Der Regisseur und sein Anwalt: Marco Kreuzpaintner schickt Hauptdarsteller Elyas M’Barek (rechts) auf den Rechtsweg. (Foto: Constantin Film)


«Recht und Gerechtigkeit sind zwei unterschiedliche Begriffe»

Ferdinand von Schirach entwickelt in seinem Roman «Der Fall Collini» einen Fall von Selbstjustiz und erinnert an einen Justizskandal, der die Gesetzgebung der BRD zu verantworten hat. Marco Kreuzpaintner hat den Stoff auf die Leinwand gebracht – mit Elyas M'Barek als Anwalt und Franco Nero als Täter (siehe Filmkritik).

Regisseur Marco Kreuzpaintner hat sich in verschiedenen Filmgenres probiert – erfolgreich, mit der Coming-out-Komödie «Sommersturm» (2004), «Krabat» (2008), der Verfilmung einer sorbischen Volkssage, oder der Streaming-Serie «Beat» (2018 bei Amazon) über ein kriminelles Netzwerk (Schauplatz: die Berliner Clubszene), Gewinner des Grimme-Preises. Der exzellente TV-Thriller «Sanft schläft der Tod» (2016), erst kürzlich Ende April von ARD ausgestrahlt beschreibt eine Kinderentführung und einen Serientäter (Matthias Brandt). Manfred Zapatka spielte darin einen Ex-Stasi-Ermittler. Im «Fall Collini» verkörpert er das Opfer mit dunkler Weste.

Kreuzpaintner, 1977 in der Nähe von Rosenheim geboren, verfilmte den Roman des erfolgreichen Justizspezialisten Ferdinand von Schirach: «Der Fall Collini» (2011). Ein pensionierter italienischer Fremdarbeiter erschiesst einen Grossindustriellen und stellt sich. Ein Junganwalt wird mit der Pflichtverteidigung des Mörders betraut und versucht, Licht ins Dunkel dieses Falls bringen (siehe Filmkritik). Ein Gespräch mit Regisseur Marco Kreuzpaintner begleitete die Vorpremiere seines Films in Zürich. Ein Gespräch.

Abgesehen von «Justiz» (1993) von Hans W. Geissendörfer nach Friedrich Dürrenmatt und «Der Staat gegen Fritz Bauer» (2015 von Lars Kraume) sind Justizfilme in Deutschland eher rar gesät. Wie sind Sie auf den Stoff (Roman) Collini gekommen oder ist der Stoff zu Ihnen gekommen?
Marco Kreuzpaintner: Der Stoff ist zu mir gekommen. Mir wurden das Drehbuch und Hauptdarsteller Elyas M'Barek angeboten. Den Roman habe ich erst nach dem Drehbuch gelesen.

Die Hauptfigur, der Junganwalt Caspar Leinen, hat einen anderen Hintergrund im Film…
Ja, bei Schirach ist Caspar Leinen elitär und adeliger Abstammung, jetzt hat er einen Immigrationshintergrund. Das fand ich interessant: ein Outsider, der anfangs von seinen Kollegen nicht ernst genommen und von oben herab behandelt wird.

Das Buch spielt sich auf vier Zeitebenen ab, der Film beschränkt sich auf drei. Richtig?
Wir bleiben bei drei Ebenen: 1944, 1986 und 2001 und haben die Geschichte verdichtet, gewisse Rückblenden eingewebt über Kindheit des jungen Caspar in den Achtzigerjahren, über die Aktionen der Nazis in Italien bis zu den Geschehnissen um 2001.

Jurist Ferdinand von Schirach ist mit seinen Erzählungen, Romanen und einem Theaterstück über Justizfälle zum Bestsellerautor geworden? Was hat Sie an der Verfilmung dieses Buches gereizt?
Ich wusste nur, dass es einen Justizfilm geben würde. Das fand ich schon mal spannend, weil ich dieses Genre noch nicht gemacht hatte. Und dann stiess ich auf dieses Dreher-Gesetz von 1968 und fragte mich, humanistisch erzogen und in der Bundesrepublik gross geworden, wieso ich noch nie von diesem Dreher-Gesetz gehört hatte. Dann kam ich drauf, dass keiner eine Ahnung davon hatte, selbst Juristen nicht, weil Justizverbrechen und Justizunrecht nicht gelehrt wird. Das möchte die jetzige Justizministerin ändern, aber ob sie's schafft…? Das Gesetz bestand bis 2007 und wurde dann abgeändert, also über 62 Jahre nach Kriegsende.

Wie weit war Autor von Schirach in die Drehbuchentwicklung und Verfilmung involviert?
Die Drehbuchentwicklung hat er immer wieder mal kommentiert. Seine Haltung war klar: Das ist euer Film – das ist mein Buch. Macht mal! Und jetzt – er mag den Film und ist begeistert.

Was war Ihnen wichtig bei der visuellen Umsetzung des Falles?
Juristische Fakten müssen vom Regisseur spannend aufbereitet werden. Ich habe versucht, das emotional in den Gerichtsszenen umzusetzen. Das war eine der Herausforderungen.

Ausgangspunkt ist ein Fall von Selbstjustiz, doch im Kern geht es um Recht und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird oft durch das Recht gebeugt. Wie beurteilen Sie diese Problematik?
Recht und Gerechtigkeit sind zwei unterschiedliche Begriffe. Recht heisst Rechtsprechung auf Grund von Gesetzen, von Menschen, von mächtigen Menschen und Volksvertretern gemacht. Gerechtigkeit ist ein individuelles Empfinden einer Person in einem bestimmten Alter in einer jeweiligen Zeit. Es gibt aber auch ein allgemeinsames kollektives Gerechtigkeitsempfinden. Wenn sich das nicht deckt mit dem, was rechtens ist, hat die Demokratie ein Problem. Viele Leute fühlen sich ungerecht behandelt oder bedroht, dann muss der Staat das Gefühl ernst nehmen. Aufgabe des Staates und der Regierung muss es in der Rechtsprechung oder Sozialpolitik sein, dafür zu sorgen, dass dieses Gefühl nicht aufkommt, dass Recht und Gerechtigkeit eben nicht divergieren.

Was kann Ihr Film dazu beitragen?
Die Diskussion anstossen. Ein Film kann nicht wirklich etwas verändern. Er kann aber eine Atmosphäre schaffen, in der Veränderungen stattfinden können.

Ihr Drama ist anspruchsvoll, spielt auf drei Zeitebenen und setzt juristische Verständnis voraus. Welche Wünsche haben Sie ans Publikum?
Zuerst einmal wünsche ich gute Unterhaltung. Man geht kaum ins Kino, um belehrt zu werden. Wichtig, finde ich, ein Bewusstsein für ein Thema, ein Problem zu schaffen. Ich masse mir nicht an, die Welt juristisch oder so zu verändern.

Welches Verhältnis haben Sie zum Autor von Schirach?
Ich habe eigentlich gar kein Verhältnis. Ich sehe von Schirach als bedeutenden Autor der Gegenwartsliteratur – egal ob das die Kritik so sieht oder nicht. Der Kritik ist es manchmal ein Dorn im Auge, wenn jemand viele Bücher verkauft, habe ich den Eindruck.

Wie konnten Sie die Kinolegende Franco Nero («Django») für die Rolle des Mörders gewinnen?
Er kannte das Drehbuch und wollte den Regisseur kennenlernen. Ich bin dann nach Rom geflogen. Er hat mir alle seine Filmplakate vorgeführt. Wir sind essen gegangen, und dabei ist mein Stuhl zusammen gebrochen. Das war sehr peinlich. Dann ist aber auch sein Stuhl gebrochen, und das Eis war gebrochen.

Die Gerichtskulisse wirkt abschreckend, ja kerkerhaft. Ist das bewusst so gestaltet?
Ich wollte das Gefühl, Gefangener zu sein und verurteilt zu werden, sicht- und spürbar machen. Man sollte es nachvollziehen können.

Nach dem Film ist vor dem Film – woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich arbeite an einer englischsprachigen Serie, die ich in London für Channel Four drehen werde. Sie heisst «The Boys». Mehr kann ich jetzt nicht verraten.



Amnestie und das Dreher-Gesetz


Eduard Dreher, im Dritten Reich Staatsanwalt in Innsbruck, war 1968 Leiter der Strafrechtsabteilung im deutschen Bundesjustizministerium. Er war massgeblich beteiligt am «Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitsgesetz». Hinter dem bürokratischen Titel verbirgt sich ein Gesetz mit fatalen Folgen für Gerechtigkeit und Strafverfolgung: Gewisse Nazi-Verbrechen waren auf einen Schlag verjährt. Nazi-Mordgehilfen (Mord) wurden quasi zu Totschlägern (Totschlag) und konnten ab 1968 nicht mehr bestraft werden. Ein Obersturmbahnführer wie Meyer im Film, der 1944 ein Strafkommando leitete und Dorfbewohner in Italien nach dem Zufälligkeitsprinzip erschiessen liess, um eine Attacke der Widerstandskämpfer zu rächen, konnte nicht mehr angeklagt werden. Dieser SS-Mann wird im Kinofilm von einem Tatzeugen über 50 Jahre danach erschossen. Ein Fall von Selbstjustiz – und eine Fiktion mit historischem Hintergrund: «Der Fall Collini» nach dem Roman von Ferdinand von Schirach, der im Anhang seines Buches das Gesetz vom 30. September 1968 (Paragraph 50 des Strafgesetzbuches) zitiert .


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Veröffentlicht Mai 2019