Frauen zwischen Männern und Freiheit (im Uhrzeigersinn): Ingeborg Bachmann (Vicky Krieps) befreit sich von Max Frisch in «Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste». Stella (Paula Beer) wird zur Denunziantin in «Stella. Ein Leben». Neue Fürsorge für behinderte Kinder: Leila Bekhti und Jasmine Trinca kümmern sich in «La nouvelle femme». Die 48-jährige Etero (Eka Chavleishvili) entdeckt die Liebe und sich selbst in «Blackbird Blackbird Blackberry». (Bilder: ZFF)

Zurich Film Festival 2023

Frauen im Fokus –
Von inneren und äusseren Wüsten

Zürich feiert den Film bei schönstem Herbstwetter. 130'000 Besucher, sprich Besuchende, sahen 150 Filme, u.a. im neuen Kinozentrum Frame (ehemals Kosmos). Uns ist aufgefallen, dass Frauen starke Akzente setzten. Unser Augenmerk galt für einmal den femininen Figuren, Darstellerinnen und Regisseurinnen. Und wir wurden sehr fündig.
 
In diesem Jahr haben gleich zwei Frauen die Aufmerksamkeit der Medienleute, Fotografen und des Publikums auf sich gezogen: Oscar-Preisträgerin Jessica Chastain (Golden Icon Award) und Diane Kruger (Golden Eye Award) wurden geehrt. Beide brachten Filme mit, natürlich mit starken Frauen. Jessica Chastain spielt im Sozialdrama «Memory» (Regie: Michel Franco) eine Sozialarbeiterin in New York, die auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen wird. Die deutschstämmige Schauspielerin Diane Kruger brilliert in Yann Gozlans Psychothriller «Visions» als Pilotin, die mit einer Liebschaft konfrontiert wird. Glamour und Leidenschaft an der Côte d’Azur.

Ein düsteres Stück Zeitgeschichte. Stella ist eine jüdische Frau in Berlin, die von einer Karriere als Jazzsängerin träumt. Doch dann kommen die SA, die Nazis und ihre Killertruppe Gestapo. Als Jüdin ist sie vom Tod bedroht und versucht unterzutauchen, bis sie an die Gestapo verraten wird. Unter massivem Druck und Gewalt sieht sie sich 1943 gezwungen, ihre Landsleute an die Gestapo zu verraten. Sie möchte nur eines: Die eigene Haut retten, wie viele. Stella Goldschlag ist Opfer und Täterin zugleich. Paula Beer verkörpert diese tragisch-schuldige Person, sympathisch und teuflisch, scheinbar ohne wirkliche Reue, mit Hingabe und Eindringlichkeit. Kilian Riedhofs drastisches Drama «Stella. Ein Leben» ist Zeitstück und Tragödie zugleich. Stella Ingrid Goldschlag (1922 – 1994) hat tatsächlich gelebt und ging als «Greiferin» in die verbrecherische Geschichte der Nazis ein.

Anfang des 20. Jahrhunderts. Engagiert zeigen sich die beiden Hauptfiguren in Léa Todorovs Sozialdrama «La nouvelle femme». Lili d’Alengy (Leïla Bekhti) und Maria Montessori (Jasmin Trinca) haben beide Kinder und ein Geheimnis. Die Pariser Lebedame Lili will ihre behinderte Tochter Tina vor der Öffentlichkeit verstecken, Maria in Rom kämpft um ihr uneheliches Kind. Sie begegnen sich in einer römischen Schule, die sich um behinderte Kinder kümmert. Gemeinsam setzen sie sich in einer konservativen Männerwelt durch, die solche Kinder als «defizitär» betrachtet. Autorin und Regisseurin Léa Todorov setzt mit ihrem Sozialdrama ein starkes Zeichen für eine moderne pädagogische Methode und für Menschlichkeit.

Sue (Nadine Labaki) lebt über 20 Jahre in der Schweiz und kehrt nach Ägypten zurück, um ihre exzentrische Mutter (Fanny Ardant) nochmals zu treffen, bevor sie stirbt. Die Fahrt von Kairo durch die Wüste nach Alexandria wird für Sue, traumatisiert vom Elternhaus, zur Konfrontation mit ihrer Vergangenheit und mit der Mutter, die ihr wiederholt erscheint, sie virtuell auf dieser Reise begleitet und zwingt, sich zu stellen. Der schweizerisch-ägyptische Regisseur Tamer Ruggli konzentriert sich in seinem Spielfilmdebüt «Retour en Alexandrie» auf das gespannte Mutter-Tochter-Verhältnis, nicht immer schlüssig, aber malerisch nostalgisch.

In die Wüste reiste auch Ingeborg Bachmann, Lyrikerin und Schriftstellerin. Sie suchte Abstand zur Beziehung mit dem Schweizer Max Frisch. Regisseurin Margarethe von Trotta hat diese toxische Beziehung ins Zentrum ihres Spielfilms «Ingeborg Bachmann. Reise in die Wüste» gerückt. Ronald Zehrfeld verkörpert das Schweizer Literaturdenkmal Max Frisch. Der Schriftsteller wird hier egozentrisch gezeichnet, eifersüchtig, besitzergreifend und reichlich unsympathisch. Vicky Krieps agiert als eine Frau, die sich, bedrängt von Frisch, vereinnahmt und besessen fühlt. Die Trennung sollte sie befreien und doch hinterlässt sie tiefe Narben. Eine fesselnde Begegnung im Kino über eine verhängnisvolle Beziehung.

Eileen (Thomasin McKenzie) ist eine graue Maus, sie arbeitet in einer Jugendstrafvollzugsanstalt in Neuengland und begegnet der mondänen Psychologin Rebecca (Anne Hathaway). Die geheimnisvolle Blondine zieht sie in ihren Bann. Eileen fühlt sich anerkannt, geliebt, doch kippt der vermeintliche Liebesfilm ins Abgründige. William Oldroyd entwickelt mit «Eileen» einen perfiden Psychothriller – mit einer verführerischen Blondine alias Anne Hathaway, an der auch Alfred Hitchcock seine Freude gehabt hätte.

In Georgien entstand die Schweizer Produktion «Blackbird Blackbird Blackberry» von Elene Naveriani. Sie beschreibt die Sehnsüchte der 48-jährigen Ladenbesitzerin Etero (Eka Chavleishvili). Die korpulente Single liebt ihre Freiheit, ist noch immer Jungfrau und verliebt sich in den verheirateten Murman. Etero lehnt sich gegen provinzielle Konventionen auf. Wird sie ihre Erfüllung finden? Die Filmautorin zeichnet in ihrem spröden Liebesfilm eine aussergewöhnliche Frau – ohne Glamour, Glanz und üblichen Sex. Schauspielerin Eka Chavleishvili bringt ihre ganze physische Wucht ein.

Alles andere als sensibel ist das Roadmovie mit Ira, Malin und Ka, zu denen die Backpackerin Zoe stösst. Regisseurin Anna Roller lässt junge Frauen von der Leine, die nach dem Abitur in Italien Fun und Freiheit suchen, aber nach einer Autopanne in einem verlassenen Bergdorf landen. Die Münchnerin Roller versucht in ihrem Spielfilmdebüt «Dead Girls Dancing» so etwas wie Sinnsuche losgelöster Teenager zu beschreiben, die kriminelle Energie entwickeln und feststecken. Das Ergebnis bleibt unbefriedigend, das Ende vage und unliebsam.

Michael Steiners wilder Trip von der Zürcher Langstrasse ins Welschland weckt Erwartungen, die nur bedingt erfüllt werden. Caro (Silvana Synovia) und Annika (Nilam Farooq) kommen zufällig an Drogen und Drogengeld, fliehen, werden vom Dealer und einem schmutzigen Fahnder (Anatole Taubman) gejagt. Die erste Schweizer Netflix-Produktion «Early Birds» versteht sich als Neo-Noir-Thriller und scheitert. Action um der Action willen, mit viel Blut, Gewalt: Kaputte Typen in einer kaputten Welt eben. Ein Story-Schnellschuss zum Brauchen und Vergessen - sieht man von den beiden Hauptdarstellerinnen ab.

Unsäglich ist das Machwerk «How to Have Sex» von Molly Manning Walker. Die Londoner Kamerafrau schickt Teenager auf Party- und Sauftour nach Kreta. Doch die hirnverbrannte «Genussorgie» ist weder sexy noch sinnlich und schon gar nicht sinnvoll oder kritisch. Zum Vergessen auch für ein Popcorn-Publikum.

Gespannt sein darf man indes auf die deutsch-schweizerische TV-Koproduktion «Davos 1917». Am ZFF wurden die beiden ersten Episoden von sechs aufgeführt. Der Nobelort Davos dient als Schauplatz der Spionageserie, die in der Weihnachtszeit ausgestrahlt werden soll. Die ambitionierte Krankenschwester Johanna (die Luzernerin Dominique Devenport) gerät ins Netz der internationalen Geheimdienste, auch auf Betreiben der Deutschen Ilse von Hausner (Jeanette Hain). Regie des grossen Serienpakets führen der Schweizer Jan-Eric Mack, Anca Miruna Lăzărescu und Christian Theede. Das könnte ein TV-Erfolg werden nach dem Muster von «Babylon Berlin», weniger glamourös und zeitnah, aber spektakulär (Bergwelt) und vernetzt spannend.

Alte Klasse bleibt alte Klasse über alle Genderdiskussionen hinaus. Das bewies einmal mehr der Filmmeister Wim Wenders. Er wartet am ZFF 2023 mit zwei Filmen auf. «Perfect Days» beschreibt den Alltag eines Mannes im Dienst der Tokyo Toilet. In der japanischen Millionenstadt findet Toilettenreiniger Hirayama seinen Frieden und manchmal auch ein bisschen Liebe. Ein wunderbares, stilles Stadtpoem. Dem deutschen Künstler Anselm Kiefer hat Wenders zweieinhalb Filmjahre gewidmet. Mit «Anselm – Das Rauschen der Zeit» (3 D) ist ihm ein einzigartiges Kunst- und Künstlerporträt gelungen. Ein Meisterwerk über einen Meister der bildenden Kunst. Das sind Lichtblicke.

Preise. Am ZFF 2023 wurde der türkische Regisseur Selman Nacar für seinen Spielfilm «Hesitation Wound» mit dem Golden Eye ausgezeichnet. Der ägyptische Filmer Ibrahim Nash’at hatte zwei Jahre lang Taliban-Führer begleitet. Sein Film «Hollywoodgate» wurde in der Kategorie Fokus ausgezeichnet. Ein Golden Eye erhielt auch der Dokumentarfilm «In the Rearview» von Maciek Hamela, ein Film über die russische Invasion in der Ukraine. Alle drei Wettbewerbssieger wurden mit 25'000 Franken belohnt. Mit diesen Awards setzten die Jurys eindeutig politische Zeichen.


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Veröffentlicht Oktober 2023