In seinem Refugium arbeitet Fredi M. Murer an seinem Vermächtnis. «Jetzt gibt es den Schweizer Film auch ohne mich und mich auch ohne den Schweizer Film.» (Bild: rbr)


Locarno 2019: Leopard für sein Lebenswerk

Die Summe aller
kreativen Tätigkeiten:
Fredi M. Murer,
der visionäre Poet

Er hat über 50 Jahre das Schweizer Filmschaffen mitgeprägt – von «Chicorée» (1966) über «Grauzone» (1979) und «Höhenfeuer» (1985) bis «Vitus» (2006) und «Liebe und Zufall» (2014). Der Innerschweizer Fredi M(elchior) Murer (79) wird am Filmfestival Locarno mit einem Leoparden für sein Lebenswerk (Pardo alla carriera) geehrt.

«Seine Poesie stand immer im Dienste des politischen und zivilen Engagements und betrachtete die Welt – insbesondere die Schweiz – mit anderen Augen», lobte das Filmfestival Locarno anlässlich der Ankündigung des Pardo alla carriera 2019. Vor 40 Jahren hatte Fredi M. Murer seine erste Locarneser Premiere mit «Grauzone», und 1990 stellte der Filmer seinen Dokumentarfilm «Der grüne Berg» im Rahmen der ersten Ausgabe der Semaine de la critique vor, die heuer ihr 30-Jahr-Jubiläum feiert. Fredi M. Murer, der poetische Visionär, 1940 in Beckenried geboren, in Altdorf aufgewachsen und in Zürich heimisch geworden, hat sich ein Refugium in der Zürcher Altstadt («Dörfli») geschaffen: Ein «Einsiedler» inmitten seiner Werke und Visionen. Wir trafen uns zu einem mehrstündigen Gespräch über Filme gestern und heute, Filmstoffe und Verwirklichungen, Erwartungen, Errungenschaften und Ehrungen.

Mit 75 Jahren hast du dich vom Filmschaffen radikal zurückgezogen. Was gab den Anstoss: dein Alter, eine gewisse Müdigkeit oder…?
Fredi M. Murer: Es gibt viele Gründe, weswegen ich aufgehört habe, Filme zu machen. Schon nach «Vitus» wollte ich mit der Filmerei Schluss machen, um mich wieder meinen anderen künstlerischen Neigungen wie Zeichnen und Schreiben usw. zuzuwenden, doch dann kam ein weiteres Projekt dazu…

Und das hing mit deiner Mutter zusammen…?
Ja, meine Mutter hatte mir anlässlich ihres 90. Geburtstags fünf dicke Ordner übergeben und gesagt: Fredl, du solltest gescheiter mal einen Roman von mir verfilmen, dann würden die Leute wenigstens drauskommen. Da habe ich erst realisiert, dass wir eine Schriftstellerin als Mutter haben. Sie war nicht nur Mutter von sechs Kindern, sondern auch eine grosse Leserin und Couturière mit breiter Kundschaft rund um den Vierwaldstättersee. Meine Mutter war überaus neugierig, hat genau hingehört, wenn die vornehmen Damen über ihre Leben, ihre Ehekrisen und Einsamkeit sprachen. Kaum wieder zu Hause hat meine Mutter diese «Geständnisse» säuberlich notiert. Später, nach ihrem 70. hat sie aufgrund dieser Notizen vier Romane verfasst. Der fünfte Roman war autobiographisch und schilderte ihre grosse Jugendliebe. Und dieses Buch wurde dann zur Vorlage für meinen letzten Film «Liebe und Zufall». Und somit wurde der letzte Wunsch meiner Mutter erfüllt.

Und dann war Schluss mit Filmen. Warum?
Ich habe gemerkt, ich komme aus der analogen Zeit. In den Sechziger-, Siebziger- oder Achtzigerjahren besass das Filmemachen eine gewisse Exklusivität. Die Filmemacher waren zu dieser Zeit eine grosse Familie und kleine Minderheit. In dieser Zeit war das Wort «Film» auch ein Synonym für Links. Es gab keine Ausbildung, es hiess Learning by Doing. Wir haben uns gegenseitig weitergebracht, der Imhoof, Dindo und Lyssy usw. Die Digitalisierung und Akademisierung, die grassierende Workshop-Kultur, das theoretische Pseudowissen und die Systematisierungen von Drehbüchern sind meiner anarchischen Künstlerseele zuwider gelaufen. Das hatte auch zur Folge, dass in all den Jurys und Gremien, wo Filmgelder verteilt werden, zunehmend solche Workshop-Abgänger/innen sassen. Die wenigsten haben je an einem Set gestanden und kannten das Metier nur vom Hörensagen. Ich musste mir teilweise bei den Anhörungen Dinge sagen lassen, die einem Filmgrossvater nicht mehr zumutbar waren. Es war Zeit, Abschied zu nehmen – mit 75.

Die Zeit ist anders geworden, das Filmen, das Organisieren, Realisieren…
Das Medium Film war seit jeher ein Zeitgeistmedium, der Zeitgeist hat sich extrem verändert wie auch die Technologie. Das Filmen hat seine Exklusivität verloren und wurde zu einer Art Volkssport. In den Achtzigerjahren waren wir im Filmemacherverband, der Association suisse des scénaristes et réalisateurs de films, von den Welschen gegründet, 50 Mitglieder schweizweit, jetzt sind es 300. Überspitzt gesagt, es gibt bald mehr Schweizer Filme, als Zuschauer. «Höhenfeuer» hatte 250 000 Zuschauer und «Vitus» 280 000, jetzt ist man schon glücklich, wenn ein Spielfilm 10 000 Zuschauer hat. Auch ich musste zur Kenntnis nehmen, dass mein Publikum mit mir gealtert ist, zu Hause oder im Altersheim darauf wartet, bis meine Filme um 23 Uhr auf SRF laufen.

Das Filmen ist mühsamer, bürokratischer, aufwendiger in verschiedener Hinsicht geworden…
Je mehr Geld im Spiel ist, desto grösser ist der Einfluss der Geldgeber und Produktionsfirmen geworden. Damals waren die Jurys im BAK nicht Filmexperten, sondern Filmliebhaber. Aufgrund einer 15-seitigen Erzählung habe ich Geld für «Höhenfeuer» gekriegt – mit der Bedingung, vor Drehbeginn ein Drehbuch abzuliefern. Heute unvorstellbar. Dieses Vertrauen hat den eigenen Mut gestärkt. Heute müssen 100-seitige Dossiers mit Verleihgarantien, dramaturgischen Gutachten, Finanzierungsnachweisen und und und abgeliefert werden, die mehr Energie und Zeit kosten, als ein Drehbuch zu schreiben. Das bevorzugt den Produzentenfilm und killt den Autorenfilm.

Du bist vom Zeichnen auf den Film gekommen? Was steckte dahinter?
Ich war in der Schulzeit Linkshänder und hochgradiger Legastheniker. Rechtshändig schreiben, kombiniert mit meinem «Defekt» führte dazu, dass ich mit Schreiben Mühe hatte und ich dazu noch wahnsinnig viele Fehler machte. Dennoch habe ich immer die längsten Aufsätze geschrieben, aber die kamen zurück als rote Schlachtfelder: mit 99 Fehlern, 77 Fehlern und so. Beim Zahnarzt habe ich erstmals ein Comicbuch gesehen: «Les aventures de Tintin», bekannt als «Tim und Struppi». Das war für mich eine Offenbarung, dass man mit Bildern Geschichten erzählen kann. So habe ich das nächste Mal mein Aufsatzheft vollgezeichnet und bekam mit zwölf Jahren zum ersten Mal Applaus von meinen Mitschülern und sogar vom Lehrer. Seither bin ich allem Geschriebenem soweit als möglich ausgewichen.


«E la nave va», Zeichnung von Fredi M. Murer, 2017


Und dieser Methode bist du treu geblieben...
Ich wollte ursprünglich Cartoonist oder Illustrator werden, bin aber auf Umwegen schliesslich beim Film gelandet. Aber ich habe alle meine Filme immer zuerst gezeichnet – als Storyboard. Weil die Sprache und das bildnerische Denken in verschiedenen Hirnregionen zu Hause sind, haben die beiden Sichtweisen bei mir immer eine ergänzende Rolle gespielt.

Es soll eine Ausstellung mit deinen Zeichnungen in Locarno geben. Was hat es damit auf sich?
Es sind nur zwölf Zeichnungen von etwa hundert, die ich vor zwei Jahren für eine szenische Lesung im Zürcher Theater Rigiblick angefertigt habe - nach der Erzählung «Die Heilige» von Gabriel Garcia Márquez. Sie wurden als ein visuelles Element der Inszenierung auf eine grosse Leinwand projiziert. Als die Festivaldirektorin Lili Hinstin mich in meinem Atelier besuchte, hat sie meine Zeichnungen gesehen. Das müsse man unbedingt ausstellen, meinte sie. Nun werden die Illustrationen im Festivalzentrum Palacinema zu sehen sein.

Du machst immer noch einen aktiven, tätigen Eindruck. Wohin fliesst deine schöpferische Kraft?
Ich war leider immer ein Sammler statt ein Jäger. Im Moment bin ich damit beschäftigt, mein riesiges Archiv mit Materialien zu meinen Filmen, Erzählungen, Drehbücher, Zeichnungen, diversen Reden und Laudationen beispielswiese für Markus Imhoof, Peter Liechti oder Bruno Ganz zu archivieren und zu ordnen. Inzwischen habe ich praktisch alle meine Filme digitalisiert, damit sie sichtbar bleiben.

Du arbeitest also am eigenen Vermächtnis. Sozusagen.
 Und nun einen Leoparden für dein Lebenswerk. Ich hätte mir gewünscht, dass dein Film «Höhenfeuer», der Locarno-Gewinner von 1985, auf der Piazza Grande aufgeführt wird. War davon nicht die Rede?
Nebst «Höhenfeuer» werden übrigens noch drei weitere Filme von mir gezeigt. Die Programmierung ist natürlich Sache des Festivals.

Die Öffentlichkeit nimmt dich wieder in Beschlag dank des Ehren-Leoparden. Wie ist die Gefühlslage, die Erwartung, die Freude oder Skepsis?
Etwas ambivalent. Eigentlich habe ich mit 75 einen harten Schnitt gemacht und mich aus der Filmszene – ohne Groll – verabschiedet. Ich wollte die noch verbleibende Zeit für mich und meine Drei-Generationen-Familie haben. Natürlich weiss ich es sehr zu schätzen, neben Harry Belafonte, Francesco Rosi, Claude Goretta, Bulle Ogier oder Bruno Ganz einen Ehren-Leopard zu bekommen. Es freut mich, auch weil Locarno so etwas wie eine zweite Heimat für mich war.

«Höhenfeuer» wurde in Locarno 1985 zum besten Film erkoren. Welche Erinnerungen hast du an diese Momente?
Es war so totenstill während der Aufführung in der Fevi, und ich dachte, die schlafen alle, die 3000 Besucher. Und am Schluss ging so ein orkanartiger Applaus durch den Saal, dass ich für Sekunden irgendwie über dem Boden schwebte.

Preise können beflügeln, vielleicht auch belasten, wecken aber immer viel Aufmerksamkeit. Wie schätzt du jetzt den Leopard fürs Lebenswerk ein?
Anerkennung durch Festivalpreise hat immer stimulierende Wirkung.
Sie sind auch eine Ermutigung, seine künftigen Projekte mit demselben Anspruch und Ehrgeiz voranzutreiben. Wissend, dass ein Film immer auch ein Produkt des Teamworks ist. Ein Dirigent ohne Orchester ist ein ziemlich einsamer Mensch. Auch bei «Höhenfeuer» hatte ich immer ein Wir- und nicht ein Ich-Gefühl. Erst die Summe aller kreativen Tätigkeiten am Set und in der Postproduktion macht ein Meisterwerk aus.

Dein Film «Grauzone» wird wiederaufgeführt. Ein visionäres Werk, das wie bei George Orwells «1984» über einen Überwachungsstaat von der Wirklichkeit überholt wurde.
Ich habe «Grauzone» einen «fiktiven Dokumentarfilm» genannt, der die allgemeine Orientierungslosigkeit zehn Jahre nach 1968 und das zunehmend repressive Klima thematisierte. Indem die Hauptfigur des Films im Auftrag des Konzernchefs die gesamte Belegschaft systematisch bespitzelt, von der Lehrlingsabteilung bis zum obersten Kader, hatte mein Film sozusagen die Fichen-Affäre von 1989 vorweggenommen. Und der Widerstand formiert sich in meinem Film über «Radio Eisberg auf UKW 101» einem Piratenradio, bevor es in der Schweiz Piratenradios gab. Im Nachhinein sagte man «Grauzone» visionäre Qualitäten nach. Jedenfalls haben sich viele Achtundsechziger in diesem Film wiedererkannt.

Bist du noch Beobachter des Schweizer Films, des Schweizer Filmschaffens? Was bewegt dich, regt dich auf?
Ich hatte im Laufe meiner aktiven 50 Filmerjahre eine Überdosis abbekommen, dass ich nur noch selten ins Kino gehe. Und zehn Jahre davon habe ich als Präsident des Filmgestalter-Verbandes und als Gründungspräsident der Schweizer Filmakademie meine altruistische Schuldigkeit getan. Jetzt gibt es den Schweizer Film auch ohne mich und mich auch ohne den Schweizer Film.


MURER-FILME BEI FILMINGO
Die Schweizer Streaming-Plattform filmingo präsentiert Filme online, darunter neben «Höhenfeuer» (1985) auch den Ur-Bergfilm «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974), «Grauzone» (1979) oder «Vitus» (2006). Daneben empfiehlt Fredi Murer in der Kategorie «Director's Choice» seine Lieblingsfilme bei filmingo zum Wiederschauen oder Neuentdecken.
Als Schweizer Arthouse-VoD-Plattform bietet filmingo.ch seit März 2019 sorgsam ausgewähltes unabhängiges Filmschaffen im Streaming. Bereits über 400 Filme aus allen Regionen der Welt stehen zum Anschauen in Einzelmiete oder im Abonnement bereit und werden im Wochenrhythmus durch weitere Titel ergänzt. Die Plattform wird durch die Stiftung trigon-film betrieben.

www.filmingo.ch


BUCHTIPPS/DVD
Barbara Zürcher, Juri Steiner: «Fredi M. Murer als Zeichner», Edition Stephan Witschi, 2010, 70 Franken; bei ex libris 56 Franken
Fredi M. Murer «Höhenfeuer. Ein Werkstattbuch», Baumann & Stromer, Zürich 1986 (Antiquariate)
«Fredi M. Murer – Die Berg-Trilogie» ( 3 DVDs: Wir Bergler…, Der grüne Berg, Höhenfeuer), Fr. 44.90
«Vitus» mit Bruno Ganz, Teo Gheorghiu, DVD Fr. 13.90, ex libris


FREDI MURER IN LOCARNO
«Der grüne Berg» (1990) am 13. August im Palacinema um 14.30 Uhr
«Höhenfeuer» (1985) am 14. August im Palavideo um 14.00 Uhr
«Grauzone» (1979) am 15. August im Palacinema um 16.15 Uhr
«Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974) am 16. August im Grand Rex um 16.00 Uhr
Gespräch mit dem Publikum am 16. August im Kino Spazio um 13.30 Uhr


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Veröffentlicht August 2019