Festivaldirektor Christian Jungen liess nicht locker und boxte das internationale Filmtreffen und Wettbewerbe, Talks und Masters durch – gegen alle Corona-Umbilden, Masken und Einschränkungen. Zuschauer und Stargäste gaben ihm recht. (Foto: ZFF)


16. Zurich Film Festival (24. September bis 4. Oktober 2020)

Engagiert für den Film:
Gewagt und gewonnen

Corona hat vieles gebremst, nicht aber Christian Jungen in seinem ersten Jahr als Leiter des Zurich Film Festivals (ZFF). Er glaubte an diesen Kino-Grossanlass allen Krisen und Einschränkungen zum Trotz. Das 16. Zurich Film Festival (24. September – 4.Oktober 2020) setzte kulturelle und gesellschaftliche Zeichen. Der Wiederbelebungsversuch, Besucher wieder in die Kinos zu locken, ist voll aufgegangen.

68 000 Filminteressierte hätten die Festivalfilme besucht, teilte das ZFF mit – bei 165 aufgeführten Filmen, darunter 23 Weltpremieren. 100 Vorstellungen seien ausverkauft gewesen. Hochgerechnet – nur 60 Prozent der Kinoplätze durften besetzt werden – lag die 16. Ausgabe damit auf Augenhöhe mit dem Jahr 2019. «Wir sind hoch zufrieden,» bilanzierte Festivaldirektor Christan Jungen. «Wir wollten mit dem ZFF ein Zeichen des Optimismus und des Aufbruchs setzen. Es hat sich gezeigt, dass die Leute wieder Lust auf Kino haben.»

Es gab einiges zu sehen, Stars auf dem grünen Teppich, der nur beschränkt bevölkert werden konnte, oder eben packende Filme in diversen Zürcher Kinos vom Bellevue (Corso, Le Paris, Piccadilly) bis Kosmos, Filmpodium und Sihlcity. Stars wie Juliette Binoche (Golden Icon), Maïwenn (A Tribute to…Award), Til Schweiger (Karriere Award) und Rolf Lyssy (Career Achievement Award) holten ihre Auszeichnungen persönlich ab und wurden gefeiert. Auch Johnny Depp zeigte sich brav und publikumsfreundlich, er präsentierte den Dokfilm «Crock of Gold: A Few Rounds with Shane McGowan».

Das Festival, so wurde bereits im Vorfeld herausgestrichen, hatte einen grossen weiblichen Anteil. Drei Frauen gewannen die Golden Eyes, mit je 25 000 Franken dotiert: die Mexikanerin Fernanda Valadez für «Sin señas particulares», die Amerikanerin Garrett Bradley für «Time» (Dokumentarfilm) und die Österreicherin Evi Romen für «Hochwald» (Fokus).
Viele Filme, besonders aus den Sektionen «Fokus» (deutschsprachige Filme) und «Gala-Premieren», werden über kurz oder lang auch im «normalen» Kinoprogramm zu sehen sein.

Vorweg einige Tipps:
Rolf Lyssys «Eden für jeden» (Filmkritik und Interview), der verschmitzte Schrebergarten-Kleinkrieg, ist bereits im Kino angelaufen. Bettina Oberlis kritische Gesellschaftskomödie «Wanda, mein Wunder» folgt sodann (26. November). Teenager heute: Die Dreierbande «Sami, Joe und ich» versucht auszubrechen, einen eigenen Weg zu finden zwischen Elternhaus, Lehre und Träumen. Karin Heberlein setzte die kleinen Fluchten der drei Mädchen beherzt in Szene – in und um Zürich.

Ein alltägliches Drama: Eine labile Mutter kämpft um ihre Kinder, die dem Vater zugesprochen werden sollen. Sie flieht mit ihnen von Schweden nach Teneriffa: «Charter» von Amanda Kernell. Nathan Grossman hat die Kultfigur der Klimajugend, Greta Thunberg, von ihrem ersten Sitzstreik bis zu Auftritten in Brüssel, New York, beim WWF oder beim Papst begleitet. «I Am Greta» ist ein eindrückliches Porträt, das einen engagierten Menschen zeigt – quasi hinter den Kulissen und Kameras (Start: 16. Oktober).

Der Titel sagt nichts und doch alles: «80 000 Schnitzel». Hannah Schweier ist ihrer Schwester Monika und Grossmutter Berta (84) quasi auf den Pelz oder Pfanne gerückt. Monika kämpft um den Familienhof (Milchwirtschaft) in der Oberpfalz (Bayern), während die Grossmutter unermüdlich, selbst im Rollstuhl, ihre berühmten Schnitzel klopft, paniert und brät. Ein Familienporträt ganz anderer Art – amüsant, berührend und sehr sehenswert.

Bei den Gala-Premieren sticht vor allem der Gewinner von Venedig, «Nomadland» mit einer überragenden Frances McDormand hervor, die durch die amerikanischen Landschaften mit dem Van nomadisiert (Start: 4. Februar 2021). Nicht minder bewegend ist das Kammerspiel «The Father» von Florian Zeller, in dem sich eine Tochter (Olivia Colman) verzweifelt um ihren starrköpfigen dementen Vater (Anthony Hopkins) bemüht. Einen Blick auf die Misswahlen 1970 wirft Philippa Lowthorpe. «Misbehaviour» schildert die «Fleischschau», welche für manche Kandidatinnen die Chance ihres Lebens bietet und Männern ihr Ego, sprich Männlichkeit, streichelt (Start: 15. Oktober).

Enttäuschend in diesem Gala-Rahmen fiel die moralische Komödie, mit Musicalelementen gespickt, aus: «La bonne Epouse», von Juliette Binochen präsentiert (sie spielt die Leiterin einer Hausfrauenakademie um 1968), ist ein unerträglich theatralisches Sittenschaustück, in dem Mädchen den Aufstand gegen alte Konventionen (Frauen gehören an den Herd usw.) wagen.
Zu erwähnen und zu empfehlen ist hingegen Stefans Schaubs «Zürcher Tagebuch». Demnächst mehr zum Kinostart am 5. November.

Fazit: Das 16. ZFF wagte viel und gewann. Das Publikum überwand die Corona-Hemmschwellen. Eine der unsinnigsten Schutzvorgaben war in diesem Zusammenhang das Maskentragegebot im Kinosaal. Trotz reduziertem Platzangebot ist der Eintrittspreis bei Filmen der Galapremieren mit 29 Franken (Senioren 21 Franken) zu hoch gegriffen. Denn auch Stadt und Kanton Zürich hat dem ZFF finanziell unter die Arme gegriffen. Ob die Festivalattraktivität beim Publikum nachwirkt, wird sich weisen. Den Kinos ist es zu wünschen.



Preise

Spielfilm-Wettbewerb: «Sin señas particulares» von Fernanda Valadez
Dokumentarfilm-Wettbewerb: «Time» von Garrett Bradley
Fokus-Wettbeerb: «Time» von Evi Romen
Serien-Wettbewerb: «Cry Wolf» von Maja Jul Larsen
Kritikerpreis: «80 000 Schnitzel» von Hannah Schweier
Science Film Award: «I Am Greta»
Filmpreis der Zürcher Kirchen: «Sami, Joe und ich» von Karin Heberlein


Zurück