Les Invisibles

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Gemeinsam werden sie wieder stark. Frauen helfen Frauen (Audrey Lamy, Corinne Masiero, Noémi Lvovsky, Déborah Lukumuena): Die Betreuerinnen bringen Schwung ins trostlose Leben der «Gestrandeten». (Frenetic Films)



Im Abseits unsichtbar geworden


Frauen in der Bredouille. Sie nennen sich Lady Di, Edith Piaf oder Brigitte Macron. Sie wurden aus der Bahn geworfen, leben ausserhalb der Gesellschaft – arbeitslos, wohnungslos, «asozial». Für die Wohlstandsgesellschaft sind sie «unsichtbar» geworden. Sie sollen nicht stören, werden ausgeblendet. Und doch gibt es sie, und es gibt Menschen, die sich um sie kümmern, sich für sie engagieren.

Louis-Julien Petit stiess auf ein Buch («Sur la route des invisibles») und eine Filmdokumentation («Femmes invisibles: survivre dans la rue» von Claire Lajeunie). Er begnügte sich jedoch nicht mit einer adäquaten filmischen Umsetzung, sondern ging vor dem Start des Filmprojekts regelrecht auf die Strasse, recherchierte, besuchte Unterkünfte wohnungsloser Frauen und Tagesstätten, sprach mit Betroffenen. Sein Fazit: «Mir wurde bald klar, dass ich mich in meinem Film auf das tägliche Miteinander dieser zwei Frauengruppen konzentrieren wollte.» Und er drehte ein Sozialdrama (in Nordfrankreich) nicht ohne Galgenhumor im Sinne Peter Cattaneos («The Full Monty») oder Ken Loachs. Seine Intention: «Ich wollte mich dieser Welt durch komische und berührende Situationen nähern, ohne die dramatische Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren.»
Die Rollen der «barmherzigen Samariterinnen», der Sozialarbeiterinnen also, besetzte Petit mit Profis wie Audrey Lamy als Audrey, Corinne Masiero als Manu, Noémie Lvovsky als Hélène, Déborah Lukumuena als Angélique und Adolpha van Meerhaeghe als Chantal. Die obdachlosen Frauen verkörperten Laien, die Wohnungslosigkeit aus eigener Erfahrung kannten. Und diese suchten sich ihre Rollennamen wie Edith Piaf etc. selber aus. Differenzen zwischen den Profis und Laien gab es nicht, berichtet der Regisseur. Man passte aufeinander auf und half sich gegenseitig – wie im Film.

Man stelle sich vor: Das Tageszentrum «L'Envol» betreut Frauen ohne Arbeit, Obdach und Perspektiven. Drei Monate, so hat die Stadtverwaltung beschlossen, bleiben den Sozialarbeiterinnen Audrey, Manu, Hélène, und Angélique, die gestrandeten Frauen wieder aufzurichten und ins Leben zu «entlassen». Die Idealistin Audrey tut alles mit ihrem Team – über amtliche Richtlinien und Grenzen hinaus –, um ihren Schützlingen zu helfen. Dazu gehören auch Tricks und unorthodoxe Methode inklusive eines Workshops und Anfertigung eines positiven Lebenslaufs. Als infolge der Schliessung eines Obdachlosencamps die Tagesstäte auch zur Nachtstätte heisst Herberge wird, droht der Amtsschimmel, und der kennt keine Gnade.

Es ist erfrischend, berührend und denkwürdig, dem Treiben dieser unterschiedlichen Frauen beizuwohnen. «Les invisibles» lässt tief in eine düstere Wirklichkeit blicken, ohne jedoch Mut und Lebenslust zu verlieren. Die französische, sehr authentische Tragikomödie mit Selbstironie erzählt keine oberflächliche Erfolgsstory, sondern ist eine Ode an das Leben, ein Plädoyer für Solidarität und Optimismus. Am Ende gehen die gebeutelten, ausgegrenzten Frauen stolzen Hauptes ihres Wegs. Sie, die im Abseits stehen, haben Selbstachtung und Mut wiedergefunden.


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Frankreich 2019
102 Minuten

Buch und Regie: Louis-Julien Petit
Kamera: David Chambille

Darsteller: Audrey Lamy, Corinne Masiero, Noémie Lvovsky, Déborah Lukumuena, Adolpha van Meerhaeghe


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