Gespannte, labile Verhältnisse: Dirigent Tom Lunies (Lars Eidinger, Bild oben) erfährt, dass ihn seine Mutter Lissy (Corinna Harfouch, Bild unten) nie gewollt und geliebt hat. (Filmcoopi)
Von Emotionen und Exzessen –
Von Lebenden und Toten
Der Filmtitel ist Programm: Der deutsche Regisseur Matthias Glasner fächert ein Beziehungsgeflecht auf, in dem es um Leben und Tod geht. Eingeteilt in fünf Kapitel plus Epilog, spannt sich der Bogen von einzelnen Figuren (Mutter, Vater, Sohn und Tochter) zu dramatischen Wendepunkten wie «Der schmale Grat» und «Liebe». Dabei ist vorauszuschicken, dass das schwermütige Epos «Sterben» nur beiläufig von Liebe und Empathie, mehr von Leiden, Zweifeln, Selbstzerstörung handelt. Brutal offen und ungeschminkt, lotet der Film Grenzen aus und durchleuchtet ein Leben vor dem Sterben. In Berlin mit dem Silbernen Bären, ausserdem mit dem deutschen Filmpreis in Gold ausgezeichnet, ebenso Corinna Harfouch (Beste Hauptrolle), Hans-Uwe Bauer (Beste männliche Nebenrolle) und Lorenz Dangel (Beste Filmmusik).
Was passiert? Das Leben kann so Scheisse sein im wahrsten Sinn des Wortes. Lissy Lunies (Corinna Harfouch) hat sich ins Kleid gemacht. Ihr Körper ist eine Katastrophe, sie ist todkrank, und ihr Ehemann Gerd (Hans-Uwe Bauer) keine Hilfe. Der ist nicht immer bei Sinnen, reisst manchmal halbnackt aus und weiss nicht, was geht. Demenz. Die Zeit des Ehepaars ist begrenzt. Diese Familie trägt den Keim des Zerfalls in sich. Dazu gehören der begabte Sohn Tom (Lars Eidinger), der erfolgreich eine Karriere als Dirigent ansteuert. Mit der Familie hat er wenig im Sinn – oder Zeit. (Bei der Beerdigung seines Vaters kommt er wegen einer Autopanne zu spät – wohl nicht ganz ungewollt). Tom leitet ein Jugendorchester in Berlin, arbeitet an der Uraufführung der Komposition seines Freundes Bernard (Robert Gwisdek). Nicht von ungefähr heisst dieses titelgebende Werk «Sterben». Nur darin sieht der depressive Komponist einen Ausweg, besonders nachdem die Konzertpremiere durch Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) derart gestört wird, dass die Zuhörer den Saal fluchtartig verlassen.
Die süchtige Ellen, von Alkohol und Sex getrieben, treibts mit ihrem Chef, dem Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld) und animiert ihn zu einigen Eskapaden. Der Mann ist in München verheiratet, kostet den Sex aus und wird sich gegen Ellen entscheiden. Ihr Bruder Tom ist «Vater» geworden, steht seiner Ex Liv (Anna Bederke) bei der Geburt bei. Und die schiebt den eigentlichen Erzeuger Moritz ins Abseits, weil sie ihn nicht mag, und hat Tom quasi als Vater «adoptiert». Das macht den unsteten Tom irgendwie glücklich. Irre Verhältnisse. Toms grösste Herausforderung ist freilich sein Partner und Freund Bernhard, den er in den Tod begleiten, beschatten soll.
Viel Stoff, viel Personal, viele tragische Momente voll von Konflikten, Krisen und Katastrophen. Regisseur Glasner verbindet in seinem Dreistundenfilm «Sterben» verschiedene Ebenen, vernetzt Figuren und Schicksale zwar geschickt, ist aber vor Abwegen nicht gefeit. Schwächster Teil seines Reigens um Leben (Geburt) und Tod (Sterben) ist Ellen, ziellos, zügellos, selbstzerstörerisch. Sie bleibt ein Schemen, ein Klischee, besonders was ihre Eskapaden im Bett und an der Bar angehen.
Dazwischen gibt es Momente, die einen in den Bann ziehen, etwa wenn die Mutter ihrem Sohn Tom am Küchentisch eiskalt offenbart, dass er unerwünscht war und sie ihn am liebsten aus ihrem Leben «geworfen» hätte. Corinna Harfouch und Lars Eidinger liefern hier ein schauspielerisches Meisterstück.
Seinen Film «Sterben» hat Regisseur Matthais Glasner «seiner Familie, den Lebenden und den Toten» gewidmet. Eine schonungslose Performance über Verlorenheit und Selbstzerstörung, Leben und Zerfall, wobei es auch komische, schräge Momente quasi zur «Entspannung» gibt. Trotz Überlänge, Themenballung und Klischeenähe ein starkes, anspruchsvolles Kinostück, das sich einbrennt.
Deutschland 2024
182 Minuten
Buch und Regie: Matthias Glasner
Kamera: Jakub Bejnarowicz
Ensemble: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Robert Gwisdek, Ronald Zehrfeld, Saskia Rosendahl
Zurück