Gerhard Richter: «Stadtbild D», 1968, Öl auf Leinwand (links unten); «Himalaja», 1968, Öl auf Leinwand; «Sankt Gallen», 1989, Öl auf Leinwand (oben; Bilder: rbr)


Gerhard Richter im Kunsthaus Zürich (bis 25. Juli 2021)

Bilder zwischen Schein und Sein

In ihm spiegelt sich die Geschichte Deutschlands der letzten sechzig Jahre. Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren, verliess die DDR im Jahr des Mauerbaus 1961. In Westdeutschland avancierte er zum gefragten Maler. Weltweit ist er einer der gefragtesten, bedeutendsten und teuersten lebende Künstler der Gegenwart. Das Zürcher Kunsthaus zeigt in Zusammenarbeit mit dem Kunstforum Wien eine beeindruckende Schau seiner Landschaftsbilder.

Das Thema «Landschaft» beschäftigt Gerhard Richter seit 1963. Dies ist kunsthistorisch ein schwer beladenes Genre, wie Ingried Brugger, Direktorin Bank Austria Kunstforum Wien, im Katalog-Vorwort schreibt und ortet Richters Verständnis. «Er präsentiert uns die Landschaft in der gesamten medialen Vielfalt… und er präsentiert uns 'Landschaft' als vermittelt – sei es durch (vorgefundene oder selbst aufgenommene) Fotos, sei es durch Bilder aus Illustrierten oder durch Schlüsselwerke der Kunstgeschichte.»

Gerhard Richter reflektiert Landschaft, taucht ein, verfremdet, verformt sie auch und schafft neue Landschaften. Ein wunderbares Beispiel dafür sind die Ölbilder «Seestück (See-See)», 1970, nach Fotografien von den Kanarischen Inseln entwickelt. See spiegelt sich auf See und man meint, einem rauen Meer mit dramatischem Wolkenhimmel zu begegnen. Irritierend und irreal, obwohl die Collage realistisch scheint. Sie finden sich im Kapitel «Landschaften als fiktionale Konstrukte». Andere verfremdete Beispiele sind seine Ölbilder «Stadtbild» (1968, 1970). Sie wirken wie Impressionen über Hamburg oder Dresden, seiner Heimatstadt nach einem Bombenangriff (wie tatsächlich 1945 geschehen). Und doch sind diese Ansichten nach Luftaufnahmen einer unbeschädigten Stadt entstanden, zeichnen malerisch städtebauliche Strukturen nach (Kapitel «Landschaften in der Abstraktion»).
In diese Kategorie fällt auch das Bild «Sankt Gallen» (1989), eine Auftragsarbeit für die St. Galler Universität. Das geradezu monumentale Werk (250x340 cm) basiert nicht auf einer Fotografie, es wurde von Richter mit einer Rakel gefertigt – «eine lange, schmale Leiste aus Kunststoff, mit der die Farbmaterie über die Bildfläche gezogen wird«», so Hubertus Butin, Richter-Experte aus Berlin im Katalog und Co-Kurator. Das Bild, sozusagen der End- und Schwerpunkt der Zürcher Ausstellung, wirkt wie ein wildes Farbgewitter, das rasend und ungestüm vorbeizieht.

Spannend sind auch die «Landschaften aus zweiter Hand» oder «Die übermalten Bilder». Richter hat wie erwähnt häufig Fotografien als Vorlagen verwendet und übermalt. «Seit Mitte der 1980-er Jahre appliziert der Künstler bei einigen Werken Ölfarbe mit Hilfe einer Rakel oder eines Spachtels», so Butin. «In all diesen Bildern hat Gerhard Richter ein abbildhaftes, gegenständliches Fotomotiv mit einer fleckenartigen, ungegenständlichen Farbmaterie überzogen. Diese beiden simultanen Wirklichkeitsebenen gehen in den Bildern paradoxerweise eine enge Verbindung ein; sie erscheinen als eine ineinander verzahnte Einheit, deren Spannung aus dem deutlichen Gegensatz der verschiedenen Produktionsformen herrührt.»

Richter gestaltet und vermittelt verschiedene Eindrücke, Rezeptionen und Ästhetik. Er spielt mit Abbildungen und durchdringt Realität, schafft neue Landschaftswelten. Dramatisch, surreal, auch flüchtig schemenhaft, real und gleichwohl unwirklich wie die Drucke «Schweizer Alpen» (1969) oder «Himalaja» (1968). Eines der wenigen Bilder mit Menschen heisst «Venedig (Treppe)», 1985, und zeigt eine Frauengestalt am Ufer, dem Kapitel «Romantisierende Bilder als 'Kuckuckseier'» zugeordnet. Eine fast versponnene träumerische Impression. Andererseits manipuliert Richter Landschaften, erfindet neue. Sie sind kaum einmal eindeutig, sondern vielschichtig, verschieden lesbar wie die erwähnten «Seestücke». Das mag auch damit zusammenhängen, dass Richter der Realitätsabbildung misstraut. «Ich misstraue nicht der Realität, sondern dem Bild von Realität, das uns unsere Sinne vermitteln», präzisierte er in Gesprächen. «Meine Landschaften sind ja nicht nur schön oder nostalgisch, romantisch oder klassisch anmutend wie verlorene Paradiese, sondern vor allem 'verlogen' (auch wenn ich nicht immer die Mittel fand, gerade das zu zeigen).»

Man kann sich auf Richters Landschaftswelten einlassen eintauchen, wobei die Geschichte hinter den Bildern oft so spannend ist wie die Werke selber. Sie sind individuell lesbar, erfahrbar und assoziierend. Hauskuratorin Cathérine Hug beschreibt das Wesen und den Gehalt dieser Ausstellung im Katalog wie folgt: «Das Jahr 2020 steht im Zeichen der Coronavirus-Krise, deren weltweit spürbarste Konsequenzen auf persönlicher Ebene das Social Distancing sowie massive Bewegungseinschränkungen sind. Mit Sicherheit werden wir uns besonders vor diesem Hintergrund bewusst, wie wertvoll sinnliche Erfahrungen im gemeinschaftlichen Rezeptionsvorgang sind, vor allem dann, wenn sie zu Projektionsflächen von Freiheit wie im Falle von Landschaften werden können.» Eine Begegnung mit Richters Landschaftsimpressionen, Erfahrungen und Erkundungen lohnt alleweil und bereichert.

Das Zürcher Kunsthaus zeigt rund 140 Arbeiten (bis 25. Juli 2021), 80 Gemälde sowie Zeichnungen, Fotocollagen, übermalte Fotografien, Grafiken und mehr. Sie umfassen den Zeittraum von 1957 bis 2018. Eingeteilt in fünf Abschnitten: «Landschaften aus zweiter Hand», «Romantisierende Bilder als 'Kuckuckseier'», «Landschaften in der Abstraktion», «Landschaften als fiktionale Konstrukte» und «Übermalte Landschaften».


Der grossformatige, grossartige Katalog «Gerhard Richter – Landschaft» mit 220 Seiten und rund 190 Abbildungen kostet 48 Franken.

Gerhard Richters Arbeit «Acht Lernschwestern» (1966) wird ab Oktober 2021 im Kunsthaus-Erweiterungsbau zu sehen sein.

Empfehlenswert
Als Einstieg in Gerhard Richters Werk eignet sich der Grossband «Richter» von Klaus Honnef in der Reihe Taschen, Band 200 in der Kleinen Reihe Kunst.
Das Buch mit zahlreichen Abbildungen endet mit der Installation «Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel», 2018 in der Dominikanerkirche zu Münster, Westfalen. Die letzten Arbeiten Richters von 2019, die Chorfenster für die Benediktinerabtei St. Mauritius in Tholey, Saarland, sind nicht erfasst.

Der Journalist Jürgen Schreiber stiess auf eine unheimliche Familiengeschichte, recherchierte akribisch und schildert die tragische Geschichte Mariannes, der Tante Gerhard Richters, und seines früheren Schwiegervaters Prof Dr. Heinrich Eufinger, SS-Leiter einer Frauenklinik in Dresden, in der die Nazis unzählige Menschen sterilisiert und ermordet haben (Euthanasie).
Ein erschütternder Bericht: «Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter – Das Drama einer Familie», Piper Verlag, 6. Auflage 2021. Gerhard Richter wusste nichts von den historischen Nazi-Hintergründen seines Schwiegervaters, als er Porträts von eben diesem SS-Obersturmbannführer Heinrich Eufinger und Tante Marianne 1965 malte. Eufinger wurde nie zur Rechenschaft gezogen und starb 1988, hoch geachtet im Alter von 94 Jahren. Schreibers erschütternder Bericht rollt ein menschenverachtendes mörderisches Kapitel deutscher Geschichte auf, das lange Zeit totgeschwiegen wurde.
Der Stoff wurde 2018 von Florian Henckel von Donnersmarck mit Tom Schilling, Sebastian Koch und Paula Beer verfilmt. «Werk ohne Autor» lehnt sich an Richters Familiengeschichte an, erzählt von Richters Werdegang und Aufstieg in Düsseldorf, und nimmt einige Veränderungen vor. Gleichwohl ein packender erschütternder Spielfilm.


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Veröffentlicht April 2021