Erst ab 1874 schrieb die Bundesverfassung einen obligatorischen, unentgeltlichen und
bekenntnisunabhängigen Primarunterricht vor. (Bild: rbr)


Kinder – aussortiert, ausgebeutet, ausgestellt

Kinder als billige Arbeitskräfte und Kapital – die Ausstellung im Forum Schweizer Geschichte Schwyz dokumentiert ein dunkles Kapitel Schweizer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: «Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert» - ein Schritt der Aufarbeitung.

Wer kennt die «Schwarzen Brüder», Verdingbuben oder Schwabenkinder nicht! Die «schwarzen Brüder» waren Kinder aus dem Tessin, die bereits im 19. Jahrhundert als Kaminfeger in Norditalien in Schächte und Schornsteine kletterten, um sie zu reinigen. Das zweibändige Buch über Kamin-Kinder von Lisa Tetzner und ihrem Mann Kurt Held erschien 1940/41 und wurde 2012 von Xavier Koller verfilmt. Als Verdingbuben bezeichnete man mittel- und rechtlose Kinder, die in der Schweizer Landwirtschaft «fremdplaziert» und als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Bis tief ins 20. Jahrhundert (offiziell bis 1921) wurden Bergbauernkinder aus Vorarlberg, Tirol und der Schweiz «verdingt», das heisst nach Oberschwaben zum Arbeitseinsatz «vermittelt», die sogenannten «Schwabenkinder».

Ein Kapitel der Ausstellung «Arbeitende Kinder» ist diesem düsteren Kapitel der Arbeitsbeschaffung gewidmet, den «Spazzacamini – den Kaminfergern» aus dem Verzascatal und dem Centovalli sowie den «Schwabenkindern», die gegen Kost und Logis sowie eine bescheidene Entlöhnung von April bis Oktober» schufteten – als Stallbuben, Viehhüter, Haushaltshilfen und Babysitter in Oberschwaben.

Das Wort stösst einem heute übel auf: «Fremdplatziert». Dies ist nur ein Aspekt der Sozialgeschichte einer Arbeiterschaft, die man eigentlich Kinderschaft nennen müsste. Allmählich beginnt man dieses Kapitel aufzuarbeiten. «Das System der fremdplatzierten Kinder in der Schweiz umfasst einen Zeitraum von über 200 Jahren. Bis 1981 wurden Zehntausende Kinder durch die Behörden von ihren Familien getrennt und als billige Arbeitskräfte auf Bauernhöfe verdingt oder in Heimen, geschlossenen Einrichtungen sowie Strafanstalten fremdplatziert», informiert eine Texttafel. Was die Entfremdung durch Fremdplatzierung mit den Menschen gemacht hat, erfährt man nicht oder zu wenig. Die damalige Maxime «Erziehung zur Arbeit durch Arbeit» klingt wie Hohn, ist aber längst nicht aus den Köpfen verschwunden.

Leider geht die Ausstellung nicht tiefer auf diese Problematik und das Kapitel «Kinder der Landstrasse» ein, der staatlich verordneten Zerschlagung jenischer Familien und «Versorgung asozialer Kinder» der Fahrenden. Die Rolle der Pro Juventute bleibt gänzlich unerwähnt, auch die klösterlichen Einrichtungen und der Kirche wird nur am Rande tangiert. Das wäre allein eine Ausstellung wert. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang der Kinofilm «Lubo» von Giorgio Diritti, der das Schicksal des Jenischen Lubo Moser schildert, dem Schweizer Behörden Kinder und Frau raubten. Er basiert auf wahren Geschehnissen in den Dreissigerjahren.

Die Ausstellung in Schwyz versucht den grossen Bogen zu spannen von der Landwirtschaft und dem Kleingewerbe bis zur Industrialisierung, vom gesetzlichen Schutz (Fabrikgesetze 1877/1922/1938), obligatorischem Schulunterricht (1874) bis zu Kinderrechten weltweit (UNO-Konvention 1997). Sehr anschaulich dargestellt durch schriftliche Dokumente, Fotos, Textilien (Strohhüte, Klöpplerarbeiten), Arbeitsmaterialien (Spinnräder, Gerätschaften fürs Torfstechen) und Filmen. Eine anschauliche Lektion nicht nur über Kinder für Kinder, sondern vor allem auch für Erwachsene. Das Problem: Die Texttafeln und Bilder informieren sachlich über die Existenz arbeitender Kinder, berühren aber nur oberflächlich. Die Kinder bleiben stumm, werden zu Schauobjekten. Dazu bedarf es Gespräche, Führungen, Filme, die das Forum auch anbietet. Das Problem Kinderarbeit ist bis heute aktuell. Es sei nur an die Schufterei in Goldminen (Burkina Faso), auf Baumwollfeldern in Indien, auf die Plagerei auf Plantagen und Farmen in Afrika oder Lateinamerika sowie Fabrikarbeiten in Pakistan erinnert. Diese Art Sklaverei und Ausbeutung ist noch längst nicht ausgerottet!


«Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert», Forum Schweizer Geschichte Schwyz bis 27. Oktober 2024

Öffentliche Führungen mit Experten am 10. März, 14. April, 21. April, 19. Mai, 29. September und 20. Oktober

www.forumschwyz.ch

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Veröffentlicht Februar 2024