Die Piazza Grande – Sie ist der Magnet, der magische Ort des Festivals. Hier wurde auch Laurie Anderson (Bild) gefeiert. (Bild: rbr)


Rückblick aufs 75. Filmfestival Locarno 2022

Starke Frauen am Festival
zwischen Licht und Schatten

Das Filmfestival feierte Comeback und Jubiläum – ohne Einschränkungen und mit viel Power. Die 75. Ausgabe des grössten der kleinen Filmfestivals in Europa lockte eine grosse Zuschauerzahl:  128'500 Zuschauer und Zuschauerinnen besuchten das Festival, 56'500 die Piazza Grande, 72'000 die Filmsäle. Das entspricht einem Zuwachs von 60,4 Prozent gegenüber 2021. Wir picken einige Highlights, aber auch Schwächen heraus.
 
Das Herz des Festivals Keine Frage, die Piazza Grande ist und bleibt das Mass aller Dinge. Kein anderes Festival kann solches Ambiente, solch einen Schauplatz bieten wie dieses grosse stimmige Openair-Kino.  Einmalig für Filmemacher, Filmschaffende, Filmakteure und Zuschauer. Da lässt es sich eine Regisseurin wie Anna Gutto trotz unstabilem Wetter nicht nehmen, vom Festivalsaal Fevi (Marke Mehrzweckhalle) auf die Piazza zu wechseln, um dort ihr Roadmovie «Paradise Highway» mit ihrer Crew auf der gigantischen Leinwand live zu erleben.

Gewollt knallig wurde das Festival mit «Bullet Train» eröffnet (ausverkauft). Viel leiser, aber eindrücklich präsentierte sich das Sozialdrama um eine Mutter und ihre Tochter aus Eritrea in Zürich: «Semret» von Caterina Mona. Grossen Gefallen fand das Publikum offensichtlich an der belgisch schweizerischen Koproduktion «Last Dance». Der verschmitzte und doch «todernste«» Spielfilm um einen alten Mann, der nach dem Verlust seiner Frau in ihre Fussstapfen tritt und sich einer Tanz- und Bewegungstruppe anschliesst, erhielt den Publikumspreis (Prix du Public). Eher störend und selten überzeugend waren die die Filmschnipsel, die jeweils auf der Piazza unter dem Motto «Postcards from the Future» gezeigt wurden, initiiert von Direktor Giona A. Nazzaro und Stefano Knuchel. Elf Filmschnipsel verwehten, wie sie gekommen waren, bis auf die Ausnahme, die Postkarte, die Fredi M. Murer gewohnt verschmitzt, humorvoll lieferte.
 
Wettbewerbe Das Niveau des internationalen Wettbewerbs um die Leoparden hatte wie wenige Licht- und mehr Schattenseiten. Die meisten Filme werden kaum Eingang in den normalen Kinobetrieb finden. Wohl möglich, dass dies der Siegerfilm «Regra 34» (Regel 34) der Brasilianerin Julia Murat schafft. Er beschreibt wie Simona, eine angehende Juristin, die sich mit häuslicher Gewalt besonders gegen Frauen befasst, selbst aber Grenzen der Sexualität und Internetprostitution, sexuelle Praktiken und Obsessionen (BDSM) auslotet und ausprobiert.

Der Schweizer Beitrag «De noche los gatos son pardos» von Valentin Merz bot ein seltsames Konglomerat aus Sexsprengsel, Drehaktionen im Urwald und Krimisequenzen. Ein Filmregisseur war verschwunden und wurde irgendwann tot aufgefunden, und es gibt weitere Opfer. Der Streifen wurde mit einer speziellen Erwähnung bedacht in der Sektion «First Feature» und hat bereits eine Starttermin in der Schweiz, am 13. Oktober.

Der Film «Serviam – Ich will dienen» über die Machenschaften einer Ordensschwester (Maria Dragus) in einem Mädcheninternat entpuppte sich eher als Ärgernis denn als Entdeckung. Bemerkenswert ist das filmische Kunstspiel vom Russen Alexander Sokurov. In «Skazka» treten die Diktatoren Stalin, Mussolini und Hitler sowie Premier Churchill aufeinander und begehren am Höllentor Eingang ins Himmelreich (?). Thematisch höchst aktuell ist die österreichische Dokumentation «Matter Out of Place», eine Reise zu Müllhalden, Müllmännern, Müllentsorgern und Müllsammlern – ohne Kommentar. Die Bilder verschmutzter Seen, Strassen und Städten sprechen für sich. Nur was hat dieser starke Müll-Film im Wettbewerb zu tun, der mit Spielfilmen bestückt ist?
 
Schwerpunkte Auffallend viele Filme befassten sich mit Pubertät und Erwachsenwerden. In «Astrakan» (Frankreich) beispielsweise macht das zwölfjährige Waisenkind Samuel seiner Pflegefamilie das Leben schwer, eckt an, rastet aus, stört. Ein hoffnungsloser Fall? Der Kanadier Trevor Anderson schildert in «Before I Change My Mind», wie Neuling Robin versucht, in der Klasse unter Seinesgleichen Fuss zu fassen. Ausgerechnet bei einem Mitschüler Marke Schläger findet er einen Freund oder doch nicht…? Vom Schweizer Film «Semret» war bereits die Rede, wo ein junge Eritrerin ihre Mutter herausfordert, und ein Trauma aufreisst. Auffällig viele markante Filme trugen die Handschrift von Frauen – vom Leopardensieger «Regra 34» über «Human Flowers of Flesh» von Helena Wittmann und «Paradise Highway» von Anna Gutto bis «Where the Crawdads Sing» von Olivia Newman.
 
Porträts Auf völlige verschiedene Art näherten sich Filmer zwei Persönlichkeiten. Der Schweizer Kaspar Kasics liess sich auf die Autorin Erica Jong («Angst vorm Fliegen») ein und war von ihr total befangen. Seine Porträtarbeit «Erica Jong – Breaking the Wall» basiert auf vielen Gesprächen, die sie dominiert, aber auf Dauer ermüden. Wunderbar die Bilder (Isabelle Casez) am Anfang und am Schluss: ein menschenleeres New York und ein fast verträumtes Venedig.

Ganz anders André Schäfer. Er lädt zu einer Reise mit dem Erfolgsautor Martin Suter ein – von Auftritten mit Stephane Eicher bis zu persönlichen Gesprächen, etwa mit der Tochter, dem Verleger, Wegbegleitern und Romanfiguren. Schäfer mischt amüsant-gekonnt fiktive Romanszenen mit Begegnungen und Statements des Literaten: «Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit». Der ironische Titel verrät: Hinter den Bildern steckt viel Wahrheit.

Nachhaltige Begegnungen 36 Jahre danach war die stilbildende Musikdokumentation «Home of the Brave» in Locarno wieder zu sehen. Der Film von und mit Laurie Anderson wirkte frisch und innovativ wie dazumal. Und quicklebendig präsentierte sich die 75jährige Musikkünstlerin und Performerin auf der Bühne der Piazza. Vom begeisternden filmischen Zeugnis kreativen Ausdruckes könnte sich heute noch manche Künstler und Filmer eine Scheibe abschneiden. Ein Wiedersehen mit den Melodramen Douglas Sirks war ein Genuss, wenn auch die Bildqualität der Werke aus der Zeit zwischen 1934 und 1978 oft zu wünschen übrigliess, etwa bei «La Habanera» (1937), Sirks letzte deutsche Produktion noch unter dem Namen Detlef Sirck. Der Ton war jedoch okay, als Zarah Leander schmachtend schön ihre «Habanera» interpretierte.

Nachhaltig, wenn auch auf ganz andere Weise war der ukrainische Spielfilm «Yak Tam Katia?» (Wo ist Katia?). Die 35jährige alleinerziehende Anna arbeitet hart als Notfallärztin und will ihrer Tochter Katia eine bessere Zukunft ermöglichen, doch dann erleidet die Zehnjährige in Kiew einen schwerwiegenden Unfall. Fahrerin ist die Tochter der Bürgermeisterin. Und diese will keine negativen Schlagzeilen und Anna bestechen, die verzweifelt ist, aber Moral zeigt … Christina Tynkevych dreht erbarmungslos an der Spirale von Verzweiflung, Wut, Korruption, Schuld und Sühne. Ein Drama, das sich auf viele Situationen heute übertragen lässt.
 
Einsichten, Aussichten Bei den Ehrungen für Laurie Anderson und Costa-Gavras hatte Direktor Nazzaro ein gutes Händchen. Diese Anerkennungen sind verdient. Das mag in gewissem Mass auch für Schauspieler und Regisseur Matt Dillon («City of Ghosts») zutreffen, der einen Lifetime Achievement Award erhielt. Dass Daisy Edgar-Jones («Where the Crawdads Sing») den Award des Leopard Clubs erhielt, ist wohl ihrem Image als Jugendtalent zuzuschreiben.
 
Fazit Das 75. Filmfestival Locarno schlug keine grossen Wellen, ausser dem Jubiläumsanlass. Immerhin konnte es in gewohntem Rahmen stattfinden. Der Wettbewerb war zwar vielseitig besetzt, konnte aber nur punktuell überzeugen. Es ist festzuhalten, dass Direktor Nazzaro ein Faible fürs Genrekino hat und entsprechend das Piazzaprogramm gestaltete – vom Killerthriller «Bullet Train» und Roadmovie «Paradise Highway» über Sozialdramen «Semret» und «Vous n’aurez pas ma haine» (You Will Not Have My Hate) bis zu ironischen Komödien wie «My Neighbor Adolf» und «Last Dance». Die Tatsache, von einigen heimlich erhofft, soll 2023 wahr werden: Präsident Marco Solari will nach der 76. Ausgabe zurücktreten.
 
Die Preise
Goldener Leopard (Concorso internazionale) für «Regra 34» von Julia Murat, Brasilien.
Jurypreis  «Gigi la Legge» von Alessandro Comodin, Italien.
Leopard für beste Regie an Valentina Maurel und «Tengo sueños eléctricos», Belgien, Frankreich, Costa Rica.
Pardo für beste Schauspielerin an Daniela Marín Navarro in «Tengo sueños eléctricos».
Pardo für besten Schauspieler an Reinaldo Amien Gutiérrez in «Tengo sueños eléctricos».
Goldener Leopard (Cineasti del presente) für «Svetlonoc» (Nightsirenen) von Tereza Nvotová, Slowakei
Jurypreis (Concorso Cineasti del presente) für «Yak Tam Katia» von Christina Tynkevych, Ukraine.
Pardo für beste Schauspielerin an Anastasia Karpenko in «Yak Tam Katia».
Pardo für besten Schauspieler an Goran Marković in «Sigurno Mjesto» (Safe Place) von Juraj Lerotić, Kroatien.
Pardo Verde WWF für «Matter Out of Place» von Niklaus Geyrhalter, Österreich

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Veröffentlicht August 2022