Das schweigende Klassenzimmer

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Eine Schulklasse protestiert still, und der DDR-Staat will die Schüler zur Räson bringen. (Look Now!)



Schweigen über Schweigeminuten


Unglaublich, aber wahr. Gut ein Dutzend junger Leute – sie stehen kurz vor dem Abitur – solidarisiert sich mit den ungarischen Aufständischen 1956. Eine Abiturklasse hält zwei Schweigeminuten ab. Der Lehrer ist irritiert, meldet den Vorfall weiter, Schuldirektor Schwarz (Florian Lukas) will beschwichtigen, verharmlosen. Doch dann werden Funktionäre wie die Kreisschulrätin Kessler (Jördis Triebel) aktiv. Schliesslich greift Volksbildungsminister Lange (Burghart Klaussner) höchst persönlich ein, um die Schüler zur Räson zu bringen, heisst den oder die Rädelsführer ausfindig zu machen. Wir befinden uns in der DDR, in Stalinstadt, einem Muster von Arbeitersiedlung 1950 errichtet, später in Eisenhüttenstadt umbenannt. Im besagten Jahr 1956 schossen und schlugen sowjetische Panzer und Soldaten den Aufstand in Ungarn nieder. Die kleine Geste eines stillen Protestes, auch wegen des vermeintlichen Todes des bekannten ungarischen Fussballers Ferenc Puskás, wurde zum Staatsakt, die Mücke zum Elefanten aufgebauscht, die Schweigeminuten als Zeichen der Konterrevolution eingestuft. Staats-Faschist Langer, der sich selber lauthals als Kommunist anpreist, will nun mit allen, auch unlauteren Mitteln (Drohungen, Manipulationen, Lügen) herausfinden, wer die Idee zu dieser Schweigeminuten hatte, wer der Rädelsführer war. Die Klasse hält dicht, verhält sich solidarisch – trotz des doppelten Drucks durch den Staatsapparat und durch die Eltern. Wenn die Schüler über die Schweigeminuten schweigen, soll ihnen das Abitur in der gesamten DDR verwehrt werden, drohen die Staatsfunktionäre.

Die hohe Kinokunst des Regisseurs und Autors Lars Kraume («Der Staat gegen Fritz Bauer», 2015, ebenfalls mit Klaussner und Ronald Zehrfeld) besteht einerseits darin, dass die damaligen DDR-Verhältnisse inklusive gesellschaftlichem Klima überzeugend nachgezeichnet werden, andererseits kein plattes Solidaritätsdrama oder eine Abrechnung mit der DDR abgeliefert wird. Kraume zeichnet in seinem Film eine tatsächliche Begebenheit von 1956 nach, die sich in der Stadt Starkow abgespielt hat, basierend auf dem Buch von Dietrich Garstka, einem der betroffenen Schüler («Das schweigende Klassenzimmer, eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg», 2006).

Der Filmer personifiziert Zeitgeschichte durch persönliche Schicksale und Verhältnisse. So wird der Schüler Erik (Jonas Dassler) wie sein Vater zum «Verräter», in dem er unter Druck den schwulen Einsiedler Edgar (Michael Gwisdek) nennt, bei dem die Schüler verbotenerweise den Westsender Rias Berlin hören. Verzweifelt läuft Erik Amok. Kurts (Tom Gramenz) Vater (Max Hopp) ist Staatsvorsitzender und versucht seinen Sohn, auf Linie zu bringen. Vergeblich. Aber er hilft ihm am Ende doch. Hermann Lemke (Ronald Zehrfeld) ist Stahlkocher und versucht seinen Sohn Theo (Leonard Scheicher) zu schützen, hat aber bei den Behörden keine Chance, weil er beim Berliner Aufstand 1953 aktiv war.

Auch wenn die Kirche plötzlich etwas abwegig zum Schauplatz wird und der DDR- Inquisitor Lange arg eindimensional, lächerlich überzeichnet vorgeführt wird, besticht dieses Zeitdokument durch Form und die Schauspielergarde. Das Drama zeigt auch, wie die DDR-Führungsgilde permanent von Konterrevolution durch den kapitalistischen Westen faselte, die Wahrheit verbiegt, den Faschismus marktschreierisch anprangert, selbst aber faschistisch infiziert ist und ähnliche Methoden wie die Nazis anwendet. Ein Film auch, der gerade heute wieder viel zu sagen hat über Lügen und Manipulation, politischen Druck und Duckmäusertum. Am Ende fragt man sich: Wäre solch ein Akt der stillschweigenden Solidarität, der Verbundenheit trotz individueller Unterschiede und Verzicht auf Karrierevorteile heute noch denkbar und machbar. Wohl kaum.



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Deutschland 2018
111 Minuten

Regie: Lars Kraume
Drehbuch: Dietrich Garstka (Buch), Lars Kraume
Kamera: Jens Harant

Darsteller: Leonard Scheicher, Tom Gramenz, Lena Klenke, Jonas Dassler, Ronald Zehrfeld, Burghart Klaussner, Michael Gwisdek


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