Nemesis

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Nicht der Zahn der Zeit, sondern Abrissbirne und Bagger haben den Zürcher Güterbahnhof in seine Einzelteile zerlegt und abgetragen: Ein behördlich verfügter Akt des städtischen Bau-Vandalismus. (Frenetic Films)



Wenn die Abrissbirne
die Hirne beherrscht und benebelt …


Dem Zürcher Güterbahnhof wird der Garaus gemacht. Man (Politik) hatte beschlossen, an dieser Stelle ein Gefängnis- und Polizeizentrum zu errichten. Aus unmittelbarer Nachbarschaft hat der Filmer Thomas Imbach diesen Akt der Zerstörung über sieben Jahre verfolgt… Es war einmal ein Bahnhof, ein Güterbahnhof, der 1897 in wenigen Monaten aus dem Boden gestampft bzw. hochgemauert wurde. Es war seinerzeit der grösste und modernste Güterbahnhof Europas und trug wesentlich zur Prosperität Zürichs bei – als Umschlagsplatz. Im Februar 1919 wurden bereits eine Millionen Güter umgeschlagen. Im Laufe der Jahrzehnte kamen Erweiterungsbauten hinzu. Letztlich umfasste das Areal eine Grösse von 15 Fussballfeldern. Doch damit endet das vermeintliche Märchen … denn unheilvolle Allianz von SP, FDP, CVP (Die Mitte) und EVP hatte Böses (Neues) vor und sabotierte ein glückliches Ende. Die politischen Kräfte planten 2003 ein neues Polizei-und Justizzentrum, das anstelle des historischen Güterbahnhofs entstehen sollte. Vor allem die SP warb bei der kantonalen Abstimmung dazumal für eine «befreite Kaserne». So wurde das denkwürdige Gebäude dem Tode geweiht. Im Mai 2013 rückten Bagger mit Abrissbirnen und Greifern an.

Dieser städtische Vandalismus, verantwortet von Stadt und Kanton Zürich, der das SBB-Gelände 2012 gekauft hatte, beschäftigte den Filmer Thomas Imbach («Well Done», «Glaubenberg», «Happiness is a Warm Gun») zutiefst. Er war bestürzt. Von seiner Zürcher Wohnung hatte er direkten Blick auf Abbruch und Aufbruch des Komplexes. Sein jüngstes Dokumentarfilmwerk «Nemesis» widmet sich diesem Zerstörungsakt und dem anschliessenden Neubau (bis zum Rohbau 2020). Über sieben Jahre hat er den brachialen Eingriff mit der Kamera verfolgt, der einem neuen Polizei- und Justizkomplex dienen sollte. Ironie der städtischen Planung: Das konzipierte Gebäude ist trotz seiner millionenschweren Kostenlast zu klein gedacht, stellte der Zürcher Regierungsrat 2014 fest. Der Titel «Nemesis» erinnert an die griechische Göttin des gerechten Zorns und ausgleichenden Gerechtigkeit, Tochter der Nyx (Nacht). Gottvater Zeus soll sich in Schwan-Gestalt mit ihr gepaart haben. Aus dieser göttlichen Beziehung entstammte die schöne Helena, verführt und entführt von Paris, um diese begehrte Frau wurde der Trojanische Krieg angezettelt. Später wurde aus der Richterin Nemesis die Rächerin. Schlägt Nemesis zurück, die Hybris bestraft? Oder prangert sie die Totengräber des Güterbahnhofs an. Der Film tut es leise und hintergründig.

Betrachten wir es genauer. Thomas Imbach legt mit seinem 132-minütigen Bilderwerk eine eindrückliche Dokumentation vor, die ohne Polemik darstellt, wie Behörden ohne historisches Bewusstsein einem denkwürdigen Gebäude den Garaus machen. Er enthält sich jeden Kommentars, lässt Bilder und Menschen sprechen (Voice over), die von ihren Erfahrungen als Flüchtlinge, als Ausschaffungshäftlinge erzählen, erinnert an seine Grossmutter, an den Filmer Peter Liechti, steuert eigene Eindrücke bei. «Nemesis» ist eine persönliche Chronik der zerstörerischen Ereignisse, ein vielschichtiges Poem über Abriss und Abschottung, Einengung, Einsperren und fadenscheinige Öffnung. Imbachs Zeitdokument schildert auch, wie Menschen mit mächtigen Hebeln und Kränen agieren, Hand anlegen für ein kaltes, gesichtsloses Betonmonster. Baugeschichte wurde ausgelöscht, ein neuer Mauernkoloss errichtet.


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Schweiz 2020  
132 Minuten

Buch und Regie: Thomas Imbach
Kamera: Thomas Imbach

Mitwirkende: Arbeiter, Manager, Passanten, Augenzeugen, Graffiti-Künstler, Tänzer, ein Mann im Nemesis-T-Shirt …


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