bei Marburg, hat rund 21 000 Einwohner und hat eine bewegte Wirtschaftsgeschichte hinter sich, gehörte ab1866 zum Königreich Preussen. Hier wurde ab 1938 Sprengstoff in grossem Ausmass für die Rüstung produziert. Hier war der Standort für die grösste Munitionsproduktionsstätte in Europa, getarnt im Wald, mitten in Deutschland zwischen Frankfurt und Kassel. Die Nazis hatten hier 15000 Zwangsarbeiter eingesetzt, die teilweise im KZ Münchmühle (Aussenlager Buchenwald) untergebracht waren. Erst 2006 waren die Sanierungsarbeiten für das gesamte Produktionsgebiet (600 Hektaren) abgeschlossen worden.

Diese Stadt und ihre jüngste Geschichte hatte die Fränkin Maria Speth (54) im Fokus. Doch das Projekt entwickelte sich anders. Dieter Bachmann, Musiker, Künstler, Lehrer, war ein Studienfreund von Reinhold Vorschneider, Autor und Kameramann. Und der animierte seine Partnerin Maria Speth, mit Herrn Bachmann und seine Art pädagogische Führung und Eingabe einen Film zu machen. Ein kleines Team nistete sich quasi in der Klasse 6B (Förderstufe 5. bis 6. Klasse) ein und sammelte Material von vielen Kilometern. «Gedreht haben wir an dreissig Drehtagen und 200 Stunden Filmmaterial gesammelt», erzählte Maria Speth bei einem Gespräch anlässlich des Zurich Film Festival, «das wurde dann auf zwanzig Stunden verdichtet, dann auf acht und fünf Stunden, schliesslich auf dreieinhalb Stunden gekürzt.»

Dieter Bachmann begann seine Lehrertätigkeit mit 40 Jahren. Der Film begleitet ihn in die Pensionierung. Maria Speth erklärte auch: «Mich hat dann neben der Stadt und ihrer Geschichte die Lebensrealität der Menschen interessiert. Und so hat sich die Schule als Ort angeboten. Wir haben den Fokus auf den Schulalltag der sechsten Klassen gerichtet.» Die Klasse ist bunt gemischt, setzt sich aus Schülern und Schülerinnen zusammen, die aus zwölf Nationen stammen, mit verschiedenen kulturellen, religiösen und ethnischen Hintergründen.

Der Filmerin war durch die lange Recherche die Schule vertraut, sie hat sich mit ihrem kleinen vierköpfigen Team in die Klasse quasi eingenistet. Man hat als Zuschauer nie das Gefühl, als wäre man Beobachter, eher Teilnehmer, interessierter Sympathisant. «Herr Bachmann hat eben auch ein familiäres Klima in der Klasse geschaffen, von der gemütlichen Einrichtung bis zur offenen Atmosphäre. Wir haben mit den Kindern eine Beziehung entwickelt, haben uns integriert und waren Bestandteil der Klasse. Sie haben uns als Filmteam nicht mehr als störend wahrgenommen.» Erstaunlich, die Kinder flirteten nicht mit der Kamera, posierten nicht wie bei Selfies.

Lehrer Bachmann hat ein grosses Vertrauen zu den Schülern aufgebaut, und das Filmteam ist in seine Fussstapfen getreten. Er ist ein grosser Humanist, der niemanden ausgrenzt, auf jeden Schüler eingeht, Schule im besten Sinne lebt. Der Film bleibt auf die Schule konzentriert. Nur selten verlässt er das Klassen- oder Lehrerzimmer, mal bei einer Klassenfahrt in den Ort, wo Bachmann lebt, mal beim Schulweg, bei einer Weihnachtsfeier. Das eigentliche Privatleben bleibt draussen vor. Ein-, zweimal gibt Herr Bachmann etwas von seinem Werdegang preis als Bildhauer, Musiker. Er ist ein begnadeter musischer Mensch, der Schüler für Musik animieren kann. Hörenswert, der Soundtrack besteht nur aus «eigener» Musik, heisst der Musik der Schüler und des Lehrers.

Herr Bachmann vermittelt den Kindern und nicht nur dort das Gefühl, ernst genommen, als wertvoll empfunden zu werden. «Das hat mir als Filmemacherin sehr entsprochen», bekennt Maria Speth. «Diese Kinder sind die Stars des Films. Ich wollte nicht das Schulsystem kritisieren, sondern zeigen, was möglich ist.»

Der Dokumentarfilm «Herr Bachmann und seine Klasse» lief 2021 im Berlinale Wettbewerb und wurde zweifach ausgezeichnet: mit dem Preis der Jury und dem Publikumspreis in Berlin, als er einem breiten Publikum gezeigt werden konnte.

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Veröffentlicht September 2021