Filmer, Produzent, Förderer Villi Hermann: «Wichtig für mich ist immer auch ein kritischer Blick in die Vergangenheit.» (Bild: Imagofilm)


Villi Hermann, Produzent und Filmer, wird in Solothurn 2021 die Retrospektive gewidmet

«Ich versuche, Filme zu produzieren, die einen direkten Bezug haben zu mir und zu uns allen.»

Notgedrungen finden die 56. Solothurner Filmtage nur online statt (20. bis 27. Januar 2021). Eröffnet wird die Schweizer Werkschau mit dem Tessiner Spielfilm «Atlas» von Niccolò Castelli am 20. Januar, produziert von Imagofilm, Italien und Belgien. Villi Hermann, Begründer und Produzent von Imago, ist die diesjährige Retrospektive in Solothurn gewidmet. Sie umfasst rund ein Dutzend Langfilme und zwei Kurzfilmprogramme.

1941 in Luzern geboren, feiert der Filmschaffende Villi Hermann im neuen Jahr nicht nur seinen 80. Geburtstag, sondern er wird auch an den 56. Solothurner Filmtagen mit einer Retrospektive (Rencontre) gefeiert. Der Innerschweizer ist seit 40 Jahren im Tessin heimisch, gründete 1981 die Produktionsfirma Imagofilm in Lugano und lebt in Malcantone. Rund zwei Dutzend Regiearbeiten stehen auf seinem Palmarés. Grob unterteilt lässt sich sein Werk in folgende Kapitel lesen: Auf eine experimentielle Phase, beginnend in Zürich (Filmkollektiv), folgen Dokufiction wie «San Gottardo» (1977). Dann entstehen andere zeitkritische Filme wie «Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)», 1980, mit Niklaus Meienberg und Hans Stürm, «Matlosa» (1981) oder «Bankomatt» (1989) mit Bruno Ganz. Ab 2000 gilt Hermanns spezielles Interesse Schweizer Themen, etwa «Luigi Einaudi. Diario dell'esilio svizzero» (2000) oder «Gotthard Schuh – Eine sinnliche Sicht der Welt» (2011). Parallel dazu produziert er mit Imagofilm Filmwerke wie «Sinestesia» von Erik Bernasconi oder «Tutti Giù» von Niccolò Castelli. Dessen neustes Werk «Atlas» wird die Solothurner Filmtage 2021 eröffnen (der erste Tessiner Spielfilm als Eröffnungsfilm). Villi Hermann ist ein vielseitiger Filmschaffender, der Brücken zwischen verschiedenen Schweizer Kulturteilen und Regionen schlägt. Ihm sind heimische Themen, Geschichten und Geschichte wichtig. Er ist kreativer Mentor, Filmemacher und Erzähler, der nicht nur abbildet, sondern tiefer blickt und anregt. In Zeiten der Corona haben wir das Interview schriftlich geführt.

Auch das neue Jahr 2021 steht im Zeichen der Pandemie- So müssen die 56. Solothurner Filmtage ohne Publikum über die Online-Bühne gehen. Du wirst mit einer Retrospektive geehrt, der «Rencontre Villi Hermann». Wie muss man sich, wie stellst du dir das vor?
Villi Hermann: Es war alles geplant in den Kinos in Solothurn mit Publikum und Diskussionen, vor allem wollten wir auch 35mm Filmkopien vorführen, ein wenig Vintage-Nostalgie. Kopien, die eine andere Farbstruktur und eine andere Helligkeit haben. Leider jetzt alles online, kein Publikum und vor allem keine spontanen Reaktionen nach einer Projektion. Online, totale Absenz, keine intuitiven Angriffe. Aber man muss weiter an Film glauben, ans Publikum denken. Diese Periode fordert uns auch heraus.

Eine Retrospektive (Rencontre) ist immer auch Ehrung einer Karriere, eines Lebenswerks. In diesem Fall bist du der dritte Tessiner Filmschaffende nach Renato Berta (2007) und Silvio Soldini (2013), dem diese Sektion gewidmet ist. Was empfindest du ein paar Wochen vor diesem (virtuellen) Anlass?
Reden wir bei mir nicht von Karriere. Karriere machte Renato Berta, bei uns «Ciccio» genannt, vor allem in Frankreich, er wanderte sehr früh nach Paris aus. Mit ihm drehte ich «San Gottardo». Soldini machte Karriere in Italien. Ich bin Filmemacher mit einem eigenen kleinen Atelier, eine «bottega», eine Bilderwerkstatt, die mit Filmfreunden zusammenarbeitet. Es befindet sich in einer ehemaligen Schulbaracke, und meine Nachbarn sind unabhängige Theaterleute.

Deine Wurzeln liegen in der Zentralschweiz, du bist in Luzern geboren, hast dich aber vor allem im Tessin als Filmschaffender und Produzent – Gründung von Imagofilm –, verdient gemacht. Dabei lagen dir vor allem Schweizer Themen und Geschichten am Herzen. Wie würdest du dein Schaffen, deine Karriere charakterisieren?
Wo man geboren wird, ist sicher oft ein Zufall. Meine Familie ist eine «Emigranten-Familie». Meine Mutter wurde in Frankreich geboren. Weil die meisten Tessiner aus dem Malcantone emigrieren mussten, nach «California» oder «Argentina», zogen meine Grosseltern nach Grenoble in Frankreich, arbeiteten dort als Gipser und Maler. Meine Mutter emigrierte als Kind in die Deutschschweiz und arbeitete dort in der Textilindustrie. Mein Vater kam aus einer Protestanten-Bauernfamilie im katholischen Kanton Luzern. Wir sprachen immer drei Sprachen untereinander mit den entsprechenden Dialekten. Ich lebte längere Zeit in Deutschland und Frankreich. Ich mache Filme mit Leuten und Themen, die mich berühren oder irritieren. Ich glaube, unsere Heimat hat genug Probleme, die man beleuchten kann und sollte. Man muss nicht immer weit weg reisen, um Themen zu finden. Ich versuche, Filme zu produzieren, die einen direkten Bezug haben zu mir und zu uns allen. Ich habe Filme in allen drei Landesprachen gedreht oder produziert.

In letzter Zeit warst du vor allem als Produzent aktiv, beispielsweise beim Spielfilm «Cronofobia» (2018). Was reizt dich an dieser kreativen und anspruchsvollen Aufgabe?
Ich kann nicht Anleitungen und technische Daten lesen und verstehen. Ich komme aus der analogen Welt, wollte aber die digitale Entwicklung sofort mitmachen. Der einfachste Weg für mich war, von und mit der jungen Filmgeneration zu lernen. Es ist fast eine Win-win-Situation. Zudem wird es sicher immer schwieriger, für junge Cineasten ihren ersten Spielfilm zu erstellen. Mir hat man auch damals geholfen, wie Xandi Seiler oder Enzo Regusci.

Verstehst du dich als Förderer des italienischsprachigen Filmnachwuchses, der einen Brückenschlag zwischen dem Tessin und der Deutschschweiz anstrebt?
Ich bin kein Förderer wie das BAK oder unser Tessiner Fernsehen RSI, die Filmideen fördern. Ich begeistere mich für Filmprojekte, von denen man mir erzählt. Zusammen mit dem Cineasten entwickeln wir das Drehbuch, suchen nach Drehorten, träumen von Schauspielern, und nach vielen Jahren entsteht dann «endlich» der Film. Dies war bei Alberto Meroni, Erik Bernasconi, Francesco Rizzi und jetzt wieder mit dem neuen Film «Atlas» von Niccolò Castelli der Fall. Mich reizen Herausforderungen, für sogenannte einfache «Plot Filme» habe ich keine Sympathie. Jean-Luc Godard sagte einmal, «Ein Film muss einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, aber nicht in dieser Reihenfolge». «Ombre», «Sinestesia», «Tutti Giù», «Cronofobia» und vor allem «Atlas» sind keine «straigt-forward-films», die ich produzierte.

Wie siehst du deine Stellung, Intension und Aufgabe – als Kreator, Förderer, Vermittler …?
Ja, kein Förderer, eher ein «go-betweener». Damals hatte ich eine Filmschule in London besucht, wo wir uns immer gegenseitig halfen, aber auch in Konkurrenz waren. Ich glaube, wir sollten mehr reden und debattieren über Filmsprache, und dies nicht den Filmjournalisten überlassen. Schriftsteller schreiben und kritisieren andere Bücher, ich kenne fast keine Filmer, die öffentlich über andere Filme reden oder sich getrauen, zu reden und zu beurteilen.

Du bist auch als Filmsenior mit fast 80 Jahren aktiv, rüstig, innovativ – was motiviert dich heute noch?
Ich habe während des Lockdown in aller Ruhe drei Schwarzweiss-Kurzfilme kreiert. Alles online, remote. Wir trafen uns nie, nur via Telefon, Internet oder E-Mail. Drei Filmfreunde und drei Filme zusammen mit dem Schriftsteller Alberto Nessi, dem Musiker Zeno Gabaglio und dem Filmer Alberto Meroni. «Ultime luci rosse» wird in Solothurn uraufgeführt.

In den Kinos wurden die Vorhänge herunter gelassen. Ein Ende ist auch im Januar 2021 nicht abzusehen. Streaming und Kino im Sessel daheim ist zurzeit angesagt. Wird das Kino überleben – und wenn wie?
The show must go on.

Wie sehen deine Pläne, deine Aktivitäten aus?
Wir bereiten einen Film vor über einen der wichtigsten italienischen Schriftsteller, Mario Rigoni Stern, ein Mann, der den Krieg erlebte, darüber schrieb und nachdachte. Er war auch ein Bewunderer und Verteidiger der Bergwelt und weilte sehr oft im Ticino.

Das Kino, wie wir es vor Corona erlebten, wird sich sicher ändern, aber wie?
Das ist nicht meine Aufgabe. Ich glaube an eine visuelle Darstellung und filmische Versuche, um so uns und die Nachbarn zu hinterfragen. Wichtig für mich, ist immer auch ein kritischer Blick in die Vergangenheit.


Rencontre Villi Hermann – die 19 Filme
Die Filme starten um 12 Uhr und bleiben 72 Stunden online. Ticketpreis für einen Film oder ein Kurzfilmprogramm beträgt 10 Franken (per Kreditkarte).
Die Anzahl der Plätze sind limitiert. Für die Online-Vorführung sind jeweils 1000 Plätze reserviert.
Informationen: solothurnerfilmtage.ch
Telefon 032 625 80 88
support@solothurnerfilmtage.ch

Samstag, 23. Januar, ab 12 Uhr
Kurzfilmprogramm (7)
«10ème essai» (2002), Dokfilm
«Letten» (2010), Dokfilm
«Ultime luci rosse» (2019), Dokfilm
«Fed up» (2001), Experimentalfilm
«Giovanni Orelli. Finestre aperte» (2012), Dokfilm
«Nostalgie. Malen Sie das Paradies» (2021), Dokfilm
«Leumann» (2007), Dokfilm

Mittwoch, 20 Januar, ab 22 Uhr
«Per un raggio di gloria» (2011), Experimentalfilm

Donnerstag, 21. Januar, ab 12 Uhr
«Tamaro. Pietre e angeli. Mario Botta Enzo Cucchi» (2013), Dokfilm
«Matlosa» (2006), Spielfilm

Freitag, 22. Januar, ab 12 Uhr
«Ombre» (2015), Spielfilm
«Tutti Giù» (2016), Spielfilm

Samstag, 23. Januar, ab 12 Uhr
«San Gottardo» (2004), Doku-Fiction

Sonntag, 24. Januar, ab 12 Uhr
«Pédra. Un reporter sans frontières» (2014), Dokfilm
«Cerchiamo per subito operai, offriamo…» (2003), Dokfilm
«Innocenza» (2008), Spielfilm

Montag, 25. Januar, ab 12 Uhr
«Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten» (2005), Dokfilm

Dienstag, 26. Januar, ab 12 Uhr
«Bankomatt» (2009), Spielfilm
«CHoisir à 20 ans» (2017), Dokfilm


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Veröffentlicht Januar 2021