Persischstunden /Persian Lessons

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Sprachverständnis: SS-Hauptsturmführer Koch (Lars Eidinger) macht das Opfer Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) zum Vertrauten. (Frenetic Films)



Persisch zum Überleben


Ein Frage des Überlebens: Der belgische Jude Gilles gerät 1942 in die Fänge der SS, gibt sich als Perser aus, findet das Interesse eines SS-Führers im KZ und erfindet eine eigene Farsi-Sprache ... Unglaublich. So oder ähnlich sollen sich Überlebensgeschichten während der Naziherrschaft zugetragen haben. Der Spielfilm «Persischstunden» basiert auf der Kurzgeschichte «Erfindung einer Sprache» von Wolfgang Kohlhaase. Der Jude Gilles (Nahuel Pérez Biscayart), von den Nazis gefangen, in ein KZ im Nordosten Frankreichs verschleppt und «versorgt», hatte ein persisches Buch («Mythen der Perser») gegen Brot getauscht, das ihn jetzt als Perser (und Nichtjuden) ausweisen soll. Er gibt sich als Perser Reza aus und weckt das Interesse des SS-Hauptsturmführers Koch (Lars Eidinger). Denn der will Farsi lernen, um nach Kriegsende in Istanbul ansässig zu werden, wo schon sein Bruder leben soll. Reza soll ihm diese Sprache lehren – und zwar 24 später 40 Worte pro Woche.

Doch wie soll das gehen? Reza droht als «Scharlatan» entlarvt zu werden. Das wäre sein Todesurteil. In seiner Not erfindet Reza ein eigenes «Farsi», in dem er Namen auf KZ-Listen mit Begriffen verbindet und im Kopf speichert. Er gewinnt das Vertrauen des SS-Führers Koch und übernimmt die Aufgaben der Sekretärin Elsa (Leonie Benesch), die den Ansprüchen Kochs nicht genügt und zum Küchendienst verknurrt wird. Reza hat sich so ungewollt eine Todfeindin gemacht. Auch Rottenführer Max Beyer (Jonas Nay) ist misstrauisch und hält den «Schutzbefohlenen» für einen Betrüger. Er tut alles, um den «Perser» zu entlarven. Fast fliegt Reza auf, als er bei einem Picknick der SS-Schergen ein «falsches» Wort verwendet und einen Wutausbruch seines Protegé auslöst. Rezas Schicksals scheint besiegelt, doch Koch begnadigt seinen Zögling. Brandgefährlich wird's für den «Lehrer» Reza, als ein Brite mit persischen Wurzeln eingeliefert wird und ihn verraten könnte. Doch italienische Gefangene schützen ihn …

Dieser Spielfilm geht einem an die Nieren, wühlt auf, erschüttert und lässt einen fassungslos zurück. Der Spruch «Not macht erfinderisch» klingt viel zu harmlos, um dieses Drama zu umreissen. Die irrsinnige Tragödie – nicht ohne komische Momente – schildert gefangene Menschen in Extremsituationen, beschreibt ein Klima der Angst, Brutalität und Gewalt, aber auch das intime Verhältnis von Täter und Opfer. Man nimmt dem skrupellosen SS-Handlanger Koch sogar ab, dass er Gefühle und menschliche Seiten hat. Koch sieht in Reza einen Verbündeten im Geiste und wähnt sich als Protegé.

Regisseur Vadim Perelman, als jüdisches Kind 1963 in Kiew geboren, schuf ein packendes, geradezu absurdes Drama über menschliche Abgründe mit zwei ergreifenden Hauptfiguren – mit einem diabolisch guten Lars Eidinger («Schwesterlein«) als Menschenverachter und Menschenfreund sowie Nahuel Pérez Biscayart als kreative geknechtete Kreatur Reza/Gilles. Unvergesslich und ungeheuerlich, als dieser nach Kriegsende einem britischen Offizier Rede und Antwort steht, und 2840 Namen von KZ-Häftlingen aus seinem «Farsi-Gedächtnis» nennt. Die deutsch-russische Koproduktion «Persischstunden/Persian Lessons» ist auch eine Lehrstunde über das Vergessen, über das Ungeheuer Mensch mit zwei (oder mehr) Seiten.


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Deutschland, Russland 2019  

127 Minuten


Regie: Vadim Perelman
Buch: Ilya Zofin
Kamera: Vladislav Opelyants

Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Lars Eidinger, Jonas Nay, Leonie Benesch, Alexander Beyer


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