Couleurs de l‘incendie

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Operndiva Solange (Fanny Ardant, Bild oben) sorgt vor gesamter Nazi-Prominenz für einen Eclat. Finanzhai Gustave (Benoît Poelvoorde, Bild unten) wird von Madeleine (Léa Drucker) vorgeführt. (JMH)

 


Brüchige Gesellschaft – betrogen und belogen

 
Dunkle Wolken ziehen auf – elf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs. Am Schwarzen Donnerstag 1929 crasht die Börse in New York. Die Welt schliddert in eine Finanzkrise. In diesem Jahr stirbt auch Marcel Péricourt, ein angesehener Bankgründer in Paris. Bei der Totenfeier vor dem stattlichen Stadtpalais wird der Enkel Paul (Octave Bossuet) gesucht, der sich versteckt hat. Vor wem? Dann taucht der Knirps plötzlich am Fenster im oberen Stockwerk auf und stürzt sich hinunter. Schock. Der Enkel des Toten überlebt – aber gelähmt im Rollstuhl.
Bei der Testamentseröffnung später flippt Charles (Olivier Gourmet) aus, weil Péricourts Tochter Madeleine (Léa Drucker) samt Sohn Paul das Haupterbe zugesprochen wird. Auch Gustave Joubert (Benoît Poelvoorde), stellvertretender Bankdirektor, ist ungnädig und sauer, will mehr, umwirbt Madeleine, wird aber abgewiesen. 

Und das Unheil nimmt für die Haupterbin seinen Lauf. Gustave legt finanzielle Fallstricke aus. Madeleine, die unbedarfte Finanzfrau, übernimmt die Regie des Finanzimperiums Péricourt, setzt alles aufs Spiel und verspekuliert sich – und verliert alles. Der hinterhältige Finanzfuchs Gustave reisst das Péricourt-Imperium an sich – mit dem jämmerlichen Onkel Charles im Schlepptau. Nicht genug, der cholerische Finanzkrösus Gustave will auch als Unternehmer gross rauskommen, und lässt ein Triebwerk für Düsenflugzeuge entwickeln. Und das Anfang der Dreissigerjahre, als die Rüstungsindustrie boomt und sich ein faschistischer Sturm über Europa zusammenbraut.
Und so entwickelt sich im zweiten Teil des Gesellschafts- und Finanzdramas ein Rachezug und Ränkespiel um Prestige, Macht und Erfolg, bei dem auch André (Jérémy Lopez), ehemals Tutor des jungen Paul, und Léonce Picard (Alice Isaaz) mitmischen. Diese diente vormals Madeleine, hinterging sie und ehelichte Gustave. Monsieur Dupré (Clovis Cornillac), Chauffeur der Péricourts, wird zum wichtigsten Verbündeten und Vertrauten der betrogenen Madeleine Péricourt.

Existenziell für den handicapierten Paul werden die tschechische Betreuerin Vladi (Jana Bittnerova) und die Operndiva Solange Gallinato (Fanny Ardant), die ihm mit ihrer Stimme und Musik neue Lebensqualität gibt. Am Ende setzt sich ein Puzzle zusammen, das sich zum grossen Finale fügt. Das alles eingebettet im historischen Umfeld – vom Börsenkrach und finanziellen Spekulationen über nationalsozialistischen Aufmärschen bis zur Machtergreifung Adolf Hitlers. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Sängerin Solange Gallinato tatsächlich gelebt hat und zu ihrer Zeit eine der bekanntesten Soprane Europas war. Sie trat in der Berliner Oper im September 1933 auf und starb auf der Rückreise im Zug nach Amsterdam. Ihr Auftritt im Film, grandios verkörpert durch Fanny Ardant, bewirkt Gänsehaut: Sie intoniert den Gefangenchor aus Verdis «Nabucco», solo nur von einem Pianisten begleitet, vor Hitler und seinen Schergen.
 
Clovis Cornillacs Spielfilm – er selbst spielte Monsieur Dupré, Dienstleister, Beobachter, Mittäter und Geliebter – basiert auf dem gleichnamigen Roman «Die Farben des Feuers» (Couleurs d’indendie, 2017) von Pierre Lemaitre. Die geplante Zwischenkriegstrilogie startete er 2013 mit dem Roman «Wir sehen uns dort oben» (Au revoirlà-haute) über Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg. Lemaitre ist auch als Krimiautor bekannt.
Der Spielfilm und das Buch über die «Farben eines sich ankündigenden Weltbrandes» entpuppt sich als Zeit- und Gesellschaftsbild, Finanzthriller (Steuerhinterziehung), Liebes- und Rachedrama – verzwickt und zugenäht für manche Zuschauer. Dass nebenbei eine fiktive Schweizer Bank, die Bankunion Winterthur, als Pionier für Nummernkonti herhalten muss, verleiht diesem Polit-Panorama mit Krimielementen zusätzliche Würze.

Der Absturz eines Kindes am Anfang steht sinnbildlich für den Absturz eines Bankenimperium, aber auch für moralischen und gesellschaftlichen Verfall, überhaupt für den sich ankündigenden europäischen Flächenbrand. Ein grandioses Panorama. Parallelen zu heute drängen sich auf.
 

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Frankreich 2022    
135  Minuten

Regie: Clovis Cornillac
Buch: Pierre Lemaitre
Kamera: Thierry Pouget
Mitwirkende: Léa Drucker, Benoit Poelvoorde, Nils Otherin Girard, Alice Isaaz, Clovis Cornillac, Olivier Gourmet, Fanny Ardant
 

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