Beraubt und entwurzelt: Der jenische Strassenkünstler und -musikant Lubo Moser (Franz Rogowski) hat Frau und Kinder verloren. Er wurde ein Opfer der Erziehungsmassnahmen der Pro Juventute. (Xenix)
Opfer eines Hilfswerks – Verschleppt, versorgt, vergessen
Sie waren Aussenseiter, Fremde, auch wenn sie Schweizer waren: Jenische, Roma, Sinti. Sie waren Schweizer Behörden und Bürgern ein Dorn im Auge, eine Gefahr. Die Stiftung «Pro Juventute» lancierte 1926 das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Die Namen spotten aus heutiger Sicht jeder Beschreibung. Die Stiftung war für die Betroffenen keine Hilfe – im Gegenteil – und schon gar nicht eine Stiftung für die Jugend, sondern ein Instrument gegen unangepasste Familien. Im Laufe von Jahrzehnten (1926 bis 1973!) wurden Kinder von ihrer jenischen Familie getrennt und «versorgt», das heisst in Heimen, Waisenhäusern, psychiatrischen Anstalten oder in Pflegefamilien untergebracht. Die Zahl schwankt zwischen 585 (so viele wurden von Pro Juventute dokumentiert) und 2000. Die Schweiz tut sich schwer, dieses düstere, tragische Kapitel einer rigorosen Enteignung, Entfremdung und Erziehung aufzuarbeiten.
Urs Egger hatte das Thema 1992 in seinem Spielfilm «Kinder der Landstrasse» aufgegriffen. Er beschrieb die Entfremdung aus Sicht einer jungen Frau (gespielt von Jasmin Tabatabai). Giorgio Diritts Dreistundendrama «Lubo basiert auf dem Roman «Der Säer (Il Seminatore)» von Mario Cavatore» und umfasst zwei Jahrzehnte. Lubo Moser (Franz Rogowski) ist ein Strassenkünstler mit Akkordeon, der auch mal einen Bären vorführt. Er tourt mit seiner Familie, Pferd und Wagen durch die Schweizer Lande, Fahrende eben im Jahr 1939. Von heute auf morgen wird er eingezogen, der Zweite Weltkrieg! Nur widerwillig zieht er die Uniform an und desertiert, als er erfährt, dass seine drei Kinder von den Behörden «eingezogen» und seine Frau getötet wurde. Er tötet einen Kumpan, den Schmuggler Bruno Reiter (Joel Basman), raubt ihn aus und nimmt dessen österreichische Identität an. Er will sich rächen …
Lubo verwandelt sich mit der Zeit in einen jovialen Geschäftsmann und Frauenbetörer, wird gar zum Gönner bedürftiger Kinder. Wie ein Nomade durchstreift er als smarter Schmuckhändler die Schweiz vom Tessin bis Zürich und in die Ostschweiz, ein Getriebener auf der Suche nach seinen Kindern. Dazu durchstöbert er heimlich die Archive der Pro Juventute, um mehr zu erfahren. Nach Jahrzehnten scheint er Ruhe und Glück in der Tessinerin Margherita (Valentina Bellè) gefunden zu haben, aber Kommissar Motti (Christophe Sermet) ist dem galanten Lubo, der sich selbstsicher in höheren Kreisen bewegt, auf die Schliche gekommen …
Fraglos ist das Drama «Lubo» um das Schicksal eines jenischen Mannes, das auf wahren Begebenheiten beruht, ein wichtiger und bedeutsamer Film, weil er ein inhumanes Kapitel Schweizer Sozialgeschichte aufschlägt. Was unter dem Deckmantel der Umerziehung bis 1973 (!) passierte, ist ungeheuerlich und nicht auszuradieren. Franz Rogowski gibt dieser Figur zwischen verzweifeltem Vater, jovialem Geschäftsmann mit krimineller Energie und Lebenskünstler Gewicht und Überzeugungskraft. Die italienisch-schweizerische Koproduktion, u.a. gedreht am Lago Maggiore, in Bellinzona, Südtirol und St. Gallen, erweist sich indes als ausfransendes Netzwerk und Zeitbild. Der Film verzettelt sich, will mehr als gut wäre. Er wird am Ende zu einem Melodrama, welches das eigentliche Thema «Kinder der Landstrasse» aus den Augen verliert.
Schweiz/Österreich 2023
175 Minuten
Regie: Giorgio Diritti
Buch: Diritti, Fredo Valla
Kamera: Benjamin Maier
Darsteller: Franz Rogowski, Werner Biermeier, Noémi Besedes, Philippe Graber, Christophe Sermet, Joel Basman
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