Freischwimmen ist leichter als getan: In «Mare» sucht eine Frau, an Familie und Verpflichtungen gebunden, ein wenig Freiheit und Unabhängigkeit zu erobern. (Frenetic Films)


56. Solothurner Filmtage – 20. bis 27. Januar 2021

Solothurn 2021 –
Frauen an vorderster Filmfront

Solothurn schliesst seine Home-Edition. Die Preise sind bekannt. Frauen haben die 56. Filmtage markant geprägt, nicht nur was die Preisgewinner 2021 angeht. Der Prix de Soleure geht an Andrea Štaka mit dem Film «Mare», der Prix du Public an Gitta Gsell und «Beyto«» sowie der Opera Prima an Stefanie Klemms «Von Fischen und Menschen». Die Gewinnerfilme sind bis Freitagmittag, 29. Januar, auf der Solothurner Website verfügbar.

Auch eine Filmtage-Home-Edition (online) wie in diesem Jahr in Solothurn kommt ohne Preise nicht aus. Gut für Filmer, Filmschaffende und Schauspielernde (welch ein grässliches Wort). Der Ehrenpreis war bereits vor Beginn der 56. Filmtage bekannt – für den Kinoaktivisten Frank Braun (Prix d'Honneur). Die Retrospektive (Rencontre) war Villi Hermann (siehe Interview), Autor, Filmer und Produzent («Atlas»), gewidmet. Der Ehrenpreis 2020 wurde von Bundesrat Alain Berset erst jetzt an den Regisseur Markus Imhoof für sein Gesamtwerk verliehen.
Die Filmtage 2021 bleiben so oder so in zwiespältiger Erinnerung und hoffentlich eine einmalige Online-Veranstaltung, mussten die Verantwortlichen sich doch den Pandemie-Schutzmassnahmen beugen und die Kinos geschlossen halten. Das Publikum musste draussen vor der Tür bleiben und war doch eingeladen, die zahlreichen Premieren anzusehen – daheim. Home-Edition nannte sich die Notlösung. Filminteressierte konnten sich dank Solothurner Streamingdienste ein Bild über das Schweizer Filmschaffen machen – bei etwas zu hohem Preis von 10 Franken pro Film.
In zahlreichen Filmgesprächen, Brunchs und Podiumsveranstaltungen konnten sich Filmschaffende, Beobachter und Experten zu Themen und Filme äussern. Doch die stocksteife Form – hier Interviewer oder Moderatorin, dort die Insider, Filmer oder Filmbegleiterinnen – konnten vor allem formal nicht überzeugen und begeistern. Informations- und Diskussionsgehalt waren solide bis aufschlussreich, das Bildformat (Form) hingegen teilweise miserabel und langweilig. Keine Einspielungen, keine Bewegung. Alles in ein starres Format gegossen.

Auch wenn Filmer wie Veranstaltungen das Publikum – ein wesentlicher Teil eines Festivals – schmerzlich vermissten, war die Freude der Preisgewinner durchweg gross. Sorgen doch Preise immer auch für eine gewisse Publikation und Werbung, wenn dann die Filme in Kinos starten können.


Prix de Soleur
«Mare» von Andrea Štaka, produziert von Partner Thomas Imbach. Der Prix de Soleure, dotiert mit 60 000 Franken (je 30 000 Franken an Regie und Produktion) zeichnet Kinofilme aus, die «humanistisches Engagement mit prägnanter filmischer Gestaltung vereint.» Andrea Štaka («Das Fräulein», Goldener Leopard von Locarno 2006) beschreibt subtil und «unaufgeregt», wie eine Frau, eingebunden in die Familie, ihre eigene persönliche Freiheit sucht und Sehnsucht stillt. Der Spielfilm «Mare», der «aussieht wie ein Dokumentarfilm oder die Realität selbst» (die Jury) startete in den Kinos und wurde durch die Pandemie jäh gestoppt. Wahrscheinlich gibt's einen neuen Anlauf. Er ist dreimal für den Schweizer Filmpreis Quartz 2021 nominiert

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind auch folgende Filme, die nicht ausgezeichnet wurden:
«Das neue Evangelium» von Milo Rau: Rau begibt sich nach Matera, Europas Kulturhauptstadt 2019, um dort einen neuen Matthäus-Film zu drehen. Er inszeniert die Passionsgeschichte Jesu und dokumentiert gleichzeitig, wie lokale Kleinbauern und Fremdarbeiter gegen Ausbeutung protestieren. Ein vielschichtiger Film zwischen Dokumentation, Making of und Fiktion. Ein soziales Manifest für menschliche Würde und ein Appell an Solidarität. Nominiert für den Quartz 2021 (bester Dokumentarfilm).

«Burning Memories» von Alice Schmid: Die Innerschweizerin arbeitet ihre eigene verdrängten Erinnerungen auf nach 50 Jahren, ihre Kindheit, Phobien und Traumata. Eine intime faszinierende Reise nach Gestern für Heute – über Kinder und Gewalt. Eine sehenswerte Selbsttherapie. Nominiert für den Quartz 2021 (beste Filmmusik).

«The Scent of Fear» von Mirjam von Arx: Die Übersetzung «Der Geruch der Angst» wäre auch kein schlechter Filmtitel. Die Filmerin von Arx versucht verschiedenen Ängsten habhaft zu werden: Furcht und Phobien (Spinnen), Bedrohungen, Druck und Herausforderungen. Die Angst vor der Angst ist ein grosses Thema, das hier filmisch eingekreist wird. Packend.

«The Brain – 5 Nouvelles du Cerveau» von Jean-Stèphane Bron: Der Schweizer Bron («Mais im Bundeshuus») unternimmt eine hochinteressante Reise zu Menschen, die sich mit dem menschlichen Gehirn befassen und fördert Erstaunliches zu Tage. Eine Dokumentation und ein erhellender Einblick um Fragen der künstlichen Intelligenz, um Forschungsdrang, Machbarkeit und Gefahr. Können Kreaturen geschaffen werden, die Intelligenz nachbilden und übertreffen?» Fünfmal für den Quartz 2021 nominiert.

Opera Prima
«Von Fischen und Menschen» von Stefanie Klemm. Das Kinodebüt, dotiert mit 20 000 Franken, beschreibt sehr atmosphärisch wie eine alleinerziehende Frau (Sarah Spale) auf tragische Weise ihre Tochter Milla verliert. Sie betreibt an einem abgeschiedenen Flecken im Jura eine Forellenzucht und wird schier aus der Bahn geworfen. Die Jury lobt das Erstlingswerk für seine «Aufrichtigkeit und Authentizität». Eine stille feinfühlige Tragödie.
Eine lobende Erwähnung geht an den Dokumentarfilm «Sòne» von Daniel Kemény. Der Filmer betreibt Spurensuche in Pietrapaola, einem Nest in Kalabrien, das fast ausgestorben ist.

Prix du Public
«Beyto» von Gitta Gsell. Der Preis über 20 000 Franken wird zu gleichen Teilen zwischen Regie und Produktion (Lomotion AG und Sulaco Film GmbH) aufgeteilt. Der Liebesfilm um zwei Männer, um Traditionszwänge und persönliche Freiheit lief bereits erfolgreich in den Kinos bis … Ein Zweitstart wäre ihm zu gönnen.

In dieser Kategorie wären auch folgende Filme preiswürdig:
«Atlas» von Niccolò Castelli, der Eröffnungsfilm: Allegra hat ein Attentat in Marokko überlebt, aber ihre besten Freunde verloren. Sie verliert den Boden unter den Füssen und sucht mühsam den Weg zurück zur Normalität. Ein sensibles Psychodrama über das Überwinden eines Traumas.

«Schwesterlein» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond: Das Drama um einen todkranken Bruder (Lars Eidinger) und seine Schwester (Nina Hoss) ist grosses Gefühlskino im besten Sinn. Wann kann ein Mensch loslassen? Der Favorit: Sechsmal für den Quartz 2021 nominiert.

«Wanda, mein Wunder» von Bettina Oberli: In dieser Sozialkomödie am Zürichsee sorgt eine polnische Pflegerin für Turbulenzen und familiäres Chaos. Regisseurin Oberli («Die Herbstzeitlosen») gelingt es wunderbar, die Balance zwischen komischen Situationen und Konfrontationen, Familienclinch und gesellschaftlicher Kritik zu halten. Nominiert für den Quartz 2021 (bester Spielfilm)

Trickfilmwettbewerb
Drei Publikumspreise über insgesamt 10 000 Franken.
1. «Signs» von Dustin Rees.
2. «Only a Child» von Simone Giampaolo.
3. «Écore» von Samuel Patthey und Silvain Monney

Upcoming Talents
Kurzfilme von Studierenden. Der Nachwuchspreis ist mit 15 000 Franken dotiert.
Gewinner: «Europa» von Lucas del Fresno

Prix Swissperform
Der Spezialpreis geht an die Baslerin Sarah Spale für «Wilder» als Polizistin Rosa Wilder.
Schauspielerpreis an Annina Walt für die Historienserie «Frieden». Sie spielt eine junge Helferin in einem jüdischen Flüchtlingsheim nach dem Zweiten Weltkrieg.
Schauspielerpreis an Dimitri Stapfer für «Frieden». Er verkörpert den Ermittler Egon Leutenegger. Er wirkt ebenfalls im Beziehungsdrama «Beyto» mit.
Preis für beste Nebendarstellung an Rachel Braunschweig im «Tatort: Züri brännt» als Staatsanwältin. Sie war auch in den Kinofilmen «Die Göttliche Ordnung», «Wolkenbruch» und «Zwingli» zu sehen.


Nominationen Schweizer Filmpreis 2021
An den Solothurner Filmtagen werden seit geraumer Zeit auch die Nominationen für den Schweizer Filmpreis bekannt gegeben. Die Quartze, so die Filmpreise, sollen am 26. März in Genf verliehen werden.

Bester Spielfilm: «Atlas», «Mare», «Platzspitzbaby», «Schwesterlein», «Wanda, mein Wunder».
Bester Dokumentarfilm: «The Brain - 5 Nouvelles du Cerveau», «Das neue Evangelium», «Il mio corpo», «Nemesis», «Saudi Runaway».
Bester Kurzfilm: «Das Spiel», «Deine Strasse», «Rats Ants Bite», «Trou Noir», «Tuffo».
Bester Animationsfilm: «Darwin's Notebook», «Écore», «Only a Child».
Bestes Drehbuch: «Mare» von Andrea Štaka, «Platzspitzbaby» von André Küttel, «Schwesterlein» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond.
Beste Darstellerin: Rachel Braunschweig in «Spagat», Luna Mwezi in «Platzspitzbaby», Sarah Spale in «Platzspitzbaby».
Beste Nebendarstellerin: Masha Demiri in «Spagat», Marthe Keller in «Schwesterlein», Dimitri Stapfer in «Beyto».
In Ermangelung geeigneter Darsteller wird 2021 kein Schweizer Filmpreis vergeben.
Beste Filmmusik: Christian Garcia-Gaucher für «The Barin - 5 Nouvelles du Cerveau», Alice Schmid für «Burning Memories», Marcel Vaid für «Not Me – A Journey with Not Vital».
Beste Kamera: Pietro Zuercher für «Atlas», Benny Jaberg für «Not Me – A Journey with Not Vital», Filip Zumbrunn für «Schwesterlein».
Beste Montage: Karin Sudan für «Citoyen Nobel», Sophie Blöchlinger für «Platzspitzbaby», Myriam Rachmuth für «Schwesterlein».
Bester Ton: Benoît Barraud und Peter Bräker für «Mare», Peter Bräker für «Nemesis», Patrick Storck, Gina Keller und Jacques Kieffer für «Schwesterlein».
Bester Abschlussfilm: «Alma Nel Branco» von Agnese Làposi, «Amazonen einer Grossstadt» von Thaïs Odermatt, «Bicémo Najbolji» von Jelen Vujović.

Wenn möglich werden die nominierten Filme im Filmpodium Zürich aufgeführt (22. bis 28. März 2021)


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Veröffentlicht Januar 2021