Seit 2003 lehrt sie an der Filmakademie Baden-Württemberg als Dozentin für Dokumentarfilm: Heidi Specogna, zweifache Schweizer  Filmpreisträgerin (Quartz), porträtiert in ihrem jüngsten Film «Stand Up, My Beauty» eine äthiopische Sängerin. (Bild rbr)


Heidi Specogna: «Stand Up, My Beauty»


«Heldin des Alltags» –
die Musikerin Nardos, Erzieherin und Ernährerin

Aussergewöhnliche Menschen, ihre Sorgen, Umfeld und Träume stehen im Zentrum dieser Dokumentarfilme. Die Schweizerin Heidi Specogna, 1959 in Biel geboren, lebt seit 1982 in Berlin und bricht immer wieder nach Afrika, Südamerika und demnächst nach Brasilien auf, um Persönlichkeiten zu begleiten, zu beschreiben – im Dienste der Menschlichkeit und Menschenrechte. Ihr jüngster Film «Stand Up, My Beauty» porträtiert Nardos, äthiopische Musikerin und Mutter.

Am Filmfestival Locarno feierte der Dokumentarfilm «Stand Up, My Beauty» Premiere, wurde an den Solothurner Filmtagen aufgeführt und hat nun den Weg in die Kinos gefunden. Die Filmerin Heidi Specogna lehrt an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg, ist Abteilungsleiterin im Fach Dokumentarfilm und betreut Projekte. Immer wieder ist sie Spuren und Schicksalen bemerkenswerter Persönlichkeiten und Menschen gefolgt. Sie machte sich ein Bild über den ehemaligen Staatspräsidenten Uruguays («Pepe Mujica – Der Präsident», 2014), über einen US-Soldaten im Irakkrieg («Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez», 2006), einen nigerianischen Fussballer, dem eine Flüchtlingsfähre gehörte («Das Schiff des Torjägers», 2010), oder über Frauen, die unter den Kriegsfolgen in der Zentralafrikanischen Republik («Cahier Africain», 2016) litten und klagten.

Anlässlich der Solothurner Filmtage traf ich Heidi Specogna zu einem intensiven Gespräch. Dein Film startet jetzt in Schweizer Kinos, im Mai dann auch in Deutschland. Begleitest du ihn hier?
Heidi Specogna: Ja, ich finde es wichtig. A habe ich selber viele Fragen und bin neugierig. Für mich ist ein Film erst zu Ende, wenn er gezeigt wurde. B nimmt man im Kinoraum wahr, wie die Spannung ist, ob die Leute mitgehen oder wegdämmern. Kino ist ein lebendiger Raum. Filme, die gestreamt und online ausgewertet werden, verpuffen, die nehmen nichts auf und geben nichts zurück. Ich finde es wahnsinnig wichtig, dass wir gerade für den Dokumentarfilm jede Möglichkeit wahrnehmen, den Film mit dem Publikum zu sehen und zu besprechen.

Die direkte Rezeption eines Films ist also nach wie vor wichtig …
Film ist eine Kunstform wie ein Konzert, ein Bild oder eine Ausstellung. Ein Bild von zwei auf drei Metern würde ich nie auf meinem kleinen Bildschirm betrachten, nie ein Konzert der Philharmonie auf meinem Notebook anhören.

Wird die Pandemie Auswirkungen beim Publikum haben, speziell beim jüngeren?
Das jüngere Publikum wird die Erfahrung machen, dass ein Film nicht das Gleiche ist, wenn man ihn allein anschaut. Diese sinnliche Erfahrung muss man machen. Eine gute Spur ist für mich, dass die Filme ein Nachleben haben, nämlich wenn die Filme nach dem Kino online ausgewertet werden sind und ein anderes Publikum anziehen können. So könnte die Lebensdauer eines Films verlängert werden. Das finde ich toll.

Zu deinem neusten Film: Wie gross war der Aufwand?
Ich habe fünf Jahre gedreht, ein halbes Jahr geschnitten. Der Film war sechs Tage in der Tonmischung, zehn Tage in der Lichtbestimmung. Der Film hat alles bekommen, an handwerklichem Können, an Finesse, an technischen Gegebenheiten, also alles, was es braucht, um auf der Leinwand leben zu können. Davon dringt vielleicht nur ein Bruchteil zum Publikum durch. Film ist ein Kunstwerk. Ihm gebührt der gleiche Respekt wie anderen Künsten.

Wie bist du auf die Sängerin Nardos gestossen. Was hat dich fasziniert?
Ich bin mit einem Kollegen nach Addis Abeba zur Recherche über die äthiopische Jazzmusik gereist. Ich wollte herausfinden, wieso die äthiopische Musik anders klingt als in anderen Ländern. Das war frustrierend, weil sich das alles nicht mehr abbilden liess. Am letzten Abend landete ich in diesem Kulturclub und erlebten einen Auftritt von Nardos. Dieses Erlebnis hat mich berührt. Sie ist eine Frau aus Addis Abeba, eine Heldin des Alltags. Sie versucht allen Ansprüchen gerecht zu werden – als Tochter, Mutter, Ehefrau, Künstlerin – sie spielt wirklich viele Rollen.

Wie ging es weiter?
Wir haben uns am nächsten Tag zusammengesetzt, ich habe sie zuhause besucht. Es war klar, dass ich zurückkehren müsste. Ich bin dann auch zurück und wir haben den Faden neu aufgenommen. Ich habe mir viel Zeit genommen, sie für den Film zu überzeugen. Wir haben ein grosses Vertrauen aufgebaut. Sie hat uns dann auch in die intimsten Räume gelassen. Dass sie ein Filmteam akzeptierte, war ein grosses Geschenk und Vertrauensbeweis.

Hat sich ein Jahr nach den Dreharbeiten etwas für Nardos geändert?
Für sie hat sich einiges verändert. Sie konnte im Rahmen des Films zeigen, was sie kann. Sie ist weiterhin als Sängerin aktiv. Das ist ihre Haupteinnahme, ihre Auftritte in diesem Club. Der Film hat ihr Selbstwertgefühl aufgebaut und vieles wettmachen können.

Steht diese Frau nicht auch für eine Gesellschaft im Umbruch?
Das Land mit 110 Millionen Einwohnern ist schwer zu fassen. Es gibt diese boomende Stadt Addis Abeba und dann entlegene Täler, wohin keine Nachrichten gelangen. Man spürt eine wahnsinnige Dynamik in diesem Land. Es gibt eine starke religiöse Tradition, auf die sich ein Grossteil der Gesellschaft beruft, das heisst 50 Prozent Muslime, 50 Prozent Christlich-Orthodoxe. Nardos arbeitet in einem Kulturclub, der versucht, vieles aufzubrechen. Sie hat drei Kinder von einem Mann, der in Australien lebt.

Welche Ziele verfolgt sie?
Nardos sagt anfangs, sie singe Liedern von anderen, möchte aber eigene Lieder singen. Und das tut sie dann auch – in Zusammenarbeit mit der Dichterin Gennet. Es war spannend zu erleben, dass ihr Alltag sich in den Liedern niederschlug, auch in dem Lied, das dem Film den Titel gab. Sie verarbeitet ihre Tätigkeit etwa als Tagelöhnerin auf dem Bau und unterstützt die Unabhängigkeit junger Mädchen.

Wie würdest du ihre Musik, ihre Lieder beschreiben?
Die Texte sind aus realen Situationen entstanden. Entsprechend wurden sie von Jürg Halter für das Publikum hier übertragen und nachgedichtet. Die Instrumente sind ganz unterschiedlich – traditionell bis modern. So hat beispielsweise auch der Jazzmusiker Hans Koch mitgespielt.

Wohin führt deine nächste filmische Reise?
Da gibt es ein grosses Projekt. Ich werde mich auf den Spuren einer Fotografin begeben: Claudia Andujar, ihr Kampf und Lebenswerk in Brasilien.



Die Fotografin Claudia Andujar, 1931 in Neuenburg geboren, in Transsilvanien aufgewachsen und von Nazis verfolgt, floh mit ihrer Mutter in die Schweiz. Der jüdische Vater und Verwandte wurden im KZ Dachau ermordet. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs reiste Claudia Andujar (eigentlich Claudine Haas) in die USA, dann nach Brasilien. Studium der Humanwissenschaften in New York. 1955 begann ihre Karriere als Fotografin (MOMA, Life, New York Times).
Seit 1955 lebt sie in Brasilien. 1956 begegnet sie erstmals indigenen Völkern. Seither kämpft die heute Neunzigjährige für Menschenrechte und das Überleben der Yanomami im Amazonasgebiet. Die Lebensgrundlagen der Yanomami Community sind gefährdet – durch Landraub und Ausbeutung der Bodenschätze. Die Ausstellung «Claudia Andajur – The Yanomami Struggle» dokumentierte eindrucksvoll ihr Engagement, ihr Zusammenleben mit den Yanomami, ihre Arbeiten (Winterthurer Fotomuseum – sie schloss Mitte Februar).



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Veröffentlicht Februar 2022.