Poor Things

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Eine Kreatur macht sich selbständig: Bella (Emma Stone) lernt nicht nur gehen und sprechen, sondern auch lieben. (Disney/Searchlight Pictures)



Ein Geschöpf emanzipiert sich von seinem Schöpfer


Die Stationen heissen London, Lissabon, Alexandria, Paris und wieder London. Die Zeit mäandert zwischen viktorianischer Epoche und surrealer Gegenwart. Ein Klavier, ein Professor, sein Assistent Max McCandles (Ramy Youssef) und ein Wesen, das ungelenk durch die noble Wohnung stakst: Bella ist eine junge Frau, erfahren wir später, mit dem Hirn eines Kleinkinds. Ihr Schöpfer Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe), den sie «God» nennt, hat quasi zwei Menschen «vereint», hat einer Selbstmörderin das Hirn ihres Kindes eingepflanzt. In der feudalen Villa des experimentierfreudigen Wissenschaftlers tummeln sich abartige Kreaturen wie eine Bulldogge mit Ganskörper oder eine Ente mit Hundskopf. Der Schöpfer selber sieht aus wie Frankensteins Monster. Eine kleine Horrorshow in Schwarzweiss zum Auftakt.

Das Blatt bzw. die Geschichte nimmt eine abrupte Wendung, als Bella ihren Körper (Klitoris) erkundet und Begierden entdeckt. Schamlos. Der verliebte Max hat das Nachsehen, sie brennt mit dem dubiosen Anwalt und Frauenheld Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) durch, der total von ihr «angefressen» ist. So schippern die beiden von Lissabon durchs Mittelmeer. Auf dem Schiff lernt Bella die Frauenrechtlerin Martha von Kurtzroc (Hanna Schygulla) kennen, die ihr neue Perspektiven öffnet.

Das Liebesleben mit Ducan, der längst überfordert ist, wird ihr langweilig. Sie entdeckt ihr soziales Gewissen und entpuppt sich in Alexandria als Spenderin (sie verteilt die Spielgewinne Duncans unter den Armen). Mehr noch, sie erkennt den Wert ihres Körpers, heuert in Paris in einem Bordell an und macht sich quasi unabhängig. Am Ende kehrt sie heim, möchte das Erbe (die Praxis) ihres «Godfathers» Baxter übernehmen.

Diese Entdeckungs- und Selbstfindungsreise dauert über 140 Minuten und langweilt keine Minute. Sie basiert auf dem Roman «Poor Things» und einer Erzählung aus diesem Werk vom Schotten Alasdair Gray («Episodes from THE Early Life of Archibald McCandless M.D. Scottish Public Health Officer», 1992). Zweifellos nehmen literarische Vorlage und Spielfilm Bezug auf Mary Shelleys «Frankenstein» (1818). Ironischerweise taucht der Name McCandles(s) auch in Yorgos Lanthimos schrägem, skurrilem Film auf. Er ist in Bella verliebt und wird ihr Ankerplatz.

Mal expressionistisch düster wie in alten Stummfilmen, mal aufdringlich kitschig mit malerischen Ansichten und Sonnenuntergängen, mal deftig, plüschig, auch komisch und abstrus. Ein verrückter Film. Und mittendrin Bella, ein Wesen zwischen künstlicher Kreatur und sexgetriebenem Vollblutweib. Sie geht ihren Weg und befreit sich. Emma Stone verkörpert dieses Wesen mit allen Poren, mit Leib und Seele (stark oscarverdächtig). Sie sprengt Konventionen und Geschlechterrollen. Nebenbei, die Männer strampeln sich ab, werden aber von Bella ausmanövriert. Man kann sich auch zweimal auf diese irrwitzige Kinoreise begeben – mit Gewinn.


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GB 2023
141 Minuten

Regie: Yorgos Lanthimos
Buch: Tony McNamara
Kamera: Robbie Ryan

Darsteller: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Hanna Schygulla


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