Verdrängt, vergessen: Die kritische Naturwissenschaftlerin Gertrud Woker (1878–1968) war ihrer Zeit weit voraus, eckte in der dominanten Männerwelt an und wurde stillgeschwiegen. (First Hand Films)
Eine kritische Stimme
totgeschwiegen und vergessen
Sie war ihrer Zeit weit voraus, die erste Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin der Schweiz: Die Bernerin Gertrud Woker war eine unbequeme Wissenschaftlerin, die auf eine Karriere als Biochemikerin zugunsten ihres Engagements für Frieden und Frauen verzichtete. Sie war einer Vorreiterin – international respektiert, aber in der Schweiz ins Abseits gestellt. Niemand kennt sie mehr – ausser ein paar Eingeweihte, Friedensaktivisten und Frauenrechtlerinnen.
Gertrud Woker, 1878 in Bern geboren und 1968 verstorben in einer Psychiatrieanstalt wurde vergessen. Ihre Krankenakte ist unter Verschluss. Über ihre letzten Jahre weiss man nichts Genaues, haben die Filmer Fabian Chiquet und Matthias Affolter feststellen müssen. Die Naturwissenschaftlerin war hochbegabt und wurde an der Berner Universität als Biochemikerin geduldet, ihre Forschungen und ihr Labor von der männerdominierten Wissenschaftsclique jedoch klein gehalten. Sie war den massgebenden Herren zu unbequem, zu kritisch, ja wohl zu suspekt. Gertrud Woker lebte in der falschen Zeit. Sie prangerte den Gaskrieg im Ersten Weltkrieg an, schrieb Bücher darüber, hielt Vorträge und fand internationale Anerkennung. Sie war 1915 Mitbegründerin der Internationalen Frauenvereinigung für den dauerhaften Frieden (heute Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit/IFFFF) und setzte sich zeit Lebens vehement für den Frieden und die Rechte der Frauen ein. Es gibt Bücher über sie, eine Strasse in Bern ist nach ihr benannt. Sie ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt, aber in der Schweiz heute weitgehend unbekannt – verschüttet, verschwiegen.
Der Dokumentarfilm «Die Pazifistin» von Chiquet und Affolter ist als Spurensuche angelegt, zugleich aber auch animiertes Werk übers und vom Vergessen. Aus spärlichen Dokumenten – Fotos, Schriften, Gedichten, Zeitzeugnissen – haben die Filmer eine vielschichtige Filmcollage kreiert. Alte Aufnahmen werden mit zeitgemässen Naturaufnahmen und Trickzeichnungen verknüpft. Das feinsinnig montierte Porträt schafft so aus Fragmenten ein lebendiges Bild einer engagierten, unverstandenen, «verrückten» Frau, die wunderbare Gedichte wie das vom Blättchen schuf (rezitiert von Dodo Hug). Selbst Verwandte und Grossneffen werden erst durch den Film auf ihre verkannte Grosstante aufmerksam. Und so schliesst sich der Kreis im Film vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in dem der vergessenen Frauen- und Friedenskämpferin von ihren Grossneffen an ihrem Haus in Merligen am Thunersee eine Grabtafel montiert wird. Gertrud Woker, eine selbstbestimmte, aber kleingeredete und diskriminierte Frau, war gedanklich und ethisch ihrer Zeit weit voraus und hat uns heute so viel zu sagen wie damals. Heute findet sie wahrscheinlich mehr offene Ohren und Geister als dazumal – und das nicht nur in feministischen Kreisen.
Schweiz 2021
75 Minuten
Buch und Regie: Fabian Chiquet und Matthias Affolter
Kamera: Gregor Brändli
Mitwirkende: Franziska Rogger, Martin Woker, Gerit Von Leitner, Dodo Hug (Stimme)
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