Locarno71 feiert (im Uhrzeigersinn): Véronique Reymond und Stéphanie Chuat präsentierten «Les Dames»; Präsident Marco Solari und Leiter Carlo Chatrian gratulierten sich gegenseitig; Yolande Zauberman errang den Spezialpreis der Jury für «M»; Ethan Hawke und Produzent John Foss waren glücklich, auf der Piazza-Grande «Blaze» zeigen zu können. (Locarno Filmfestival: Marco Abram (2), Samuel Goray, Massimo Pedrazzini)



Locarno Festival71 – Rückblick

Frauen an die Festival-Macht

Die Ära Carlo Chatrian ist in Locarno mit der zweifelhaften Sozialkomödie «I Feel Good» zuende gegangen. Ob das Festival Locarno wirklich so fühlt, wird sich weisen. Bis Ende August will Festivalpräsident Marco Solari bekannt geben, wer die Nachfolge des Turiners antreten wird.

Stürmische Zeiten in der Tessiner Festivalhauptstadt. Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian hat in seinen sechs Amtsjahren das Festival gefestigt und zuletzt auch ein grosses Publikum angelockt, zumindest auf der Piazza Grande, dem schönsten Freilichtkino Europas, wenn nicht gar der Welt. Bei der 71. Ausgabe (1. bis 11. August 2018) lagen die Publikumszahlen leicht unter denen vom Jubiläumsjahr 2017. Rund 155 000 Zuschauer und Zuschauerinnen, davon allein 61 000 auf der Piazza Grande, wurden gezählt. Locarno71 sei ein Publikumserfolg und eine reiche Ausgabe gewesen, meinte der Turiner, der nun in Berlin die künstlerische Festivalleitung übernimmt. «Die preisgekrönten Filme erzählen von einer Welt, in der noch immer der Mensch das Mass aller Dinge ist. Sie begeben sich dabei auf ästhetische Suche nach einer angemessenen Form für eine Realität, die sich rasch verändert und in der die Bilder allgegenwärtig sind.»

Auch das diesjährige Festival am Lago Maggiore war mit Preisen reich gesegnet, von 25 Preisen gingen 12 an Frauen. Ein ermutigendes Zeichen. Und einige Filme von Frauen und über Frauen setzten markante Punkte im breit gefächerten Programm. Es dürfte nicht wundern, wenn Locarno – ganz im Trend der Zeit – nun eine Leiterin als Nachfolgerin Chatrians präsentieren würde.

Carlo Chatrian hielt in diesem August sein Versprechen und bot zumeist leicht bekömmliche Kost auf der Piazza Grande, gespickt alten Juwelen («Liberty» mit Laurel & Hardy, 1929) und dem Action-Thriller «The Equalizer 2» (zurzeit auch in den Kinos). Denzel Washington lockte am 4. August satte 6900 Zuschauer auf die Piazza. Der Film vor dem Festivalbeginn, «Grease» mit John Travolta, brachte es auf 6800 Besucher – bei Gratiseintritten auf der Piazza Grande. Das Schweizer Biobauern-Drama «La vent tourne» von Bettina Oberli lockte immerhin 6200 Filmfreunde an. Qualitativ bester Piazza-Film war – aus Sicht des Betrachters – das Musikerporträt «Blaze» (5800 Besucher) von Ethan Hawke, der seinen Film selber vorstellen und gleichzeitig einen Ehren-Leoparden (Excellence Award) im Empfang nehmen konnte. Das Drama über den Country-Singer-Songwriter Blaze Foley aus Texas litt ebenso wie Oberlis Melodrama um zwei Männer, eine Frau und ein Windrad unter Wetterunbilden. Sie, die Regenmassen, setzten dem Publikum massiv zu und vertrieben viele von der Piazza. Amüsierte die Realgroteske «Les Beaux Esprits» um ein französisches, «behindertes» Basketball-Team an den Para-Olympics 2000 in Sydney, so war der französische Abschlussfilm auf der Piazza, «I Feel Good» eher ein gutgemeintes, aber peinlich-plattes Sozialplädoyer, das nur durch seinen dokumentarischen Hinweis am Schluss geniessbar wurde.

Wie alljährlich gab es in Locarno nachhaltige Begegnungen, Wiedersehen, Entdeckungen und Enttäuschungen. Eindrücklich war der Auftritt des Künstlers Christo, über den der Bulgare Andrey M . Paounov einen packenden, ungeschminkten Film gedreht hat: «Walking on Water» dokumentiert die Arbeit, Realisation, das Gelingen, die Probleme (mit Behörden und Zuschauermassen) und Rezeption des Christo-Projekts: «The Floating Piers» auf dem Lago l'Iseo in Italien war ein Kunstereignis, das eine Millionen Menschen anzog, die über die annähernd 4 Kilometer langen Stege spazierten. Ein grandioses Projekt, das Christo bereits vor 40 Jahren zusammen mit seiner Partnerin Jeanne-Claude geplant hatte. «Floating Piers»: Menschen konnten 2016 während 16 Tagen quasi auf Wasser laufen. Der Film legt Zeugnis ab vom gigantischen Unternehmen, von der Planung, der logistischen Herausforderung, aber auch von der Besessenheit des Künstlers, von seinen Visionen und der grossen Resonanz.
Den wohl längsten Filme der Festivalgeschichte hatte Chatrian in den Wettbewerb gehievt: «La Flor» des Argentiniers Mariano Llinàs. 13 Stunden (808 Minuten) Kino. Das sechsteilige Episoden-Epos, das sich mehr oder weniger um vier Frauen rankte, konnte einen reinziehen, aber auch verstören, langweilen oder ärgern. Die Filme blieben weitgehend – gewollt – unvollendet. Einige endeten abrupt. Verliefen im Leeren. Der Filmer spielte mit Genres, vor allem aber mit der Geduld des Zuschauers. Ein Kino-Kunstwerk? Ein Werk ja, insgesamt jedoch ein Fragment, das erst noch sein Publikum finden muss.

Der Schweizer Wettbewerbsbeitrag «Glaubenberg» vom Luzerner Thomas Imbach ist eine Enttäuschung. Imbach («Mary Queen of Scots»), verantwortlich für Regie, Buch, Kamera und Schnitt, schildert eine einseitige Geschwisterliebe, zäh, etwas träumerisch und simpel, vor allem aber blutleer und pseudo-tragisch – mit vager Glaubenberg-Kulisse in Obwalden und einem Abstecher in die Türkei.

Eine Provokation war hingegen der deutsche Wettbewerbsbeitrag «Wintermärchen» von Jan Bonny. Zwei Typen Maik und Tommi sowie Becky, eine rebellische Teenager-Göre ohne Ziel und Halt, suchen den totalen Kick. Sie versuchen sich als nihilistische Terroristen, killen, klauen, kiffen, zerstören aus purer Lust. Ein kaum erträglicher Brutalostreifen, auch weil er so bescheuert nichtssagend und sinnlos ist. Dieses «Märchen» ist ein Alptraum, eine Zumutung, ein Ärgernis. Den Internationalen Wettbewerb gewann wie im letzten Jahr wieder ein asiatischer Beitrag. Ob das vor allem am Jurypräsidenten, dem Chinesen Jia Zhang-ke, lag? Der Goldene Leopard ging an Ausbeutungsthriller «A Land Imagined» aus Singapur. Regisseur Siew Hua Yeo beschreibt einen Polizisten, der einen verschwundenen Bauarbeiter sucht. Ein verwickelter, sich verirrender Film zwischen Visionen und Wirklichkeit. Kein Fall fürs Kino, aber eben Festivals. Mit dem Silbernen Leoparden (Beste Regie) wurde die Chilenin Dominga Sotomayor mit ihrem Film «Tarde para moris joven» aus Chile belohnt. In diesem Drama geht es um junge Frau, die aus einer familiären Kommune ausbrechen will.

Frauen waren überhaupt markant vertreten, sei es als Filmerinnen wie in «M» von Yolande Zauberman (Spezialpreis der Jury) oder als Hauptfiguren wie in «Yara» vom Iraker Abbas Fahdel oder «Sibel» von Guillaume Giovanetti und Çağla Zencirci. Unter den Schweizer Filmen insgesamt, die in Locarno aufgeführt wurden, verdienen einige eine besondere Erwähnung: «Chris the Swiss» von Anja Kofmel (demnächst im Kino) und «Les Dames» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Kofmel ist den Spuren ihres Cousins gefolgt, der in den Neunzigerjahren vom Journalisten zum Söldner im Jugoslawien-Krieg wurde, und umkam. Ein sehr persönlicher Dokfilm mit eingestreuten düsteren Animationen der Zeichnerin Kofmel.

Auf die Piazza zurückgekehrt ist Denis Rabaglia («Azzurro») mit der Sozialkomödie «Un nemico che ti vuole bene – My Beloved Enemy»). Ein Professor rettet einem vermeintlichen Profikiller das Leben, und der will ihm als Dank einen gehassten Menschen aus dem Weg räumen. Kurios witzig und überraschend – mit einem Abstecher auch in die hehre Schweizer Bergwelt.

Beim Film «Les Dames» handelt es sich um Frauen im Alter von 60plus. Sie haben einen Teil ihres Lebens gelebt – verwitwet, geschieden, allein – und suchen neuen Sinn, neue Lebenslust, Kontakte und Liebe. Ein ehrlicher, lebensbejahender und liebenswürdiger Dokumentarfilm von Stéphanie Chuat und Vétonique Reymond, der Mut macht, ohne in Rosarot zu malen.

Ein anderer Dokumentarfilm setzte sich mit Frauen und Unterdrückung auseinander, mit dem Fokus auf Sexualität. Dabei spielen Religionen teilweise eine prägende Rolle, etwa bei der gesellschaftlichen Benachteiligung und Verteufelung femininer Sexualität. «#Female Pleasure» von Barbara Miller, in der Sektion Semaine de la critique aufgeführt und von über 900 Personen an zwei Aufführungen gesehen, ist ein Plädoyer für feminine Befreiung. Der aussagekräftige Film beschreibt fünf Frauen aus Europa, den USA (Brooklyn), Somalia, Indien und Japan und ihren Weg, ihre Brüche, Ausbrüche und Ambitionen. Eine imposante Aufklärung und ein eindrücklicher Apell – von einer Klosterfrau, von ihrem Pater sexuell ausgenutzt, die austritt, von einer Jüdin, die religiöse Fesseln sprengt, von einem Modell aus Somalia, das gegen Beschneidung kämpf, oder einer japanischen Provokateurin, die ihre Vagina zum Kunstobjekt macht.

Ein Rückblick auf die 71. Ausgabe des Filmfestivals Locarno darf nicht ohne einen Hinweis auf die Retrospektive enden, die Leo McCarey gewidmet war, dem «Schöpfer» von Dick und Doof (Laurel & Hardy), dem Regisseur von Filmen wie «The Milky Way» (mit Harold Lloyd, 1937) oder «An Affair to Remember» (mit Cary Grant und Deborah Kerr, 1957). Wer sich auf die letzten, 1928 produzierten Stummfilme mit Laurel & Hardy eingelassen hat, erlebte köstliche Slapstick-Momente. Humor mit einfachsten Mitteln entfacht. Das gibt es heute leider nicht mehr und ist dem Kino verloren gegangen. Heute sind Holzhammer-Gaudi, Suff und derbe Gags unter der Gürtellinie bei vielen Teenie-Komödien angesagt.

Man darf gespannt sein, was nach der «asiatischen» Ära Chatrians kommt– vier Asiaten gewannen unter seiner Leitung einen Goldenen Leoparden. Der Wind wird sich drehen, hoffentlich nicht so flau wie im Schweizer Bio-Bergdrama «Le vent tourne». Es wäre an der Zeit, dass eine Frau in Locarno das künstlerische Zepter in die Hand nimmt – natürlich unter gütige Solari-Präsidentschaft. Der Herr der Leoparden, soviel ist zur Zeit sicher, will bis zur 75. Ausgabe den Takt vorgeben, das Festival politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich steuern und sichern.

Das Locarno Festival72 findet vom 7. bis 17. August 2019 statt.
www.locarnofestival.ch


PREISE LOCARNO FESTIVAL71

Goldener Leopard (Internationaler Wettbewerb)
«A Land Images» von Yeo Soew, Hua, Singapur

Spezialpreis der Jury
«M» von Yolande Zauberman, Frankreich

Beste Regie
Dominga Sotomayor, Chile, für «Tarde para moris joven»

Beste Darstellerin
Andra Guti, Rumänien, für «Alice T.»

Bester Darsteller
KI Joobong, Honkong, für «Gangbyun Hotel»

Besondere Erwähnung
«Ray & Liz» von Richard Billingham, Grossbritannien

Goldener Leopard Cineasti del presente
«Chaos» von Sara Fttahi, Österreich

Preis für die beste Nachwuchsregie
«Dead Horse Nebula» von Tank Aktas, Türkei

Spezialpreis der Jury
«Closing Time» von Nicole Vögele, Schweiz/Deutschland

Signs of Life
Award für «Hai shang chng shi» von Zin Li, China

Pardi di domani, Nationaler Wettbewerb
Goldener Leopard: «D'un Chateau l'autre» von Emmanuel Marre, Belgien
Silberner Leopard: «Heart of Hunger» von Bernardo Zanotta, Niederlande

First Feature
Bester Debütfilm: «Alles ist gut» von Eva Trobisch, Deutschland

Prix du Public
«BlackKKlansman» von Spike Lee, USA

Variety Piazza Grande Award
«Le vent tourne» von Bettina Oberli, Schweiz

Preis der Ökumenischen Jury
«Sibel» von Guillaume Giovanetti und Çağla Zencirci, Frankreich, Türkei


Zurück


Veröffentlicht August 2018