«The Leo sleeps tonight…» Eben nicht in Locarno. Die Leoparden sind erwacht und bevölkern u.a. die Piazza Grande, das grösste und schönste Kino unterm Sternenzelt. (zvg)


Vorschau – 72. Filmfestival Locarno (7. bis 17. August 2019)

Filmmekka Locarno:
Viel Film, viel Ehr, viel Risiko

Das Filmfestival Locarno ist wieder weiblich geworden, was die Festivaldirektion angeht. Die Pariserin Lili Hinstin (42) hat die Nachfolge von Carlo Chatrian angetreten, der dem Ruf nach Berlin gefolgt ist. Insgesamt werden rund 130 Filme aufgeführt. Das Piazza-Programm ist eher auf Cineasten, denn aufs breite Publikum zugeschnitten. Höhepunkt ist wohl Quentin Tarantinos «Once Upon a Time …in Hollywood» am 10. August.

Die Piazza Grande ist das Aushängeschild des Filmfestivals Locarno, das schönste Openair-Kino weit und breit in einzigartiger Atmosphäre. Im vergangenen Jahr sorgten Filme wie «BlacKkKlansman» von Spike Lee, «Blaze» von Ethan Hawke, «Le vent tourne» von Bettina Oberli, «Se7en» von David Fincher, «The Equalizer 2» von Antoine Fuqua oder «Was uns nicht umbringt» von Sandra Nettelbeck für grossen Publikumsauflauf. Dazu gehört auch «L'ordre des médecins» von David Roux, der in unseren Kinos angelaufen ist.

Man war also gespannt, was die neue Festivaldirektorin Lili Hinstin zu bieten hat. Die Nachfolgerin von Carlo Chatrian, der dem Ruf an die Filmfestspiele Berlin gefolgt ist, referierte denn auch (zu) lang und breit über das Piazza-Programm 2019 an einer Pressekonferenz im Erlacherhof zu Bern. Das Ergebnis war eher mager. Bekannte Namen oder Titel, die bereits an anderen Festivals wie Berlin oder Cannes gelaufen sind, findet man so gut wie nicht, bis auf die Ausnahme Quentin Tarantino und «Once Upon a Time …in Hollywood». Die neue Leiterin riskiert viel, wenn sie ein Piazza-Programm anbietet, das vor allem Cineasten anspricht mit Filmen wie «Lettre à Freddy Buache» von Jean-Luc Godard (7. August), «Notre Dame» von Valérie Donzelli (11. August) oder «Diego Maradona» von Asif Kapadia (15. August).

Gastgeber und Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried hiess Festivalpräsident Marco Solari und Lili Hinstin bei dieser Gelegenheit willkommen. Er fühle sich Locarno sehr verbunden, meinte von Graffenried, sei doch Locarno die Cinema-Hauptstadt und Bern die politische Hauptstadt. Marco Solari freute sich wie ein Schneekönig über die frisch importierte Direktorin Hinstin. Seit 20 Jahren (!) führt Solari die Geschicke des Filmfestivals äusserst erfolgreich, unverwüstlich und optimistisch. Sein Ziel 2025: «Wir müssen bis dahin das sieben- oder achtwichtigste und erwähnenswerteste Filmfestival der Welt sein und bleiben. Wir dürfen nicht alt werden.»

Er beschreibt das Festival als «Mosaik mit vielen Bausteinen». Und das will die Französin Lili Hinstin umsetzen – auf ihre cinephile Weise. Sie verspricht ein Festival «Jenseits aller Norm». Zweitfilme auf der Piazza, also Streifen, die um Mitternacht aufgeführt werden, figurieren nun unter der Marke «Crazy Midnight». Hier findet sich auch der zweite Schweizer Piazza-Film (neben Godard) wieder: «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» von Natascha Beller (11. August).

John Waters, der in Locarno als Ehrengast geehrt wird, ist am 16. August präsent mit seinem Werk «Cecil B. Demented» aus dem Jahr 2000, aber eben erst gegen Mitternacht. Warum kein Film Fredi M. Murers, der am 15. August für sein Lebenswerk mit einem Leoparden ausgezeichnet wird, auf der Piazza zu sehen ist, bleibt ein Geheimnis der Direktorin. Murer hatte 1985 immerhin mit «Höhenfeuer» den Goldenen Leoparden gewonnen! Natürlich sind Filme des Innerschweizers auch in Locarno 2019 zu sehen, freilich in verschiedenen Kinos: «Der grüne Berg», «Grauzone», «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» und «Höhenfeuer».

Mit Schweizer Filmen, gewinnt man den Eindruck, hat die neue Leiterin nicht viel am Hut. Darauf angesprochen, meinte sie: «Es sollen qualitative Kriterien zählen, keine diplomatische.» Das war nicht sehr diplomatisch, aber deutlich. Schweizer Filme haben in Locarno keinen Heimvorteil. Im Wettbewerb fanden nur zwei Schweizer Produktionen die Gnade der Auswahlkommission, die 17 Filme nominierte. «O Film do Mundo» stammt von Basil Da Cunha und wird als Schweizer Produktion taxiert, «Bergmál» von Rúnar Rúnarsson ist eine Schweizer Koproduktion.

Gleichwohl sind am Lago Maggiore Schweizer Premieren gesichert. Im zweitwichtigen Wettbewerb «Cineasti del presente» (16 Filme) ist «L'Ile aux Oiseaux» von Maya Kosa und Sergio da Costa sowie «Love Me Tender» von Klaudia Reynicke zu sehen. Ausserhalb der Wettbewerbe feiert Samirs Spielfilm «Baghdad in My Shadow» Weltpremiere (10., 11. und 12. August). In diesem Zusammenhang ist auch der Spielfilm «Wir Eltern» von Eric Bergkraut und Ruth Schweikert zu erwähnen.

Im Rahmen des Filmfestivals hat der Schweizer Film im «Panorama Suisse» einen sicheren Platz, organisiert vom Festival, Swiss Films und den Solothurner Filmtage. Zehn Filme werden aufgeführt – bekannte wie auch unbekanntere: «Madame», «Wo gehöre ich hin?», «Baracoa», «Immer und ewig», «Architektur der Unendlichkeit», «Gateways to New York» oder die Spielfilme «Cronofobia», «Der Unschuldige», «Zwingli» und «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse».

Ein sicherer Wert ist alljährlich die Auswahl der Filmkritiker, «Semaine de la Critique», die nun die 30. Ausgabe präsentiert. Sieben ausserordentliche Dokumentarfilme wurden ausgewählt, u.a. die schweizerisch-deutsche Produktion «Another Reality» und der Schweizer Film «Shalom Allah» (Weltpremiere).

Filmfestival Locarno bedeutet auch Preisregen. Hier seien nur die wichtigsten erwähnt: Premio Raimondo Rezzonico an Komplizen Film (8. August), Leopard Club Award an Hilary Swank (9. August), Pardo alla carriere an Fredi M. Murer (15. August), Pardo d'onore an John Waters (16. August) und der Vision Award Ticinomoda für Filmschaffende «im Schatten, der Preis, der erstmals einer Frau zugedacht wird: der Cutterin Claire Atherton.

Ein besonderes Anliegen sei ihr die Jugend, manifestierte Lili Hinsin. Dazu wurde extra ein BaseCamp in Losone installiert, wo 230 Jugendliche kostenlos teilnehmen können. Die Sektionen Pardi domani (Concorso internazionale und nazionale) gehören seit Jahren zum festen Festivalbestand. Wie auch die Retrospektive, von der Direktorin etwas links liegen gelassen. Diese steht in diesem Jahr unter dem Motto «Black Light» und widmet sich Filmen, welche sich mit Minderheiten in der Gegenwart befassen wie beispielsweise «Rue Cases-Négres» von Euzhan Palcy.

Die Sektion «Signs of Life», die dem experimentiellen Film ein Forum gab, heisst jetzt «Moving Ahead» (16 Filme). Gezeigt werden u.a. Werke wie «Color-Blind» (Frankreich/Deutschland) von Ben Russell, «Kasitewrit» (Indonesien) von Riar Rizaldi oder «In Memoriam» Frankreich) von Jean-Claude Rousseau.

Nebenschauplätze (ausserhalb der Spielstätten) sind verschiedene Talk-Foren, beispielsweise im Spazio Cinema (beim Fevi) vom 15. bis 17. August um 11 Uhr. Persönlichkeiten (Maya Rochat und Michel Comte, Barbara Treutlein und Daniel J. Müller, Arthur Jafa) aus Kunst und Wissenschaften werden diskutieren. Für die Locarno-Kampagne der Mobiliar, Hauptpartner des Festivals, hat der Fotograph und Filmer Peter Lindbergh acht Kulturschaffende porträtiert. Der Dokumentarfilm «Peter Lindbergh – Women's Stories» startet übrigens am 8. August in unseren Kinos.

Locarno eröffnet sein Filmfestival mit der italienisch-französischen Komödie «Magari» von Ginevra Elkann. Sie erzählt von drei eng miteinander verbundenen Geschwistern – am Mittwoch, 7. August, um 21.30 Uhr auf der Piazza Grande (Weltpremiere). Locarno lädt zu Entdeckungen ein.


www.locarnofestival.ch


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Veröffentlicht Juli 2019