Kirchenglocken füllen den Raum, arrangiert vom Choreographen William Forsythe, machen den Chipperfield-Bau zum Klangkörper. Vorerst sind die Räume spärlich bestückt, unter anderem mit «8» (2014), Urs Fischers Grundstein und «Formes circulaires» (1930) von Robert Delaunay. Fotos: Franca Candrian (links), Kunsthaus Zürich; Juliet Haller (rechts), Amt für Städtebau, Zürich.


Zürcher Kunsthaus-Neubau –
Mächtiger die Glocken nie klingen …

Seit Ende April ist der Anbau des Zürcher Kunsthauses einem interessierten Publikum zugänglich, freilich nicht ohne Eintritt (20/16 Franken). Nur am Ende dieser Besuchsphase, an Pfingsten (22. bis 24. Mai), ist der Chipperfield-Bau kostenlos zu besichtigen.

Wie ähnlich schon in Berlin 2019 (James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel) hat der britische Architekt David Chipperfield einen raumgreifenden Neubau fürs Zürcher Kunsthaus entworfen. Der unübersehbare, wuchtige Kubus am Heimplatz ist noch gewaltiger als es den äusseren Anschein hat. Der Eingangsbereich mit mächtigem Treppenaufgang wirkt ausladend, geradezu klassisch, als wollten die alten Griechen mit einer Tempelanlage in der Moderne imponieren.

Das Bauwerk, über 200 Millionen Franken teuer, wuchs über zwölf Jahre Planung und Bauzeit. So entstand zusammen mit dem Altbau das grösste Kunstmuseum der Schweiz. Die Materialien sind Sichtbeton, Eichenholz-Parkett, Messing und weisser Marmor. Die Fassade wurde mit Jurakalkstein veredelt. Wuchtig und majestätisch zugleich (wie zu preussischen Zeiten) präsentiert sich die Eingangshalle mit dem Treppenaufgang. Hier kann man umbauten Raum spüren, erfahren, atmen. Über drei Stockwerke verteilt, öffnen und schliessen sich Räume, mal lichtdurchflutet, mal abgeschottet. Der Blick nach aussen, etwa auf den Heimplatz mit der Pipilotti-Rist-Säule «Tastende Lichter» oder auf den versteckten «Garten der Kunst«», einem öffentlichen Refugium.

Provisorisch belebt werden einige Räume mit Calders überdimensionalem Mobile «Cinc blancs, un rouge» (1972), mit dem Wandbild «Pétales et jardin de la nymphe Ancolie» (1934) von Max Ernst, Robert Delaunays «Formes circulaires» (1930) oder Urs Fischers Grundstein «8» (2014). Die spärlich gestreuten Kunstwerke werden im wahrsten Sinn des Wortes übertönt von acht Kirchenglocken.

Der amerikanische Choreograph William Forsythe (71), Ballettdirektor in Frankfurt und Dresden, fand diese Glocken in zwei Düsseldorfer Kirchen (Thomaskirche und Heilig-Geist-Kirche), die aussortiert und in «Rente» geschickt worden sind. Sie entstammen allesamt der traditionellen, weltbekannten Kunstgiesserei Rincker aus Sinn (Hessen), seit 1590 in Familienbesitz. Zu zweit oder solo füllen die Bronzeglocken Räume und werden wahrlich zum Klangkörper. Glocken, die gemeinhin als Warnung (vor Feuer oder Feinden), zwecks Ritualen, als liturgische Instrumente (Kirchen) oder Zeitspiele (Zeitmesser) dienten, werden hier zu eigenständigen Instrumenten, die den räumlichen Wahrnehmungsprozess anregen und verstärken sollen.

Massgeschneiderte Glockenstühle unterstreichen die Selbständigkeit der gewaltigen Klangkörper. Klöppel oder genauer «elektromagnetische Hämmer» bringen sie von aussen zum Klingen, zeitlich abgestimmt in einer Komposition, so die Absicht. «The Sense of Things» nennt Forsythe seine Installationen. Ein Hörerlebnis der besonderen Art. Man kann den Sound gar im Inneren einer Glocke wahrnehmen (ohne Hörschäden). Der Raum vibriert ganz im Sinne von Chipperfield: Das Spirituelle wechselt ins Säkulare. Die Glocken beleben Raum und Besucher, animieren zum Hören, Lauschen und Innehalten. Sie schwingen, swingen, vibrieren – ein einzigartiges Erlebnis.

Auch die Tatsache, dass man die Ausstellungsräume, die im Herbst die Collection Bührle und andere Sammlungen mehr aufnehmen sollen, nie wieder so leer und pur sehen wird, sollte einen Besuch lohnen (bis 24. Mai 2021). Der Spruch an einer Glocke aus dem Jahr 1966 mag ebenfalls anregen: «Ich will ausgiessen den Geist der Gnaden und des Gebets.» (so Prophet Sacharia im Alten Testament)

Der Zugang zum Neubau führt vom eigentlichen Kunsthaus (Moser-Bau) durch eine unterirdische Passage. Das grosse Messingportal des Chipperfield-Baus wird erstmals an Pfingsten geöffnet. Nächste Ausstellung im Kunsthaus ab 20. Mai: «Hodler, Klimt und die Wiener Werkstätte». Informationen über Erkundungstouren und Vorverkauf: kunsthaus.ch/besuch-planen oder Zürich Tourismus.


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Veröffentlicht Mai 2021