Und dieser Methode bist du treu geblieben...Ich wollte ursprünglich Cartoonist oder Illustrator werden, bin aber auf Umwegen schliesslich beim Film gelandet. Aber ich habe alle meine Filme immer zuerst gezeichnet – als Storyboard. Weil die Sprache und das bildnerische Denken in verschiedenen Hirnregionen zu Hause sind, haben die beiden Sichtweisen bei mir immer eine ergänzende Rolle gespielt.
Es soll eine Ausstellung mit deinen Zeichnungen in Locarno geben. Was hat es damit auf sich?Es sind nur zwölf Zeichnungen von etwa hundert, die ich vor zwei Jahren für eine szenische Lesung im Zürcher Theater Rigiblick angefertigt habe - nach der Erzählung «Die Heilige» von Gabriel Garcia Márquez. Sie wurden als ein visuelles Element der Inszenierung auf eine grosse Leinwand projiziert. Als die Festivaldirektorin Lili Hinstin mich in meinem Atelier besuchte, hat sie meine Zeichnungen gesehen. Das müsse man unbedingt ausstellen, meinte sie. Nun werden die Illustrationen im Festivalzentrum Palacinema zu sehen sein.
Du machst immer noch einen aktiven, tätigen Eindruck. Wohin fliesst deine schöpferische Kraft?Ich war leider immer ein Sammler statt ein Jäger. Im Moment bin ich damit beschäftigt, mein riesiges Archiv mit Materialien zu meinen Filmen, Erzählungen, Drehbücher, Zeichnungen, diversen Reden und Laudationen beispielswiese für Markus Imhoof, Peter Liechti oder Bruno Ganz zu archivieren und zu ordnen. Inzwischen habe ich praktisch alle meine Filme digitalisiert, damit sie sichtbar bleiben.
Du arbeitest also am eigenen Vermächtnis. Sozusagen.
Und nun einen Leoparden für dein Lebenswerk. Ich hätte mir gewünscht, dass dein Film «Höhenfeuer», der Locarno-Gewinner von 1985, auf der Piazza Grande aufgeführt wird. War davon nicht die Rede?Nebst «Höhenfeuer» werden übrigens noch drei weitere Filme von mir gezeigt. Die Programmierung ist natürlich Sache des Festivals.
Die Öffentlichkeit nimmt dich wieder in Beschlag dank des Ehren-Leoparden. Wie ist die Gefühlslage, die Erwartung, die Freude oder Skepsis?Etwas ambivalent. Eigentlich habe ich mit 75 einen harten Schnitt gemacht und mich aus der Filmszene – ohne Groll – verabschiedet. Ich wollte die noch verbleibende Zeit für mich und meine Drei-Generationen-Familie haben. Natürlich weiss ich es sehr zu schätzen, neben Harry Belafonte, Francesco Rosi, Claude Goretta, Bulle Ogier oder Bruno Ganz einen Ehren-Leopard zu bekommen. Es freut mich, auch weil Locarno so etwas wie eine zweite Heimat für mich war.
«Höhenfeuer» wurde in Locarno 1985 zum besten Film erkoren. Welche Erinnerungen hast du an diese Momente?Es war so totenstill während der Aufführung in der Fevi, und ich dachte, die schlafen alle, die 3000 Besucher. Und am Schluss ging so ein orkanartiger Applaus durch den Saal, dass ich für Sekunden irgendwie über dem Boden schwebte.
Preise können beflügeln, vielleicht auch belasten, wecken aber immer viel Aufmerksamkeit. Wie schätzt du jetzt den Leopard fürs Lebenswerk ein?Anerkennung durch Festivalpreise hat immer stimulierende Wirkung.
Sie sind auch eine Ermutigung, seine künftigen Projekte mit demselben Anspruch und Ehrgeiz voranzutreiben. Wissend, dass ein Film immer auch ein Produkt des Teamworks ist. Ein Dirigent ohne Orchester ist ein ziemlich einsamer Mensch. Auch bei «Höhenfeuer» hatte ich immer ein Wir- und nicht ein Ich-Gefühl. Erst die Summe aller kreativen Tätigkeiten am Set und in der Postproduktion macht ein Meisterwerk aus.
Dein Film «Grauzone» wird wiederaufgeführt. Ein visionäres Werk, das wie bei George Orwells «1984» über einen Überwachungsstaat von der Wirklichkeit überholt wurde. Ich habe «Grauzone» einen «fiktiven Dokumentarfilm» genannt, der die allgemeine Orientierungslosigkeit zehn Jahre nach 1968 und das zunehmend repressive Klima thematisierte. Indem die Hauptfigur des Films im Auftrag des Konzernchefs die gesamte Belegschaft systematisch bespitzelt, von der Lehrlingsabteilung bis zum obersten Kader, hatte mein Film sozusagen die Fichen-Affäre von 1989 vorweggenommen. Und der Widerstand formiert sich in meinem Film über «Radio Eisberg auf UKW 101» einem Piratenradio, bevor es in der Schweiz Piratenradios gab. Im Nachhinein sagte man «Grauzone» visionäre Qualitäten nach. Jedenfalls haben sich viele Achtundsechziger in diesem Film wiedererkannt.
Bist du noch Beobachter des Schweizer Films, des Schweizer Filmschaffens? Was bewegt dich, regt dich auf?Ich hatte im Laufe meiner aktiven 50 Filmerjahre eine Überdosis abbekommen, dass ich nur noch selten ins Kino gehe. Und zehn Jahre davon habe ich als Präsident des Filmgestalter-Verbandes und als Gründungspräsident der Schweizer Filmakademie meine altruistische Schuldigkeit getan. Jetzt gibt es den Schweizer Film auch ohne mich und mich auch ohne den Schweizer Film.
MURER-FILME BEI FILMINGODie Schweizer Streaming-Plattform filmingo präsentiert Filme online, darunter neben
«Höhenfeuer» (1985) auch den Ur-Bergfilm
«Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974),
«Grauzone» (1979) oder
«Vitus» (2006). Daneben empfiehlt Fredi Murer in der Kategorie
«Director's Choice» seine Lieblingsfilme bei filmingo zum Wiederschauen oder Neuentdecken.
Als Schweizer Arthouse-VoD-Plattform bietet filmingo.ch seit März 2019 sorgsam ausgewähltes unabhängiges Filmschaffen im Streaming. Bereits über 400 Filme aus allen Regionen der Welt stehen zum Anschauen in Einzelmiete oder im Abonnement bereit und werden im Wochenrhythmus durch weitere Titel ergänzt. Die Plattform wird durch die Stiftung trigon-film betrieben.
www.filmingo.ch BUCHTIPPS/DVDBarbara Zürcher, Juri Steiner:
«Fredi M. Murer als Zeichner», Edition Stephan Witschi, 2010, 70 Franken; bei ex libris 56 Franken
Fredi M. Murer
«Höhenfeuer. Ein Werkstattbuch», Baumann & Stromer, Zürich 1986 (Antiquariate)
«Fredi M. Murer – Die Berg-Trilogie» ( 3 DVDs: Wir Bergler…, Der grüne Berg, Höhenfeuer), Fr. 44.90
«Vitus» mit Bruno Ganz, Teo Gheorghiu, DVD Fr. 13.90, ex libris
FREDI MURER IN LOCARNO«Der grüne Berg» (1990) am 13. August im Palacinema um 14.30 Uhr
«Höhenfeuer» (1985) am 14. August im Palavideo um 14.00 Uhr
«Grauzone» (1979) am 15. August im Palacinema um 16.15 Uhr
«Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974) am 16. August im Grand Rex um 16.00 Uhr
Gespräch mit dem Publikum am 16. August im Kino Spazio um 13.30 Uhr
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Veröffentlicht August 2019