Der Zürcher Charles Lewinsky erzählt gern auch mal Geschichten, um Geschichte zu schreiben, und geht gern auf Erzählerreise.
Es darf auch mal die Zeit der Schlacht um Morgarten sein. (Foto: Maurice Haas, Diogenes Verlag)
 
 

Charles Lewinsky –
Die Faszination des Fabulierens

Beim Namen Lewinsky denkt man an die erfolgreiche TV-Soap «Fascht e Familie», an gehaltvolle spannende Romane und ironisch-kritische Filme wie «Moskau einfach!». Der eine, Charles Lewinsky, ist vor allem Autor, sein Sohn Micha hat sich als Filmregisseur einen Namen gemacht und mit «Moskau einfach!» ist ihm eine ironische Zeitreise zum Thema Überwachung und Bespitzelung gelungen. Wir sprachen mit Charles Lewinsky (75) der mit dem jüngsten Roman «Der Halbbart» für amüsantes, fabelhaftes Lesevergnügen sorgte und auf seine Art Geschichts- und Geschichtenschreibung pflegt.

Gratulation zum Dreiviertel-Jahrhundert-Geburtstag! Statt rauschendem Fest sind Sie coronabedingt in sich gegangen, haben Ihre Romane durchforstet und Ihre Recherche zu Papier gebracht im Buch «Sind Sie das?». Was ist Ihnen bei dieser persönlichen Recherche aufgefallen beziehungsweise aufgegangen?
Charles Lewinsky: Dass vieles aus meiner Jugendzeit auch in meine Bücher geraten ist. Eigentlich wollte ich «Sind Sie das?» nur für meine Enkel schreiben, aber mein Verlag wollte das Manuskript gern auch als Buch herausbringen. Ich habe bei dieser Spurensuche gestaunt, wieviel Persönliches in meine Romane geflossen ist.

Ihr jüngster Roman «Halbbart» ist wieder ein Erfolg geworden. Was heisst das für Autor und Verlag? Wie drückt sich das in Zahlen aus?
Soviel ich weiss hat das Buch eine Auflage von 25 000. Ein Erfolg? Ja, aber wenn ich davon leben müsste, hätte ich keine Chance.

Aufgrund der Corona-Massnahmen konnten Sie keine Lesereisen unternehmen. Sie haben auch ein Bühnenprogramm mit dem Musiker und Liedermacher Markus Schönholzer erarbeitet, das nun den Corona-Massnahmen zum Opfer fiel. Was muss man sich darunter vorstellen?
Er singt Lieder, teils von mir getextet, und ich rezitiere. Manchmal singe ich auch mit. Und weil das durcheinandergeht haben wir es nicht «Poesie und Musik», sondern «Moesie und Pusik» genannt. Das macht Spass, auch dem Publikum. Ich hoffe auf eine baldige Wiederaufführung. Das Buch, das Sie vor sich liegen haben, hatte keine einzige Lesung. Das fehlt mir. So hat man kein direktes Echo.

Sie sind mit dem «Halbbart» tief in die Schweizer Geschichte gestiegen, exakt ins 14. Jahrhundert, im historischen Vorfeld der Schlacht am Morgarten. Ihr Roman spielt zwischen Sattel, Schwyz und Einsiedeln, handelt jedoch nicht eigentlich von den historischen Ereignissen, sondern vom Erzählen, von Geschichte und Geschichten? Wie sind Sie auf dieses Thema gestossen?
Das ist eigentlich eine falsche Frage, weil sie eine Arbeitsweise voraussetzt, die nicht meine ist. Es müsste eher heissen: Wie ist das Thema auf mich gekommen? Meistens weiss ich nicht, wo die Geschichte hinführt. Es wäre für mich auch sehr langweilig, wenn ich es von Anfang an wüsste. Eine Geschichte über die Kraft des Erzählens, das Erfinden von Geschichte durch Geschichteerzählen zu entwickeln, war nicht mein Plan. Da war anfangs nicht die Idee: Jetzt schreibe ich ein Buch übers Geschichteerzählen. Es hat sich so entwickelt.

Am Schluss des Buchs macht die Teufels-Anneli eine bemerkenswerte Bemerkung: «Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lange erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.» Das erinnert mich an den grossen Geschichtenerzähler Homer. Da spricht auch bei Ihnen die pure Lust des Fabulierens. Was geschah im Vorfeld der Schlacht am Morgarten 1315? ……
Unter Historikern weiss niemand, ob diese Schlacht am Morgarten wirklich stattgefunden hat. Das ist sehr umstritten. Interessant ist ja, dass man weiss, wo sie stattgefunden hat, wenn sie stattgefunden hätte. Man hat aber nicht die geringste Spur einer Schlacht gefunden trotz gründlicher archäologischer Suche. Es gibt keine Beweise. Das macht aber nichts, denn Geschichte besteht aus den Geschichten, die wir darüber erzählen.

So gesehen, sind Sie über Jahrtausende mit dem griechischen Geschichtenerzähler Homer geistig verbunden.
Das ist ja eine wunderbare Verbindung! Das Schöne ist ja, dass es Zeiten und Worte gibt, von denen wir glauben zu wissen, wie es war, weil sie von einem spach- oder geschichtenmächtigen Autor geschrieben wurden. Wenn wir die Romane von Dickens lesen, glauben wir zu wissen, wie es damals in England war. Wenn wir Gotthelf lesen, meinen wir zu wissen, wie es im Emmental war.

Wie würden Sie Ihr Buch einordnen – als Schelmen- und Entwicklungsroman, Zeitbild oder Mysterium?
Ich gestehe, ich versuche diese Einordnungen den Literaturseminaren zu überlassen. Da sind so kluge Leute, die sagen mir dann schon, was ich geschrieben habe. Ich will das beim Schreiben gar nicht wissen und auch nicht einordnen. Ich lasse mich beim Schreiben überraschen, was in dieser Geschichte alles passiert.

Was fasziniert Sie beim Fabulieren?
Flaubert hat mal sinngemäss gesagt: Ein Autor sollte ein langweiliges Leben wie nur möglich führen, damit er all seine Abenteuer in seinen Büchern erleben kann. Ich bin eigentlich, wenn ich mich selber definieren müsste, ein langweiliger, spiessiger kleinbürgerlicher Mensch, der in seinen Büchern tolle Abenteuer erleben und an tolle Orte reisen kann.

Das Kloster Einsiedeln, speziell der Sturm auf das Kloster, spielt eine wichtige Rolle im «Halbbart». Haben Sie Resonanz vom Kloster erfahren?
Ja, im Kloster gibt es einen sehr literaturaffinen Mönchen, den Bruder Gerold. Er hat mir geschrieben und gestaunt, wie exakt die Rituale etc. eines Benediktinerklosters beschrieben sind. Er wollte mich auch mal für das Magazin «Salve» interviewen, und ich habe ihm gesagt, ja – aber nur in Einsiedeln und nur wenn er mit mir eine Führung hinter den Kulissen des Klosters macht. Die Episode in meinem Roman vom Überfall auf das Kloster richtet sich sehr stark nach einem Bericht aus jener Zeit. Einer der Klosterbrüder hat den Überfall auf Latein beschrieben. Wenn ich in eine historische Epoche gehe, mache ich meine Hausaufgaben und recherchiere sehr gründlich.

Sie sind 75 geworden. Für viele ist der Geburtstag ein Gräuel. Wie halten Sie es mit dem Alter? Zählen Sie mit oder gehen Sie darüber hinweg?
Ich hatte mir vorgenommen, am 75. so richtig auf die Pauke zu hauen. Ich wollte offiziell eine Lesung veranstalten und hätte Texte gelesen, die in keinem Buch vorkommen, also Texte, die keiner kennt, und es wäre eine Menge anderes passiert. Das wäre beispielsweise ein Text, in dem William Shakespeare versucht, seinen Hamlet, Prinz von Dänemark, an einen Fernsehproduzenten zu verkaufen. Es wäre ein lustiger literarischer Abend mit musikalischen Einlagen geworden, aber eben, es hat nicht stattgefunden und ist jetzt eine Legende.

Wie haben Sie das vergangene Pandemiejahr erlebt – durchlitten oder genutzt?
Es ist ja so, dass man in meinem Beruf auf Quarantäne am wenigsten reagiert. Soviel anders lebe ich auch sonst nicht. Schreiben ist ein einsamer, ja mönchischer Beruf. Ich habe mehr geschrieben als sonst, weil ich keine Ablenkungen, keine Lesungen, nichts hatte. Klar, mir fehlten die sozialen Kontakte. Man hat halt mehr telefoniert.

Diese Zeit der Entschleunigung, des Verzichts und der Beschränkung hat die Kulturaktivitäten fast lahm gelegt. Chance oder Flurschaden auf Dauer?
Man muss zwei Dinge unterscheiden: Für viele Kollegen ist diese Pandemie lebensbedrohend. Ein Schauspieler, der seit einem Jahr kein Engagement hat, kommt an seine Existenzgrenzen. Ich finde, dass der Staat nicht genügend reagiert. Dagegen hatten subventionierte Bühnen genügend Zeit, neue Formen auszuprobieren. Die mussten sich um ihre Existenz keine Sorgen machen.

Ihr Sohn Micha ist ein erfolgreicher Filmemacher. In seiner Zeitsatire «Moskau einfach!» hatten Sie einen klitzekleinen Cameo-Auftritt.
«Moskau einfach!» spielt ja in einer historischen Zeit, eben um 1989. Da gibt es eine Szene, in der ein Mann fernsieht. Micha wollte, wie er mir gesagt hat, eine Szene aus einer der doofsten Fernsehsendungen, die liefen, im Film haben. Er stiess auf eine Jubiläumssendung einer Fernsehreihe, in der ich selber aufgetreten bin. Diesen Ausschnitt hat er genommen – als kleinen Familienspass. Er hat mich quasi reingeschnitten.

Die Zusammenarbeit mit Micha hält sich in Grenzen. Wieso?
Es gibt keine Zusammenarbeit. Ich werde mich hüten, mich in seine Drehbücher einzumischen. Das kann er viel besser als ich. Und er wird sich hüten, meine Romane zu korrigieren.

Was darf man von Ihnen demnächst erwarten in Sachen Bühne, Buch oder Kino?
Ich werde sicher im nächsten Jahr einen neuen Roman publizieren. Und sonst muss man abwarten.

In welcher Richtung soll es im neuen Roman gehen?
Ich bin von der alten Hühnerschule – erst Eier legen, dann gackern!

Was erwarten Sie vom anstehenden Sommer im Zeichen der Klimaerwärmung?
Ich verbringe ein Teil des Jahres in Frankreich, in Vereux, und baue dort mein eigenes Gemüse an. Ich stelle fest, dass das Wasser jedes Jahr knapper wird.

Sind Sie ein Grüner, ein Gärtner?
Ich würde eher sagen: Ich bin ein umweltpolitischer Pessimist. Vernünftige Aktionen in dieser Richtung setzten voraus, dass der Mensch ein intelligentes Wesen ist. Und daran habe ich von Jahr zu Jahr mehr Zweifel.

Was wünschen Sie sich für dieses Jahr?
Ich bin zurzeit mit dem Bundesrat nicht einverstanden und glaube, dass er dabei ist, einen seiner grössten Fehler mit der Öffnung der Restaurants etc. zu machen. Das wird meiner Meinung nach katastrophale Auswirkungen haben. Aber vielleicht gelingt es dem Bundesrat, dem Virus beizubringen, dass er sich föderalistisch verhalten und nur in einzelnen Kantonen wirken soll.

Sind Sie ein gebremster Optimist?
Ich neige oft zum Pessimismus, weil Pessimisten meistens Recht behalten, aber nicht glücklich werden damit, während die Optimisten oft glücklich werden, aber nicht Recht behalten.

Sie wirken aber doch recht glücklich …
Solange ich den Optimismus auf meinen engen Kreis konzentrieren kann, auf meine Arbeit, auf meine Familie, bin ich Optimist. Wenn ich mir die Menschheit angucke, neige ich eher zum Pessimismus.


Bio-Daten
Charles Lewinsky, geboren 14. April 1946 in Zürich
Studium Germanistik, Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin
Drehbuchautor, Schriftsteller, Hörspielautor, Theaterautor, Musicals, Fernsehredaktor (Wort – Unterhaltung Schweizer Fernsehen)
Fernsehserien: «Fascht e Familie», «Fertig Lustig»
Sketche für «Traumpaar»
700 Liedertexte u.a. für Maja Brunner («Das chunnt eus spanisch vor»)
Theaterstücke u.a.: «Drei Männer im Schnee», 1984 nach Erich Kästner
Romane (Auswahl) ab 1984 mit Doris Morf («Hitler auf dem Rütli»), 2006 «Melnitz», 2011 «Gerron», 2015 «Kastelau», 2016 «Andersen», 2017 «Der Wille des Volkes», 2019 «Der Stotterer», 2020 «Der Halbbart»


Der Halbbart
Er schneit unversehens vom Sattel ins Klosterdorf Einsiedeln. Er wird «Halbbart» genannt, «weil der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen.», erzählt Eusebius, der Chronist. Und er berichtet also von diesem Halbbart, den Menschen in der Innerschweiz, den Klosterbrüdern, von den Schweden und dem Überfall aufs Kloster Einsiedeln im «vierundfünfzigsten Kapitel, in dem er wüst zugeht». Zum Vorfall bemühte der Erzähler das Predigtwort eines Kaplans: «Zur Busse kriechen die Menschen, aber zur Sünde rennen sie.»
Am Ende erfahren wir, was sich bei der Schlacht am Morgarten vielleicht zugetragen hat, als Schwyzer Haudegen den Habsburgern eins aufs Dach gaben – im «zweiundachzigsten Kapitel, in dem viele Menschen sterben». Eusebius denkt sich seinen Teil, glaubt dass sein Onkel Alisi die Geschichte erfunden und erlogen hat. Doch die Geschichte von den aufsässigen Innerschweizern war doch zu schön und wurde Geschichte.
Ein Schelm, wer sich dabei Arges denkt. Der Zürcher Charles Lewinsky ist ein Meister des Fabulierens und schuf mit dem «Halbbart» ein kleines Meisterstück des Geschichtenerzählens – schelmisch, fesselnd und profund.
Charles Lewinsky «Der Halbbart». Roman, 677 Seiten, Diogenes Verlag 2020, 35 Franken

Eine Sammlung autobiografischer Anekdoten und nostalgischer Schmöker, von Lewinsky verschmitzt kuratiert und vom Verlag als Geschenk zum 75. Geburtstag des Autors publiziert.
Charles Lewinsky «Sind Sie das?». Eine Spurensuche, 256 Seiten, Diogenes Verlag 2021, 25.60 Franken.

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Veröffentlicht April 2021