Die neue Direktorin Anita Hugi, in Grenchen geboren, in Biel aufgewachsen:,«Die Vielfalt des Schweizer Filmschaffens wird hier sichtbar, erfahrbar. Wir verstehen uns als Forum und Gastgeber, und ich sehe mich als Direktorin auch als Vermittlerin.»
Unten rechts: Eröffnungsfilm: «Moskau einfach!» mit Philippe Graber (Bild), Miriam Stein, Mike Müller. Die Schweiz spioniert seinen Bürgern und Bürgerinnen nach. (Tim Fischer, filmtage)


Vorschau – 55. Solothurner Filmtage 2020

Evolution statt Revolution

Alljährlich im Januar lädt Solothurn zum Treffen der Film- und Fernsehbranche, der Filmschaffenden und Filminteressierten. An den 55. Solothurner Filmtage (22. bis 29. Januar 2020) werden annähernd 180 aktuelle Schweizer Filme aufgeführt. Den Auftakt macht Micha Lewinskys Spielfilm «Moskau Einfach!» am 22. Januar. Der Filmer befasst sich mit der sogenannten Fichen-Affäre in den Achtzigerjahren, wo die staatlichen Überwachungspraktiken ans Licht kamen. Ein Film, der Sittenbild, Politsatire und Geschichtslektion zu sein verspricht und ein Thema behandelt, das uns heute erst recht betrifft.

Im Panorama des Schweizer Films spiegeln sich Trends, Bedürfnisse, aktuelle und historische Probleme. Das Spezialprogramm Fokus widmet sich dem Thema «Im Bann der Serien» und die Retrospektive der Filmschaffenden Heidi Specogna. Natürlich werden wieder Preise verliehen, allen voran der Prix de Soleure, dotiert mit 60 000 Franken, und Prix du Public (20 000 Franken). Es werden wie 2019 wieder um die 60 000 Besucher oder mehr erwartet. Mehr im Nachtrag über Programm und Fakten.

Die Schweizerische Gesellschaft Solothurner Filmtage (SGSF) wählte sie zur neuen Direktorin, die ihr Amt am 1. August 2019 antrat. Sie ist damit die zweite Frau, welche die Filmtage leitet – nach Seraina Rohrer (2011–2019). Auf Gründer Stephan Portmann (1967–1987) folgte Ivo Kummer (1987–2011).

Anita Hugi, 1975 in Grenchen geboren (Sternzeichen: Löwe) und in Biel aufgewachsen, kann einen breiten Leistungsausweis vorweisen – als Journalistin, Filmerin und Produzentin, Fernsehredaktorin («Sternstunde Kunst», 2015–2016) und Programmdirektorin des Festivals International du Film sur l'Art (Fifa) in Montreal (2016–2018).

Wir sprachen mit Anita Hugi, der neuen Direktorin der Filmtage, über Intensionen, Ambitionen und Themen.

Anita Hugi, Sie haben im August 2019 die Leitung der Solothurner Filmtage übernommen. Was reizt Sie an dieser Aufgabe?
Anita Hugi: Solothurn ist der zentrale Ort des Schweizer Films, quasi der Geburtsort des Schweizer Filmschaffens wie wir es heute kennen. In Solothurn kommt alles zusammen. Hier kann man die Kreation des Filmemachens erleben, es werden aber auch seit 1966 klare Forderungen zur Filmförderung und kulturpolitische Fragen zur Diskussion gestellt. Der Schweizer Film zeigt sich in all seinen Facetten. Man begegnet der Schweiz – durch den Film und im Gespräch. Solothurn ist ein zentraler Punkt des Austausches. Film- und Rahmenprogramm sind sehr vielseitig. Eine Premiere bieten wir im Industrieareal Attisholz. Hier wird dieses Jahr Upcoming Award für die besten Nachwuchsfilme («Talents») verlieren und findet an den 55. Solothurner Filmtagen erstmals eine gemeinsame Party der Schweizer Filmschulen statt.

Sie können auf ein erfahrenes Team zurückgreifen. Wie sind Sie vorgegangen, welche Ambitionen haben Sie?
Ich habe meine Aufmerksamkeit zu allererst auf das Programm der Filmtage 2020 gerichtet – es mir blieben ja nur wenige Monate. Ich wollte zweitens die Geschichte und die Strukturen der Filmtage von innen kennenlernen, die Abläufe verstehen. Die Filmtage haben ja eine riesige Tradition. Ich wollte nicht alles umkrempeln. In einer ersten Ausgabe setzte ich Akzente setzen, bleibe in der Kontinuität. Also nicht Stop and Go, sondern Evolution statt Revolution.

Kommen Ihnen die Erfahrungen von Montreal zugute und wenn wie?
Das Filmfestival von Montreal hat ebenfalls eine grosse Tradition und ein Stammpublikum. Für mich heisst das: Tradition bewahren und Zukunft gestalten. Erneuerung geschieht – so hat es der Künstler Dieter Roth schön gesagt – an den Rändern. Deshalb wird das Stammpublikum in Solothurn wieder das finden, was es hier liebt. Und ich versuche gleichzeitig, das Bisherige zu stimulieren und ein zusätzliches Publikum anzusprechen.

Sie haben über Jahre die «Sternstunden Kunst» beim Schweizer Fernsehen geprägt. Was bringen Sie mit von dieser Tätigkeit?
Ich hatte und habe die ganze Schweiz im Blick. Das heisst Kontinuität, Ansporn, Verstehen der Themen und Anliegen der Filmschaffenden, Anstossen von Produktionen. Das sollte man nicht vergessen: Das Schweizer Fernsehen engagiert sich für unabhängiges Filmschaffen und fördert freies Filmschaffen.

Sie waren oder sind Mitglied des Verbandes Freier Berufsjournalistinnen und Berufsjournalisten Zürich. Man hört nicht mehr viel von dieser Vereinigung.
Er wurde in Sechzigerjahren. Insbesondere von – den ersten – Journalistinnen gegründet, die Mitglieder sind älter geworden. Der Verein hatte den kollegialen Austausch zum primären Ziel. Der FBZ befindet sich quasi im Winterschlaf.

Sie waren als Produzentin und Regisseurin tätig, etwa bei der «Roten Hanna» oder «Dad Data». Nun haben sie eine andere Funktion übernommen, wie würden Sie sie umschreiben?
Wir haben aus mehr als 600 aktuellen Schweizer Filmen ausgewählt und zeigen in Solothurn 178. Ich möchte Sichtbarkeit vermitteln, Solothurn ist ja Festival und Werkschau zugleich. Zu den neuen Schweizer Filmen kommen die Spezialprogramme wie die Rencontre und die filmhistorischen Programme dazu. Die Vielfalt des Schweizer Filmschaffens wird hier sichtbar, erfahrbar. Wir verstehen uns als Forum und Gastgeber, und ich sehe mich als Direktorin auch als Vermittlerin.

Mit welchem Ziel?
Ich möchte verstärkt auch junge Leute ansprechen und ihnen die Magie des Kinos nahenbringen. Solothurn ist für mich zweitens ein Ort des gemeinsamen Nachdenkens – über Film und mittels des Films über gesellschaftliche Fragen. Es zeigt sich, dass ein neues Bewusstsein für Umweltfragen und geopolitische Zusammenhänge angebrochen ist. Anstatt zu reden, handeln wie etwa gegen den Klimawandel. Das schlägt sich auch in zahlreichen Filmen nieder über Umweltschutz und Flüchtlingsfragen.

Gibt es auch Licht am Horizont?
Trotz allem Leid in den Flüchtlingsfragen gibt es auch positive Entwicklungen. Etwa dass sich beim Versagen der Staaten die Einzelnen, das Individuum engagiert. Positives gibt es auch bei der Genderentwicklung. Und das Filmschaffen von Frauen nimmt zu, bei den Kurzfilmen bis zu 59 Minuten Dauer. haben wir gleich viele Werke von Regisseuren und Regisseurinnen im Programm.

Wenn Sie Wünsche für 2020 frei hätten, was wären die?
In Sachen Klimawandel oder Flüchtling sollte das individuelle Engagement endlich auch ein stärkeres Echo in der Öffentlichkeit finden und gesellschaftspolitische Wirkungen zeigen – die Filmschaffenden haben ihren Teil dazu beigetragen. Jeder Film kann als Anstoss zum Überdenken angestammter Meinungen wirken. Meine allgemeine Devise: Lieber Machen als Wünschen! Wenn es ums Wünschen geht, dann würde ich sagen: Ich wünsche mir mehr Solidarität – und natürlich, dass die Menschen in Solothurn eine tolle Zeit erleben.


Solothurn 2020 – Fakten und Filme
Eintritte 2019: 64 971

55. Solothurner Filmtage 22. bis 29. Januar 2020
Budget 3,339 Millionen Franken
178 Filme
Eröffnung am 22. Januar mit Bundesrat Alain Berset.
17.30 Uhr Reithalle: «Moskau einfach!» von Micha Lewinsky

Prix de Soleure (60 000 Franken): 12 Dokumentar- und Spielfilme
u.a. «Jagdzeit», Spielfilm über Firmenmachtkampf von Sabine Boss, «Al-Shafaq», Spielfilm über die Verluste junger Männer im «Heiligen Krieg» von Esen Isik, «Volunteer», Dok über freiwillige Helfer in Griechenland von Anna Thommen und Lorenz Nufer, «Wer sind wir?», Dok über Jugendlich mit starkem Handicap von Edgar Hagen, «Where We Belong», Dok über Trennungskinder von Jacqueline Zünd.

Prix du Public (20 000 Franken): 12 Filme
u.a. «Baghdad in My Shadow» von Samir, «Bruno Manser – Die Stimme des Regenwaldes» von Niklaus Hilber, «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» von Natascha Beller, «Les particules» von Blaise Harrison, «Moskau Einfach!» von Micha Lewinsky, «Contradict» von Peter Guyer und Thomas Burkhalter, «Madame» von Stéphane Riethauser, «Tambour battant» von François-Christophe Marzal.

Panorama/Dokumentarfilme: 54 Filme
u.a. «Das Forum» von Marcus Vetter, «Das letzte Buch» von Anne-Marie Haller, «Der Bär in mir» von Roman Draux, «Der nackte König – 18 Fragmente über Revolution» von Andreas Hoessli, «Die Chefinnen» von Belinda Sallin, «Die Rückkehr der Wölfe» von Thomas Harat, «Fliancées» von Julia Büntner, «Golden Age» von Beat Oswald, «Irma Ineichen – Erinnerungen an Paris 1951-1955» von Tobias Ineichen, «Paul Nizon – Der Nagel im Kopf» von Christoph Kühn, «Shalom Allah» von David Vogel, «The Song of Mary Blane» von Bruno Moll.

Panorama/Spielfilme: 15 Filme
u.a. «Aus dem Schatten – Eine Zeit der Hoffnung» von Marcel Gisler, «La Gomera» von Corneliu Porumboiu, «Les hiradelles de Kaboul», Trickfilm Zabou Breitman und Eléa Gabbé-Mévellec, «The Harvesters» von Etienne Katles, «Wir Eltern» von Eric Bergkraut.

Familienfilm: «Die drei(!)», Kurz- (12) und Trickfilme/Wettbewerb (11), Upcoming/Talents (22).

Fokus: Schweizer und Internationale Serien u.a. «Bulle» (Episoden 1 und 2), «Helvetica» (Episoden 1 bis 3), «Nr. 47» (Staffel 4, Episoden 1 bis 5), «Wilder» (Staffel 2, Episoden 4 und 5)

Recontre: Heidi Specogna, 11 lange und 5 Kurzfilme

Histoires du cinéma suisse: u.a. «Le chemin perdu» (1979), «Zanzibar» (1989), «Anna Göldin» (1991), digital restaurierte Fassung (Edition filmo)
ilber, hilber

Hommages: «Res Balzli – Step Across the Border» (1990), «Bruno Ganz – Messer im Kopf» (1978), «Claude Goretta – Pas si méchant que ça» (1975).


Ticketing: Ab sofort www.solothurnerfilmtage.ch/tickets
Reservationen können jeweils am Vortag der Vorstellung getätigt werden.

Infos: www.solothurnerfilmtage.ch


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Veröffentlicht Januar 2020