Der Neustart 2021 nach den Corona-Einschränkungen war akzeptabel. Jetzt will Locarno wie in alten Zeiten powern und eröffnet mit dem Actionknaller «Bullet Train». Was bietet das Filmfestival am Lago Maggiore vom 3. bis 13. August 2022 noch? Über 200 Filme (rund 300 Aufführungen) in elf Sektionen und 14 Kinos sind angesagt. Unser ABC hilft weiter.
A wie Agenten. Das Stelldichein der Killer und Agenten im «Bullet Train» erweist sich als Knallbonbon, als würde nicht das 75. Filmfestivals Locarno eröffnet, sondern der 1. August mit einem Feuerwerk gefeiert. Und das alles in einem Superschnellzug, dem «Bullet Train» zwischen Tokio und Kyoto. Der smarte Haudegen Brad Pitt hält als Auftragskiller «Ladybug», dirigiert von einer ominösen Chefin (Sandra Bullock), seine Knochen hin, kommt aber mit ein paar Schrammen davon. Der Inhalt, hirnrissig wie in den meisten Actionspektakel, tut nichts zur Sache. Hauptsache die Schwarte kracht und die Richtigen triumphieren, selbst aus Mafiosi- oder Killer-Kreisen.
B wie Budget. Nach wie vor ist laut GV vom April ein Budget von 14,5 Millionen Franken für Filmfestival vorgesehen (wie schon 2021). Man geht von einem Defizit in diesem Jahr von knapp 900 000 Franken aus.
C wie Costa-Gavras. Sein bekanntestes Filmwerk ist wohl das Drama «Z», für das er 1969 den Oscar erhielt. Costa-Gavras (89) erhält am 11. August den Pardo alla Carriera für sein Lebenswerk. Der Meister des Politthrillers «filmte dort, wo es wehtat», schrieb der «Bund». Bedeutende Filme sind «L’Aveu» (1970, «Das Geständnis» - mit Yves Montand und Simone Signoret), «Hanna K» (1983), «Music Box» (1989, Die ganze Wahrheit - mit Armin Müller-Stahl und Jessica Lange) oder «Amen» (2002, Der Stellvertreter – mit Ulrich Tukur). In Locarno werden die Filme «Un homme de trop» (Ein Mann zuviel, 1966) und «Compartiment tueurs» (1965, Mord im Fahrpreis inbegriffen) aufgeführt.
D wie Douglas Sirk. Der grosse Regisseur, 1897 in Hamburg als Hans Detlef Sierck geboren, 1987 in Lugano gestorben, musste als erklärter Gegner der Nazis mit seiner jüdischen Frau aus Deutschland fliehen. Er machte in Hollywood Karriere und drehte 1959 seinen wohl erfolgreichsten Film «Imitation of Life» (Solange es Menschen gibt). In Locarno sind 13 Filme von ihm zu sehen – von «Zwei Windhunde» (1934) bis «Bourbon Street Blues» (1978), dazu RW Fassbinders «Angst essen Seele auf» (1974). Sirk, der Grossmeister des Melodrams, hatte grossen Einfluss auf Fassbinder.
E wie Ehrenpreis. In der Serie «Normal People» hatte die britische Schauspielerin auf sich aufmerksam gemacht. Nun brilliert Daisy Edgar-Jones in der Literaturverfilmung «Where the Crawdads Sing», die auf der Piazza Grande aufgeführt wird (5. August). Sie agiert als Kya, ein Mädchen, dann junge Frau, die in den Sümpfen Nord Carolinas auf sich allein gestellt aufwächst und teilweise böse Erfahrungen mit Männern macht. Ihr wird der Ehrenpreis 2022 des Leopard Club zuteil.
F wie Festivalzentrum. Locarno ist zersplittert. Gut, es gibt die Sopracenerina an der Piazza, sie ist die geschäftige Anlaufstelle für Akkreditierungen, Informationen z.B. über die Semaine de la Critique, vielleicht auch Treffpunkt für einen kurzen Austausch. Das PalaCinema beherbergt Kinos, Café und Restaurant. Die Begegnungen sind flüchtig, zufällig. Seit Grand-Hotel-Zeiten – die historische Stätte wurde 2005 geschlossen – gibt es kein vergleichbares Zentrum mehr für Filmerschaffende und Cineasten – eben danach. Nun soll das geschichtsträchtige Bauwerk – hier wurde das Filmfestival 1946 gegründet – restauriert und saniert werden und als 5-Sterne-Hotel neu erglänzen. Es ist von Investitionen von über 70 Millionen Franken die Rede (Eröffnung: 2025).
G wie Glockenschlag. Mit dem Glockenschlag um 21.30 Uhr wird das Filmereignis auf der Piazza Grande eingeläutet. Eine sonore Stimme stimmt auf das filmische Ereignis ein. Danach bevölkern Festivaldirektor Giona A. Nazzaro und seine Moderatorin die Bühne, stellen Ehrengäste, Stars, Filmer samt Equipe vor.
H wie Histoire. Auch Wiederaufführungen restaurierter Klassiker gehören zum Programm: In der Sektion Histoire(s) sind «Die letzten Heimposamenter» (1973) von Yves Yersin und Eduard Winiger sowie «The Written Face» (1995) von Daniel Schmid wiederzuentdecken.
I wie Informationen. Über Tickets und Pässe orientiert:
locarnofestival.ch. Der Festivalpass, nominell und nicht übertragbar, kostet 330 Franken (für Senioren 220 Franken, für Studenten 110 Franken), ein Pass für die Aufführungen auf der Piazza Grande kommt auf 250 Franken.
J wie Jubiläum. Das erste Projekt eines Internationalen Locarneser Filmfestival 1946 schien zum Scheitern verurteilt und scheiterte zuerst, weil die Bürgerschaft den Bau eines Theaters/Kinos ablehnte. Gleichwohl liessen die Initianten nicht ab von der Idee und installierten im Park des Grand Hotels eine Leinwand von 8 mal 7 Metern. Die Filme «Roma, offene Stadt» von Roberto Rossellini und «Iwan, der Schreckliche» von Sergej Eisenstein wurden aufgeführt. Ein Festival war das noch nicht, aber ein Anfang. So richtig los ging es 1947 unter den Direktoren Riccardo Bolla und Vinicio Beretta mit Filmen von Vittorio De Sica und John Ford. 1971 wurde die Piazza Grande einbezogen und avancierte zum grössten, schönsten Freilichtkino zumindest in Europa. So feiert das Festival in diesem Jahr sein 75-Jahr-Jubiläum, wobei nicht das Gründungsjahr, sondern die erste Festivalausgabe zugrunde liegt.
K wie Kelly. Und noch eine Frau, die neben Daisy Edgar-Jones mit einem Ehrenpreis am 12. August bedacht wird: die Amerikanerin Kelly Reichardt. Sie hatte mit dem Film «First Cow» das Festival 2019 eröffnet. «Wir nehmen das 75-jährige Jubiläum des Festivals nicht nur zum Anlass zurückzublicken, sondern auch, um uns die Zukunft vorzustellen. Die Entscheidung für eine Ehrung von Kelly Reichardt, ist ein Zeichen für ein zeitgenössisches Kino in vollem Aufschwung, und lässt uns nach vorne schauen und Vielfalt und Wandel begrüssen. Als Ausdruck der unerschöpflichen Fähigkeit des amerikanischen Kinos, sich neu zu erfinden, ist Kelly Reichardt vielleicht die aufregendste Filmemacherin der Gegenwart», begründet Festivaldirektor Giona A. Nazzaro den Pardo d’onore Manor. Zu sehen sind ihre Filme «Meek's Cutoff» (2010) und «Night Moves» (2013).
L wie Leitung. Er ist der Maestro des Festivals seit 22 Jahren, Kopf und Herz: Festivalpräsident Marco Solari (77), sogar älter als das Festival selbst. Er sah Direktoren kommen und gehen. Die letzte Direktorin harrte nur zwei Jahre (2018-20) aus, die Französin Lili Hinstin passte nicht nach Locarno. Nach dem Wegzug von Carlo Chatrian nach Berlin hat Giona A. Nazzaro (56) die künstlerische Leitung, also die Direktion in Locarno, 2020 übernommen. Operativer Leiter ist Raphaël Brunschwig (38).
M wie Marcel Marceau. «L’art du silence» heisst der Dokumentarfilm von Maurizius Staerkle Drux über den grandiosen Pantomimen Marcel Marceau, über den Künstler der sprachlosen Kunst, Poet der Stille und der Bewegung. Der Film ist in der Sektion Panorama Suisse zu sehen, organisiert von den Solothurner Filmtagen, der Schweizer Filmakademie und Swiss Films. Zur Auswahl gehören unter anderem die Filme «Olga» und «Und morgen seid ihr tot», die bereits in den Kinos liefen, der Dokumentarfilm «L’îlot«» und der Kurzfilm «Ala Kachuu», der für einen Oscar nominiert worden war.
N wie Nächte. Es gibt Nächte auf der Piazza Grande, die unvergesslich bleiben. Vierzig Jahre ist es her, dass die Brüder Paolo und Vittorio Taviani ihren Film «La notte di San Lorenzo» präsentierten. Es mögen 8000, 9000 oder mehr Zuschauer gewesen sein (der Autor war einer von ihnen), die gebannt verfolgten, wie italienische Dorfbewohner 1944 auf die Amerikaner hofften und der Deutschen Wehrmacht ausgesetzt waren. Eine magische Nacht, wo das Kino unterm Sternenzelt eine Sternstunde erlebte. Nicht von ungefähr war es der 10. August, der Tag des Heiligen Laurentius von Rom.
O wie Open Doors. Diese Sektion in Locarno ist seit 20 Jahren dem unabhängigen Filmschaffen vorbehalten. «Open Doors» ist offen für Zusammenarbeiten über Regionen und Länder hinaus, unterstützt kreative Talente und bietet ein Forum für freies innovatives Filmen. Aktuell liegt der Fokus auf Lateinamerika und der Karibik.
P wie Piazza Grande. Sie ist der Magnet, der magische Ort des Festivals. Sponsoren mit ihren Gästen haben ihren Auftritt (Marsch zu den bevorzugten Plätzen), Bundesräte, Prominente, Stars, Filmschaffende. Bis zu 8000 Filminteressierte strömen allabendlich auf die Piazza Grande im Herzen Locarnos. Hier wird das ganze Spektrum des Kinos abgedeckt – vom Actionknaller «Bullet Train» (3. August) und einer dramatischen Komödie wie «My Neighbor Adolf» (4, August) über das kriminelle Liebesdrama «Where the Crawdad Sing» (5. August) und dem Actiondrama «Paradise Highway» (6. August) bis zur schweizerisch-belgischen Koproduktion «Last Dance» (8. August), bis zum Schweizer Drama «Semret» (10. August), dem Terrordrama «Vous n’aurez pas ma haine» (12. August) und der Schweizer «Abrechnung» von André Schäfer: «Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit» (13. August).
Q wie Qualität. Wie erwähnt, das Spektrum ist reichhaltig, vor Fehlgriffen bzw. Fehlbesuchen ist man nicht gefeit. Nicht jeder Film in den Wettbewerben hat die Qualität, die man erwartet oder erhofft. Viele schaffen es nicht ins Kino. Die Qualität hat ihren Preis, und man sucht oft lange, bis man Kleinode entdeckt, begeistert und bewegt ist. Auch die Aufführungen auf der Piazza Grande sind kein Qualitätsgarant.
R wie Russland. Die Kriegsnation, die sich über alle Vereinbarungen und Vernunft hinweggesetzt und die Ukraine brutal überfallen hat, scheint weit weg und ist doch so nah – in Nachrichten, in Gesprächen. Das Festival ist gleichwohl stolz darauf, auch einen russischen Film zu präsentieren: «Skazka» (Fairy Tale) vom Putin-Kritiker Alexander Sokurov. Und der durfte prompt nicht ausreisen. Sein Film nimmt am Wettbewerb teil.
S wie Semaine de la critique. Ein sicherer Wert am Festival ist jeweils die Semaine de la Critique, die Filmkritikerwoche (5. bis 12. August 2022). Sieben Dokumentarfilme wurden von Filmkritikern ausgewählt, zum Beispiel «Armotonta Menoa – Hoivatyön Laulujac», eine finnische Musikdokumentation über Senioren, der Schweizer Beitrag «Die DNA der Würde» über Relikte des Balkankrieges oder «Das Hamlet-Syndrom» über einen Regisseur und seinen Theaterleuten aus der Ukraine.
T wie Talent. Im Wettbewerb Concorso Cineasti del presente sind immer Talente zu entdecken, die ihren ersten, zweiten Spielfilm realisiert haben. Da wäre beispielsweise der Film «Love Dog» von Bianca Lucas über Traumata und Trauerarbeit zu nennen. Die Tschechin Tereza Nvotová erzählt in «Svetlonoc - Nightsiren» von altem frauenfeindlichem Aberglauben und einer Frau, die sich wehrt. «Matadero» von Santiago Fillo ist ein Film über Argentinien in den Siebzigerjahren über Träumer und Besiegte. Insgesamt wurden 15 Filme programmiert.
U wie Ukraine. Ein Film aus der Ukraine ist in der Sektion Concorso Cineasti zu entdecken. «Yak Tam Katia» (How Is Katia?) von Christina Tynkevych beschreibt, wie eine alleinerziehende Mutter ihren eigenen moralischen Kompass hinterfragen muss.
V wie Vision Award Ticinomoda. Mit diesem Award wird in Locarno kreative Arbeit gewürdigt. 2019 ging der Preis an die Herausgeberin Clair Atherton, 2021 an den Spezialisten für visuelle Effekte, Phil Tippett. In diesem Jahr wurde die amerikanische Künstlerin und Filmemacherin Laurie Anderson ausgewählt, «die einen einzigartigen Dialog mit Bildern geschaffen hat», so Direktor Nazzaro. Zwei ihrer Filme werden gezeigt: «Heart of a Dog» (2015) und «Home of the Brave» (1986).
W wie Wettbewerbe. Für den internationalen Wettbewerb 2022 wurden 17 Filme nominiert, darunter auch der Debütfilm des Zürcher Valentin Merz, «De Noches Los Gatos Son Pardos», ein «mediafiktiver Spielfilm» um einen Regisseur der während der Dreharbeiten in Südamerika verschwindet. Der zweite Schweizer Beitrag, «Baliqlara Xütba» (Sermon to the Fish) von Delphine Lehericey ist eine Koproduktion mit Aserbaidschan und erzählt die Geschichte eines heimkehrenden Soldaten, der in seinem Dorf nur noch Tote vorfindet – bis auf seine Schwester.
X wie X Filme. Wer kann sich noch daran erinnern? Mit seinem Debütfilm «Schmetterlinge» gewann der deutsche Regisseur Wolfgang Becker 1987 den Goldenen Leopard. 1994 gründete er zusammen mit Tom Tykwer, dem Produzenten Stefan Arndt und dem Schweizer Dani Levy in Berlin die Produktionsgesellschaft X Filme Creative Pool. In dieser «Werkstatt» entstanden Filme wie «Lola rennt» (Tykwer) oder «Alles auf Zucker» (Levy).
Z wie Zitat. Die «du»-Ausgabe 77/8 aus dem Jahr 2007 widmete sich Locarno und seinem Festival, das just sein 60-Jahr-Jubiläum feiern konnte. Journalist Urs A. Jäggi beschrieb die Grundeigenschaften bzw. Absichten des Festivals 1947 perfekt: «Das Filmfestival von Locarno ist eigentlich gar kein Filmfestival. Es ist vielmehr der Versuch, mit einem Spagat einen ambitiösen cinematographischen Anlass mit dem Bedürfnis nach einem Top-Event in der Tourismus-Region zu verbinden und gleichzeitig die kulturelle Präsenz der italienisch sprechenden Minderheit zu markieren, ohne aber die Ausstrahlung und den Glanz der internationalen Film- und sonstigen Prominenz missen zu müssen.» So war es und so wird es weiter sein!
ZurückVeröffentlicht Juli 2022