Zwischen Mozart und Matthäus: Der Schweizer Milo Rau, Theaterleiter, Filmer und Autor, das Evangelium neu verfilmt und schlägt Brücken zwischen biblischer Botschaft und Sozialkonflikten heute. (Bild: rbr)


Milo Rau, Regisseur, Autor, Akteur

Von Solidarität und
Botschaft der Würde

Er ist auf verschiedenen Bühnen aktiv. Regisseur Milo Rau ist Mitglied des «Literaturclubs» beim Schweizer Fernsehen, inszeniert an Theatern und realisiert Filme. Sein jüngstes Kinowerk «Das neue Evangelium» startet an Ostern im Kino oder mittels Streaming. Er ist zu Gast in der «Sternstunde Philosophie» am 21. März (SFR1).

Milo Rau, 1977 in Bern geboren und in St. Gallen aufgewachsen, sorgte jüngst in Genf für Furore. Er inszenierte zum ersten Mal eine Oper mit Flüchtlingen: Wolfgang Amadeus Mozarts «La Clemenza di Tito (Titus)». Mit Flüchtlingen hat auch sein jüngstes Kinowerk zu tun: «Das neue Evangelium». Dabei verknüpft er die Passionsgeschichte mit der Situation von Emigranten und Kleinbauern in Italien heute. Ein starkes Stück (siehe Filmkritik).

Von der Oper in den Literaturclub und ins Kino – Sie bespielen viele Bühnen. Was motiviert Sie, reizt Sie an den verschiedenen Wirkungsstätten?
Milo Rau: Im Kern bin ich Theater- und Filmemacher. Andere Sachen sind Parallelgeschichten, wie etwa der «Literaturclub». Ich bin ja Literaturfan und habe früher viele Kritiken geschrieben. Seit ein paar Jahren leite ich das NTGent, ein Stadttheater in Belgien. Das hat meine Sichtweise auf den Kunstbetrieb nochmals verändert – es ist nochmals was anderes, als Intendant drei Häuser zu bespielen.

Ihr neuer Film «Das neue Evangelium» beruft sich auf die biblische Passionsgeschichte. Sie haben sich mehrfach mit der Bibel und ihren Bildern auseinandergesetzt. Nun eine moderne Jesus-Version fürs Kino. Was hat Sie zu dieser Verfilmung im italienischen Matera bewogen?
Das ist meine Methode: an einen Ort zu gehen, Schauspieler mit Laien und Aktivisten zu mischen. Einerseits war Matera 2019 europäische Kulturhauptstadt und ist es das Jerusalem des Weltkinos, Pasolini und Mel Gibson haben hier Jesusfilme gedreht. Andererseits ist es ein Ort mit Monokulturen und Sklavenarbeitern. Diese doppelte Realität ist entscheidend. An einem anderen Ort wäre ein anderer Jesusfilm entstanden.

Verschiedene Ebenen und Erzählstränge kommen zusammen: ein Making-of, die Dreharbeiten und dazu die Realität vor Ort. Ist das so zusammengewachsen?
Ja. Einerseits von selbst, andererseits haben wir natürlich nach Parallelen gesucht, zum Beispiel zwischen der Bibel und der realen politischen Lage. Wir haben ein Jahr lang vorbereitet und Solidaritäten geschaffen.

Wie wirkte sich Ihre Filmarbeit aus?
Es gibt Netzwerke wie die Kampagne «Revolte der Würde», die vom Film befeuert wurden, aber heute vom Film unabhängig sind. Was man im Film sieht, ist real – auch ausserhalb des Films. Das war auch Yvan Sagnet und den anderen Aktivisten wichtig. Sie wollen ja keine Schauspielerkarriere machen. Das sind Menschen mit praktischen und politischen Absichten, wollen ihre Lebensbedingungen verändern und verbessern. Das ist uns gelungen.

Speziell an Ihrem Film ist auch, dass Jesus von einem Schwarzen verkörpert wird und Muslime Jünger spielen …
Ja, rund die Hälfte der Apostel sind Muslime, wir sind zudem der erste Jesusfilm mit weiblichen Apostelinnen. Aber jedes Evangelium, das man schreibt oder filmt ist neu. Allein in der Bibel gibt es ja ein halbes Dutzend sich manchmal widersprechender Passionsgeschichten. Das hängt davon ab, wer es realisiert und wer mitmacht. Ich habe in Matera, die Menschen eingeladen, die dort leben und kämpfen und für die auch Jesus kämpfen würde, glaube ich.

Und die Muslime, die mitgemacht haben …
Die meisten Flüchtlinge dort sind Muslime, und die haben gesagt: Gerade weil wir Muslime sind, wollen wir mitmachen, denn es geht um eine universale Geschichte. Es geht in der Bibel nicht um einen weissen Christen, sondern um alle Menschen, egal welcher Herkunft oder Religion. Das ist ja auch die Paulinische Botschaft: Alle können erlöst werden, die Botschaft der Würde ist für jeden Menschen. Daran sollte man sich erinnern. Das Neue Testament wurde aber von einer Institution gekapert, nämlich der Kirche. Ich glaube, die Bibel ist nicht nur ein historisches oder spirituelles Buch, sondern eines, das sich immer wieder realisieren, an der Wirklichkeit messen muss.

In Ihrem Evangelium geht es um Benachteiligte, Ausgebeutete und Aussenseiter wie schon in der Bibel, ein Film mit starkem sozialen Aspekt. Was sollten die Zuschauer von diesem Passionsfilm mitnehmen?
Man sollte sich daran erinnern, dass Jesu Botschaft – wie jede von Menschen vertretene Botschaft – eine realpolitische Botschaft ist. Jesus wurde nicht gekreuzigt, weil er vom Himmelreich gesprochen hat. Das Problem war, dass er gesagt hat: Wir müssen nach der Schrift handeln, wir müssen ein faires Leben anstreben ohne Sklaven und mit Rechten für die Frauen. Das war nicht akzeptabel, denn dann bricht unsere Sklavenwirtschaft zusammen, dachten sich die Römer. Und das ist auch unsere Botschaft: Den Worten sollten auch Taten folgen.

Was hat Sie selber am meisten bei der Verarbeitung des Stoffes und den Dreharbeiten beeindruckt?
Was mich bei solchen Projekten wie auch der Oper mitreisst, ist der Rausch des Kollektivs. Plötzlich wird alles möglich, wenn 50 oder 100 oder mehr Menschen an einem gemeinsamen Projekt mitwirken und sich solidarisieren. Das ist meine Theorie: Es gibt keine Ideologien, keine Absichten, es gibt nur Projekte, reale Arbeits- und Lebenszusammenhänge.

Sind Sie im Kern Humanist?
Ja. Ich denke, wir sind alle Humanisten. Die Frage ist ja nicht: Warum sind wir böse, sondern: Warum tun wir Böses, obwohl wir gute Absichten haben? Warum leben wir in Strukturen, wo das Menschliche die Ausnahme ist?

Wie ist Ihr modernes Evangelium angekommen – beim Vatikan beispielsweise?
Wir haben mit dem Immigrationsministerium des Vatikans zusammengearbeitet. Die katholische Kirche unterstützt die Häuser der Würde finanziell. Wir hatten Kontakt mit Franziskus. Er fand den Film gut, konnte aber die «Revolte der Würde» nicht offiziell unterstützen, weil sie zu politisch ist. Für mich ist dieser Papst mit all seinen Widersprüchen ein absoluter Hoffnungsschimmer. Er predigt ein Evangelium der Armen.

Welches Verhältnis haben Sie zur Religion, zur Kirche?
Institutionen sind immer so gut wie die Leute, die dort arbeiten. Wir hatten sehr viel Glück in Italien, speziell in Süditalien, wo von der Kirche viel in der Flüchtlingshilfe unternommen wird. Ich habe viele Vorurteile abbauen können.

Wie geht es weiter mit dem Kino, dem Theater?
Eine Oper, im Streaming aufzuführen, wie jetzt in Genf, ist eine halbe Sache. Wir werden unseren Genfer «Titus» nun live an den Wiener Festwochen im Mai aufführen. Und wir hoffen natürlich, dass die Kinos bald wieder öffnen. Parallel probe ich an zwei neuen Stücken. Und jüngst wurden zwei neue Bücher von mir verlegt: «Grundsätzlich unvorbereitet. 99 Texte über Kunst und Gesellschaft», gesammelte Kolumnen, Verbrecher Verlag/Ex Libris 2021. Und «Vers un Réalisme global», L'Arche 2021.


Bio in Stichworten
Geboren am 25. Januar 1977 in Bern, aufgewachsen in St. Gallen
Vater zweier Töchter (11 und 14)
Wohnhaft in Köln

Studium der Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin
Autor von rund 50 Theaterstücken, Filme, Bücher, Aktionen.
Inszenierungen u.a. an der Schaubühne Berlin, Münchner Kammerspielen.
2007 Gründung der Theater-und Filmproduktionsgesellschaft IIPM (International Institute of Political Murder).
Seit 2018/19 Intendant des NTGent

Filmauswahl:
«Die Moskauer Prozesse», Dokumentarfilm (2014)
«Das Kongo Tribunal», Dokumentarfilm (2015)
«Das neue Evangelium», Dok-Spielfilm (2020)


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Veröffentlicht März 2021