Hansmartin Siegrist hat den Filmanfängen und dem Filmenthusiasten einen bemerkenswerten Dokumentarfilm gewidmet. (Bild: rbr)


Der Schweizer Unternehmer und Filmpionier François-Henri Lavanchy-Clarke

Auf den Spuren eines rastlosen kreativen Geistes

Wir sprachen mit Hansmartin Siegrist in Basel über seinen Film «Lichtspieler», die Filmgeschichte und Erforschung eines verborgenen Schatzes.

Zur Filmkritik

Hansmartin, «Die Filmgeschichte beginnt fast ohne Filmgeschichten», schreibst du in deinem Buch. «Die frühen Filme wollen eher zeigen als erzählen.» Was willst du uns mit deinem Film «Lichtspieler» zeigen beziehungsweise erzählen?
Hansmartin Siegrist:
Ich möchte, dass die Mediengeschichte in der ganzen Geschichte der Belle Epoque eingebettet und wahrgenommen wird. Es geht dabei weniger um Erfinder als vielmehr um Ausdruck einer Zeit im Wandel zwischen einem gewissen Rückwärtsblick, einer gewissen ästhetischen Oberflächlichkeit und einer radikalen Moderne, die sich abzeichnet. Da sehe ich den Cinematographen im Mittelpunkt. Er zeigt viele Umzüge, viele Repräsentationen, gleichzeitig ist er Apparat der Moderne, der zur Leitkunst der Moderne führt, zu Film und Kino.
 
François-Henri Lavanchy-Clarke (1848–1922) war seiner Zeit voraus als Philanthrop, Pionier, Künstler und auch Unternehmer mit sozialem Bewusstsein. Was bedeutet er dir persönlich?
Vielleicht zwei Dinge: Sein unglaublich breites Interesse, das keineswegs Tiefe ausschliesst, die teilweise religiös begründet ist. Gleichzeitig hat er – das zeigen die Briefe – sein Tun stark reflektiert. Andererseits hat ihn weniger sein Status als Miterfinder des Cinematographen interessiert als das, was man damit machen kann. Da steckt sein absoluter Hang zum Zweckdenken dahinter.
 
Lavanchy-Clarke hat Film und Kino als Kommunikationsmittel eingesetzt …
Eindeutig. Auch die Brüder Lumière wollten die Welt nicht unbedingt mit einer ihrer Erfindungen beglücken. Sie waren Industrielle, die auch ihre Fotomaterialen etc. verkaufen wollten. Sie haben mit dem Cinematopgraphen viel Geld verdient. Der Film war nicht Selbstzweck, und insofern war diese Haltung ein zukunftsweisender Zug. Dahinter steckte bei Lavanchy-Clarke auch ein protestantischer Zug. Alles musste einen Zweck haben, und als Calvinist wollte er durchaus auch reich werden.
 
Dieser Mann war ein unersättlicher Sucher und Erfinder …
Er war eben ein Tüftler, der mit seinen vielen Talenten selbst bei der Seifenherstellung einen unglaublichen Fortschrittsglauben an den Tag legte, der mit dem Ersten Weltkrieg brutal gekappt wurde.
 
Wie kann man diesem Mann nach 120 Jahren gerecht werden?
Er stand auf der Schwelle zwischen der Belle Epoque und Heute. Es ist frappant. Keiner in der Schweiz verkörpert das besser als Lavanchy-Clarke, weil er den Beitrag der Medien forcierte in einer Zeit, als die Eisenbahn voll entwickelt war, wo Bergbahnen erschlossen wurden, wo Telephonie sich extrem durchgesetzt hatte.
 
Der Film konzentriert sich auf Lavanchy-Clarke, ein Brückenbauer zwischen zwei Epochen.
Genau. Man sieht, wie sich ein Mensch mit Willenskraft, sehr viel Talent und Geschick sehr wohl durchsetzen kann.
 
Er war auch missionarisch unterwegs in Ägypten …
Diese Pilgermission wurde von Genfer Bankiers unterstützt. Die hatten bereits den Einsatz des Roten Kreuz im deutsch-französischen Krieg mitfinanziert, wo sich Lavanchy-Clarke bewährt hatte. Wegen Tuberkulose reiste er nach Kairo und wurde Sachverwalter der Genfer Bankiers, die an der Entschuldung des Suezkanals beteiligt waren. Dort kam er wohl zu Geld, ein Teil davon hat er in eine gute Sache investiert und so das Blindenwesen in Ägypten umgekrempelt.
 
Er hat die Blindenschrift international vereinheitlicht. Er war also aus gesundheitlichen und missionarischen Gründen in Ägypten.
Das war vielleicht das Bemerkenswerteste an diesem Mann: seine Anschlussfähigkeit, seine Kombination. Umgekehrt hat ihm das auch viele Feinde und Neider eingebracht. Er war ein Mann, der jährlich 40 000 Kilometer unterwegs war.
 
Ein Weltenbummler.
Ja, das können wir aufgrund seiner Agenda nachweisen.
 
Er leistete unheimlich viel als Philanthrop und Unternehmer, beispielsweise durch seine Automaten. Was steckte dahinter?
Er war gleichzeitig als Moneymaker und Philanthrop unterwegs, denn ein Teil des Gewinns durch die Automaten wurde für die Blindenschulen abgezweigt. Diese Automaten musste abgepackte Dinge verkaufen wie Schokolade, Bonbons oder Raucherwaren. Es war das gleiche Verkaufsprinzip, wie wir es heute noch haben. Lavanchy-Clarke dachte also daran, sein Geschäftsmodell auszubauen. Er wollte nicht nur die Automaten, sondern auch das Verkaufsgut verkaufen. Das hat ihn in die Schokoladenindustrie getrieben. Er hat eine marode Edelmarke in Paris aufgekauft, aber das funktionierte nicht. Man riet ihm, sich mit dem innovativen Seifenhersteller in England zu verbinden. Und so kam das Geschäft mit «Sunlight» zustande. Das durchschlagende Geschäftsmodell der «Sunlight»-Gründer war es, die Seife nicht mehr en bloc, sondern schön verpackt und parfümiert anzubieten. Ideal für die Automaten.
 
Das war also der Beginn werbewirksamer Verpackungen wie wir sie heute noch haben …
Natürlich. Dort kam die Werbung zur Geltung – konsumgerecht und hygienisch. Ein perfekter Werbeträger. Eine Entwicklung aus England. Das war für Lavanchy-Clarke eminent wichtig: So konnte man auf den Papierchen, auf Schachteln oder Kisten Werbung machen.
 
Wie entwickelte sich das Geschäft mit der Seifenmarke «Sunlight»?
Die «Sunlight»-Produkte waren innerhalb von zwei, drei Jahren regelrecht explodiert. Ein expansives Wachstum. 1888 erhielt Lavanchy-Clark die kontinentaleuropäische Konzession für diese neue Seife. Ein umkämpfter Markt. In der Schweiz gab es ein starkes Kartell, auch weil viele lokale Seifenhersteller existierten, denn Seife war ein Abfallprodukt der Schlachtindustrie. Zwei Jahre später hatte Lavanchy-Clarke ein Netz von Unterkonzessionären, u.a. auch in Basel. Und er wurde reich – nach dem Schokoladenkonkurs. So hatte er Zeit, sein fotographisches Interesse weiter zu verfolgen - parallel.

Zur Landesausstellung in Genf 1896. Er war erster ausländischer Konzessionär der Brüder Lumière. Was lief da ab?
Ein, zwei Jahre war das Konzessionärsmodell der Brüder Lumière erfolgreich. Dann haben sie Cinematographen verkauft. Das hat auch Lavanchy-Clarke gemacht. Für uns war es toll, weil all diese Filme, die damals entstanden sind und die wir gefunden haben, nicht den Lumières gehörten, sondern Lavanchy-Clarke. An der Landesausstellung 1896 wollte er ausländische Seife mit einem ausländischen Apparat, dem Cinematographen, verkaufen. Aber weil das alles keine Schweizer Produkte waren, wurde er quasi mit seinem Palais auf den Rummelplatz verbannt. Diese Doppelwerbung für sich, den Cinematopgraphen und für das Luxusprodukt Seife war typisch für Lavanchy-Clarke.
 
Er brachte nicht nur das Produkt, sondern auch sich selber in den Filmen ein. Warum?
Das hat nicht nur mit seiner persönlichen Eitelkeit zu tun, sondern auch mit seinem Markendenken. Er sah sich als Mann, der nicht nur die «Sunlight»-Seife, sondern auch den Cinematographen brachte.
 
Seine Filme, knapp eine Minute lang, sind bemerkenswert, teilweise wurden sie inszeniert etwa auf der Basler Brücke. Die Leute wurden platziert.
Ja, das ging nicht anders. Am schönsten merkt man das an den Pannen, die quasi als Authentizitätsausweis wirken. Man kann zuverlässig sagen, dass 98 Prozent der Filme inszeniert wurden oder zumindest vorinszeniert.
 
Zu deinem Film. Du bist ein Schatzgräber, ein Archäologe der Filmgeschichte. Wie lange hast du an dem Projekt Lavanchy-Clarke gearbeitet – vom Buch zum Film zur Ausstellung im Museum Tinguely, Basel?
Mit Unterbrüchen habe ich mich seit 1994 mit dem ersten Basler Film und Lavanchy-Clarke beschäftigt. Seit 2014 habe ich am Buchprojekt gearbeitet – transdisziplinär und nicht nur lokalhistorisch. Das Buch war dann in zwei Jahren geschrieben.
 
Als ich dein Buch in der Hand hatte, fand ich ein Kompendium von Sozial-, Wirtschafts- und Filmgeschichte vor. Ich dachte: Das Buch blättert Filme auf, vornehmlich die von Lavanchy-Clarke, und entpuppt sich als Geschichtswerk über die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert.
Genau, das sollte es sein: ein Epochenporträt. Beim Film war wesentlich, dass man die digitalen Hilfsmittel zur Verfügung hatte, um das Ganze zu stabilisieren.
 
Und aus dem Buch hat sich das Filmprojekt ergeben?
Das habe ich meinen Kollegen zu verdanken. Die sagten, das ist doch ein Stoff. Ich hatte geglaubt, diese Geschichte sei zu kompliziert. Das riesige Tableau der Belle Epoque kannst du nur einigermassen beschreiben, wenn du eine Figur hast, die sich quasi wie ein blauer Faden durch die Geschichte zieht.
 
Die Materialfülle ist riesig. Es war sicher sehr schwierig zu sichten, zu filtern, auszuscheiden, zu komprimieren.
Ja, das war eine Herausforderung besonders bei diesem Mann, der so viele Aktivitäten entwickelt hat. Besonders gefreut hat mich, dass wir nicht nur linear erzählen konnten, sondern in der Ausstellung auch ausbreiten konnten zwischen den einzelnen Stationen und Aktivitäten. Das kann man hier besser verräumlichen als in linearen Abläufen.
 
Wir werden von Bildern überflutet. Das Kino hat es nicht leicht. Die Zuschauer kommen spärlich. Wie schätzt du die Zukunft des Films, des Kinos, den Wandel ein?
Ich habe gelernt: Jeder Wandel ist weder gut noch schlecht, sondern einfach da. Man muss damit leben. Jeden Tag werden zirka 10 Milliarden Bilder geschossen, doch 99,99 Prozent dieser Bilder gehen zu Lebzeiten der Fotografen und Fotografinnen verloren, werden vergessen oder nicht bearbeitet. Es ist doch bemerkenswert und spannend, dass jetzt wieder unglaublich viel in der Kunstszene chemisch fotografiert wird.
 
Was passiert?
Wenn man Film als Leitkunst der Moderne betrachtet, so kann man sagen, dass praktisch alle Bewegtbildmedien, die es heute gibt, Finalisierung des Films sind. Man kann Film als breiteste Kulturgeschichte darlegen, weil der Film alles in sich aufgenommen hat.
 

Hansmartin Siegrist

Geboren 1954 im Aargau, lebt in Basel, Sternzeichen Skorpion
Dr. phil, Produzent und Realisator mit Schwerpunkt Regie und Editing
1987–1994 Programmleiter und Produzent am Studio Ciba-Geigy
Publizist, Filmer und Lehrbeauftragter für Medienwissenschaft (Filmtheorie) der Uni Basel (1981–2021) und HGK Basel
Mitinhaber der AV-Produktion Visavista AG
Realisierung von zahlreichen Auftragsproduktionen für Industrie, Verwaltung und NGOs.
 

Buch
«Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque», Christoph Merian Verlag 2019, 49.00 Franken, 439 Seiten, über 600 Abbildungen.
Ein reiches, fundiertes Kompendium über Basler Filmgeschichte, Wirtschaft und Historie zwischen Belle Epoche und Moderne und ein Schlüsselwerk des Films am Ende des 19. Jahrhunderts. «Dieses Buch handelt von einem beiläufigen Ereignis an ganz bestimmten Ort und zu ganz bestimmtem Zeitpunkt», beginnt Hansmartin Siegrist seinen spannenden Wälzer. «Es versucht zunächst, eine Momentaufnahme des Schweizer Fin-de-siècle vom kurzfristigen Standort einer Filmkamera her zu deuten. Dies mit dem Ziel, das älteste Basler Filmdokument aus seinem Zusammenhang mit den epochalen und globalen Umwälzungen um 1900 heraus zu verstehen.» Die Reise zu den filmischen Anfängen mit dem Fazit «Apparat der Moderne»: «Wer ein Treiber ist, muss auch ein Getriebener sein – und bleiben. Innovation basiert auf Tradition, mit der sie bricht, um letztlich dann an ihr zu zerbrechen, wenn neue Treiber auf den Plan treten – mit neuen Allianzen.» Das war Lavanchy-Clarke.
 
Ausstellung
«Lichtspieler. Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte», Museum Tinguely, Basel (bis 29. Januar 2023). «Kino ohne Kino» – eine kleine kompakte Schau mit Filmen, Dokumenten (Briefen, Schriftststücken, Notizen, Pässen u.m.), Fotos, Gemälden, Apparaten (Cinematograph) über den Werbefachmann, Weltbürger und Netzwerker Lavanchy-Clarke.


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Veröffentlicht November 2022.