Im Uhrzeigersinn: «Anna Göldin – letzte Hexe», Historiendrama von Gertrud Pinkus; «Fensterlos», Enthüllungsgeschichte um eine Mutter (Elvira Plüss) und ihre Tochter (Sarah Spale) von Samuel Flückiger; «Le milieu de l‘horizon», ein Familiendrama von Delphine Lehericey; «Insoumises», eine Tragödie aus Cuba um 1819 von Laura Cazador und Fernando Perez (Filmtage).


55. Solothurner Filmtage 2020

Spurensuche in Solothurn

In Solothurn sind die Vorhänge gefallen und die Lichter ausgegangen. Die neue Leiterin Anita Hugi zieht eine positive Bilanz ihrer ersten Solothurner Filmtage: Die Preise sind vergeben, das Programm stimmte und die Säle waren sehr gut besucht – mit 66 000 Zuschauern und Zuschauerinnen. Wie blicken zurück auf acht Filmtage unter acht Aspekten.

Leitung/Leitfaden
Im Vorfeld hatte die neue Leiterin bereits annonciert, dass sie die Filmtage nicht umkrempeln wolle. Natürlich werden sanfte Anpassungen und auch Neuerungen vorgenommen wie beispielsweise die Party der Filmschulen in Attisholz Nord (etwas ausserhalb Solothurns). Grundsätzlich stehen für Hugi Filme und Filmschaffende im Zentrum. «Die Filme bilden ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Themen ab», meint die Filmtagedirektorin. «Mir ist wichtig zu betonen, es sind nicht wir, die die Themen definieren, sondern die Filmschaffenden mit ihren Filmen selbst.» Souverän, unaufgeregt und versiert hat die Bielerin ihre ersten Filmtage, notabene die 55., über die Bühne gebracht und dabei angedeutet, dass ein wichtiger Teil des Zielpublikums junge Filminteressierte seien.

Preisregen und -segen
Kein Festival ohne Preise, keine Filmtage ohne Preise. Sie locken Filmschaffende und vermeintliche Stars an – in Locarno oder Zürich. Sie wirken als Anerkennung und manchmal auch als Ausrufesignal. Der Bogen spannt sich in Solothurn vom Förderpreis (Upcoming Talents) an Dejan Barac und ihrem kurzen Dokumentarfilm «Mama Rosa» über Prix d'honneur, dotiert mit 10 000 Franken, (er ging an die Filmverleiherin Bea Cuttat) bis Prix Swissperfom und die beiden Hauptpreise Prix de Soleur (60 000 Franken) und Prix du Public (20 000 Franken). Stefan Kurt, national wie international eine Schauspielergrösse, wurde mit einem der vier Prix Swissperform 2020 ausgezeichnet (Jury-Preis), dotiert mit je 10 000 Franken (vormals Fernsehpreis), und zwar für seine zwielichtige Rolle als Dr. Sennhauser im Fernsehfilm über Psychiatriebehandlung «Aus dem Schatten – Zeit der Hoffnung». Eine Fernsehproduktion mit Kinoqualität übrigens. Gern würde Regisseur Marcel Gisler ihn im Kino sehen, er hat jedoch seine Zweifel, ob sich ein Verleiher finden würde, eben weil der Film bereits vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde. Weitere Preisträger waren Lorena Handschin für die beste weibliche Hauptrolle in «Nr. 47». Roland Vuilloz wurde, als bester Hauptdarsteller in «Helvetica» und Manuela Biedermann als beste Nebendarstellerin in «Wilder» ausgezeichnet.
Die tunesische Regisseurin Boutheyna Bouslama erhielt den Prix Soleur für ihren Erstling «A la recherche de l’homme à la caméra». Sie erzählt in ihrem Dokumentarfilm von der dreijährigen Odyssee, zu der sich die Suche nach ihrem Jugendfreund entwickelt. Den Solothurner Publikumspreis (Prix du public) gewann Filmemacher Samir für den Spielfilm «Baghdad in My Shadow». Er schildert Ereignisse um eine irakische Exilgemeinschaft in London.

Förderung und Annoncierung
Ein Frauen-Kollektiv gewann den 10. Migros-Kulturprozent CH-Dokfilm-Wettbewerb. Fünf Regisseurinnen und zwei Produzentinnen aus der Romandie und der Deutschschweiz nahmen am 24. Januar 2020 den Preis für «Les Nouvelles Èves» (Emilia Productions, ZH) entgegen. Die Realisierung des Gewinnerprojekts wird mit 400 000 Franken sowie zusätzlich von der SRG SSR mit 80 000 Franken finanziert. Dieses spezielle Kulturengagement wird beendet. Wie Hedy Graber, Leiterin bei der Migros für Kultur und Soziales, mitteilte, wird das Kulturprozent neu ausgerichtet, wobei der Migros-Kulturbeitrag nicht gekürzt, sondern anders verteilt und gewichtet wird. Die Bereiche Tanz, Musik und Theater sollen stärker unterstützt werden. Man möchte gewisse Einschränkungen abbauen und einen breiteren Kreis berücksichtigen. Dabei soll ausdrücklich die Förderung des Künstlernachwuchs ausgebaut werden. «Bei der Bühnenkunst, der bildenden Kunst und beim Film sind wir dabei, neue Projekte zu entwickeln», verspricht Hedy Graber.

Spuren/Spurensuche
Nicht selten, aber immer wieder sehenswert. Manche Filmer und Filmerinnen begeben sich auf Spurensuche. Das geht von Bruno Manser («Die Stimme aus dem Regenwald»), dem Umweltkämpfer in Borneo, über den Solothurner Kunstmaler Frank Buchser («The Song of Mary Blane»), der in Amerika in geheimer Mission unterwegs war und Indianer malte, bis zu Paul Nizon («Der Nagel im Kopf»), dem Schweizer Schriftsteller, der Mitte der Siebzigerjahre nach Paris zog («Für mich ist Paris zum Schicksal geworden», Nizon). Christoph Kühn («Bruno Maser – Laki Penan», Dokumentarfilm) ist dem Dichter nach Paris gefolgt, um dem Leben des «Exilanten» auf die Spur zu kommen. Was hat ihn bewegt, was treibt ihn, wie lebt er an der Seine? Spurensuche ganz anderer Art bietet Barbara Erni in ihrem kurzen Dokumentarfilm «Making of Makin Nothing» (19 Minuten). Die Fotografin aus Chur, die in Lausanne lebt, hat in einer Fotokiste gegraben und die Geschichten ihrer Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter ans Licht gebracht. Liebenswürdig.
Ganz anders Daniel Howald. In seiner Recherche «Who's Afraid of Alice Miller?» reist er mit Martin, dem Sohn der bekannten Psychologin Alice Miller, nach Polen, um die wahre Geschichte seiner jüdischen Eltern zu «entlarven». Einer der stärksten und bewegendsten Dokumentarfilme an den 55. Filmtagen.

Frauenpower
Viele Filmerinnen haben in Solothurn Spuren hinterlassen. So finden auch ältere Schweizer Filme einen Platz an den Filmtagen. Diesbezüglich sei besonders die Wiederaufführung des Spielfilms «Anna Göldin – letzte Hexe» aus dem Jahr 1991 erwähnt. Mit modernsten Methoden digitalisiert, beeindruckt der Film über eine historische Figur noch immer. Gertrud Pinkus, eine Gefährtin des Filmtage-Gründers Stefan Portmann, hatte das Buch von Eveline Hasler verfilmt. Das Solothurner Programm «Histoires du cinéma suisse» zeigte zudem unter dem Titel «Cinéma Copines» fünf Spielfilme dreier Filmpionierinnen aus den Jahren 1977 bis 1991 – von Patricia Moraz, Christine Pascal und Paule Muret. Nicht von ungefähr ist die diesjährige Retrospektive (Rencontre) der Bielerin Heidi Specogna gewidmet («Das Schiff des Torjägers», «Deckname: Rosa», «Pepe Mujica – el presidente» u.a.)

Entdeckungen
Wer dem Treiben von Frauen über 30 noch nicht im Kino beiwohnte, sollte dies möglichst nachholen. Natascha Beller proklamiert schelmisch «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» und macht den Frauen Beine, die Kinder- und Liebesglück suchen, aber… Um eine Frau geht es auch im Dokumentarfilm «Das letzte Buch» von Anne-Marie Haller. Die Bernerin Katharina Zimmermann ist über 80 Jahre rüstig, blickt auf ein Leben als Pfarrersgattin in Borneo und Schriftstellerin in der Schweiz zurück. Sie erzählt vom Amisbühl, dem ehemaligen Hotel ihrer Grosseltern, ebenso wie von ihrem Leben in Indonesien. Und noch eine Frauengeschichte der ganz besonderen Art. Im Spielfilm «Insoumises», was so viel wie unbeugsam, nicht unterwürfig bedeutet, wird das Schicksal eines jungen Schweizer Arztes auf Kuba um 1819 beschrieben (nach wahrer Begebenheiten). Enrique Faber behandelt Weisse wie Schwarze, Grundbesitzer wie Sklaven, geflohene oder befreite, gleich. Er heiratet die Farbige Juana und wird als Frau «entlarvt» und verurteilt. Ein wuchtiger fesselnder Kinofilm von Laura Cazador und Fernando Perez mit Sylvie Testud in der Hauptrolle.
Die schweizerisch-belgische Koproduktion «Le milieu de l‘horizon» beschreibt während hitziger Sommertage 1976, wie ein Farmer seine Existenz und seine Frau verliert. Die Bauerfamilie Sutter bricht auseinander, und der 13jährige Sohn Gus wird quasi Zeuge der dramatischen Ereignisse. Der Knabe selber ist im Umbruch und versucht mit seinen eigenen Gefühle auch gegenüber einem Mädchen klarzukommen. Alle suchen und erfahren Veränderungen, flüchten aus dem brütenden Alltag und suchen ihr eigenes Heil, vor allem die Mutter, die in den Armen einer lesbischen Freundin Cécile landet. Ein stimmiger, versengender Film, in Mazedonien gedreht, von Delphine Lehericey, der einen in seinen heissen Bann zieht.

Kurz und kernig
Nicht nur in Solothurn lohnt es sich, in die Sektionen mit Kurz- und Animationsfilmen reinzuschauen. Dort kann man Kleinode entdecken. Samuel Flückiger etwa erzählt in seinem Kurzspielfilm «Fensterlos» von einer Mutter (Elvira Plüss), die ihr Baby der sogenannten Babyklappe in Einsiedeln anvertraute. Nach 35 Jahren will sie wissen, was aus ihrem Baby geworden ist, und trifft auf eine junge Frau (Sarah Spale, «Wilder»), die nichts von ihr wissen will.
Kunstvoll vereint Christina Benz Zeichnungen, Lyrik und Musik. Sie zeichnet ihre Geschichte in schwarzen Sand, animiert die Bilder in Stop-Motion-Technik (Shifting Sands) und untermalt sie mit Lyrik, in ihrem Trickfilm «Fulesee» mit Texten und Musik der «Astronauten». Und wenn Sie wissen wollen «Warum Schnecken keine Beine haben», schauen Sie in den Trickfilm von Aline Höchli.

Bilanz
Reich war das Angebot der 55. Ausgabe und erfolgreich beim Publikum mit 66 000 Eintritten, damit wurde die letztjährige Bilanz übertroffen – bei einer Auslastung von 70,5 Prozent (plus 2 Prozent gegenüber 2019). Nur im Jahr 2015 kamen mehr Besucher, nämlich 68 000. Bis auf gewisse Stauzeiten morgens funktionierte das Online-Ticketingsystem praktikabel bei Abonnenten. Bei Einzeleintritten waren Geduld und Standvermögen nötig. Gleichwohl hielten sich Anstehen und Gedränge im Rahmen. Zu überdenken wäre freilich, ob man nicht Programme oder organisierte Gespräch hier und dort verschlanken sprich kürzen sollte. Fraglos gilt es, ein Augenmerk auch künftig auf Serien und allfällige Produktionen à la Netflix (mit Schweizer Beteiligung) zu richten. Die 56. Solothurner Filmtage finden vom 20. bis 27. Januar 2021 statt.

Infos: www.solothurnerfilmtage.ch


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Veröffentlicht Februar 2020