Presque

2022_04_05_Presque_005jpg

Zwei Männer haben sich nicht gesucht, aber gefunden: Der behinderte Igor (Alexandre Jollien) schliesst sich dem Bestatter Louis (Bernard Campan) an, der zwei Tote nach Südfrankreich chauffiert. (JMH Distr.)



Freundschaft – zwischen Leben und Tod

 
Es gibt manche Roadmovies oder Body-Streifen. Aber solch eine Freundschaftsgeschichte, die sich zwischen Lausanne und Südfrankreich entwickelt, hat das Kino noch nicht erlebt! Es gibt Begegnungen, die glaubt man nicht und sind doch wahr! Und so geschah es – im Leben wie im Film. Louis ist der Chef eines Bestattungsunternehmens in Lausanne. Junggeselle – eher aus bitterer Erfahrung denn aus Überzeugung. Der Mann ist mit seinem Leichenwagen unterwegs, etwas abgelenkt und schon tuschiert er fahrlässig ein Dreirad. Ein glimpflicher Sturz mit Folgen. Fahrer Igor ist der Unglückliche und Glückliche zugleich.

Der Lenker dieses Tricycle ist Bio-Gemüse-Auslieferer. Louis ist Manns genug, ihm wieder auf die Beine zu helfen, und weiss (noch) nicht, was er damit lostritt. Der körperlich behinderte Igor ist wissbegierig, neugierig und noch nie einem so verständigen Bestatter begegnet. Er heftet sich quasi wie eine Klette an den Bestatter und reist als blinder Passagier mit – auf einer Totenfuhre von Lausanne nach Südfrankreich (Cévennes, Zentralmassiv). Denn Louis transportiert nicht nur eine Urne, sondern auch einen Sarg mit der verstorbenen Madeleine. Und all das ist nicht nur beziehungsreich, sondern hat auch mit Louis‘ Vergangenheit zu tun.

Kurzum, die beiden ungleichen Gestalten begeben sich auf eine menschliche Odyssee, die sie Begebenheit um Begebenheit näher bringt. Dazu tragen auch eine forsche Anhalterin Cathy (Tiphaine Daviot) und die verständige Prostituierte Elsa (Marie Benati) bei. Louis, ein Junggeselle, der einer Liebe nachtrauert, entdeckt neue Lebensqualitäten – dank Igor, der auch noch als Vierzigjähriger bei seiner Mutter lebt und wahrhaft bemuttert wird. Doch der Aussenseiter («Ich habe schon verloren, wenn ich den Mund aufmache») hat mehr drauf, als Gemüse auszutragen. Igor ist bewandert und bewaffnet mit allen möglichen Weisheiten von Philosophen – von Platon und Epikur über Descartes bis Nietzsche. Sie sind sein Lebenselixier. Er lehrt seinem Chauffeur das Leben – trotz Tod im Gepäck.

«Presque» (Nähe) ist ein wunderbarer Film übers Leben – wenn auch mit tödlichem Beigeschmack. Das ist der Clou: Alexandre Jollien leidet an Cerebralparese und hat Geisteswissenschaft studiert. Er verkörpert Igor, den Menschen, der auflebt und einen anderen aufblühen lässt. Bernard Campan ist Alexandre tatsächlich freundschaftlich verbunden. Gemeinsam drehten sie unter Leitung von Philippe Godeau diesen wunderbar humorigen und lebensbejahenden Film. Mehr Nähe und Echtheit gehen nicht. Es lohnt, ihn auch zweimal zu sehen. In Solothurn wurde er mit dem Prix du Public ausgezeichnet.
 
 
6_Star_Lionjpg

Schweiz 2021 
91 Minuten

Buch/Konzept: Alexandre Jollien, Bernard Campan
Produktion: Philippe Godeau

Mitwirkende: Alexandre Jollien, Bernard Campan, Marie Benati, Maryline Canto, Tiphaine Daviot


Zurück