Schwesterlein

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Seelenverwandtschaft: Lisa (Nina Hoss) gibt alles für ihren todkranken Zwillingsbruder Sven (Lars Eidinger). (Praesens Film)



Verlorene verzehrende Liebe


An den Filmfestspielen in Berlin fand das Drama um ein Geschwisterpaar starke Beachtung. Jüngst wurde «Schwesterlein» von der Schweiz für die Oscar-Nominationen angemeldet. Auch wenn namhafte deutsche Schauspieler im Mittelpunkt stehen und Aushängeschild sind, hat das berührende Seelendrama Schweizer Touch. Vega Film (Ruth Waldburger) ist Produzent, die Schweizerinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond schrieben Drehbuch und führten Regie. Altstar Marthe Keller («Homo Faber») agiert als überforderte Mutter des erkrankten Schauspielers Sven. Demnächst wird sie auch in der Comédie Humaine «Wanda, mein Wunder» von Bettina Oberli zu sehen sein, die das Zurich Film Festival am 24. September eröffnet.

Das Lied «Schwesterlein» von Johannes Brahms ist das musikalische Leitmotiv, und da heisst es: «Schwesterlein, Schwesterlein, wann gehen wir nach Haus? 'Morgen wenn die Hahnen krähn, wollen wir nach Hause gehen. Brüderlein, Brüderlein, dann gehen wir nach Haus.'» Das melancholische Volkslied, von Brahms adaptiert, deutet eine Liebe an, von der das Schwesterlein verzehrt wird und sich nach dem Tod sehnt. Stéphanie Chuat und Véronique Reymond haben die Verhältnisse in ihrem Spielfilm verschoben. Sven, ein Star an der Berliner Schaubühne, ist schwer an Leukämie erkrankt. Seine Zwillingsschwester Lisa (Nina Hoss) umsorgt ihn mütterlich. Die Mutter selbst (Marthe Keller) hat viel zu sehr mit sich selber zu tun. Geradezu besessen will Lisa ihrem Zwillingsbruder auf die Beine helfen. Dabei machen sich beide etwas vor, verdrängen Tatsachen und brutale Gegebenheiten.

Sven, der gefeierte «Hamlet» (auch im wirklichen Theaterleben feiert Darsteller Lars Eidinger seit Jahren Riesenerfolge als «Hamlet» und «Richard III.»), will zurück auf die Bühne. Koste es, was es wolle. Der Schaubühne-Intendant David, gespielt vom wahren Intendanten Thomas Ostermeier, ist dagegen. Er traut dem todkranken Star kein Comeback zu, denkt an ein mögliches Versagen und das Wohl seines Hauses. Lisa nimmt ihren Bruder zur Erholung mit in die Schweiz, nach Leysin, wo ihr Mann Martin (Jens Albinus) eine leitende Lehrerstelle hat. Lisa, die Theaterautorin, leidet an einer Schreibblockade und leugnet den wahren Grund ihrer Schwäche. Sie ist verstummt, seitdem sie von der Diagnose ihres Bruders weiss. Sie ist vollkommen auf ihren Bruder fixiert, nimmt selbst eine schwere Ehe- und Familienkrise in Kauf.

Man sieht es förmlich kommen, alle Liebesbeweise und -opfer nützen nichts, auch nicht ihr Stück von «Hänsel und Gretel», das sie für ihren Bruder verfasst hat. Ein Abschied? Eines Nachts, wieder in Berlin, formt sie in einem Sandkasten ein Labyrinth. Es scheint, als könne sie ihren eigenen Verstrickungen entkommen. Das letzte Bild gehört ihr.

Das Schweizer Regieduo lieferte mit ihrem zweiten Spielfilm nach «La petite chambre» (Das kleine Zimmer) ein kleines Meisterstück. Die beiden Filmschaffenden Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, seit der Schulzeit in Liebe zur Bühne und zum Film verbunden, schufen ein intimes Liebesdrama der anderen Art. Sie beschreiben eine Seelenverwandtschaft in starken Bildern mit starken Schauspielern. «Schwesterlein» berührt. Kino, das bewegt und ans Herz geht – ohne Schmalz, falsche Töne oder Kalkül.


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Schweiz 2020  
99 Minuten

Buch und Regie: Stèphanie Chuat und Véronique Reymond
Kamera: Filip Zumbrunn

Darsteller: Nina Hoss, Lars Eidinger, Marthe Keller, Jens Albinus, Thomas Ostermeier


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