Die wunderbare Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

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Der Anteil der Frauen, die in der Nachkriegszeit in der Schweiz Arbeit suchten und fanden, war grösser als es offiziell den Anschein hatte. (Dschoint Ventschr)




Fremdenskepsis, Furcht und Ablehnung


Die Schweiz rief, und sie kamen zu Abertausenden in der Nachkriegszeit: Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen aus dem südlichen Nachbarland. Als Arbeitskräfte gelitten, als Menschen zweiter Klasse behandelt, die «Sau-Tschinggen». Die Italiener sassen dazumal draussen vor der Tür, vor Bars und Restaurants, die Schweizer drinnen, berichtet Samir in seinem Film. Heutzutage sässen alle draussen, fügt er schmunzelnd hinzu. Besonders die Zürcher Langstrasse und das italienische Quartier hat es ihm angetan. Spuren der Ursprünge in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren fänden sich bis heute in den italienischen Namen, auch wenn sich dahinter heute ein Kebab-Laden oder anderes verbirgt.

Samir taucht tief in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Fremdarbeiter im Strassen- und Tunnelbau schufteten, in Fabriken, im Service usw. arbeiteten. Man spricht von Gastarbeitern, doch der Frauenanteil war viel grösser, als man gemeinhin denkt. Die Crux dieser gerufenen, geduldeten, aber sozial miserabel behandelten Menschen aus dem Ausland war, dass sie ihre Kinder, ihre Familien nicht nachholen durften. Wurden sie heimlich «importiert», wurden sie oft zu «Schrankkindern», also zu Kindern, die in Schränken versteckt wurde, nahten Polizisten oder Behördenvertreter. Einige, die solches am eigenen Leib erlebt hatten, kommen zu Wort, schildern ihre Traumata. Man spürt, Samir, selber ein Emigrantenkind (der Vater Iraker, die Mutter Schweizerin), liegen solche Schicksale am Herzen. Hier hat seine Dokumentation seine stärksten Momente. Er fühlt sich selber wie ein Italiener (Fremder) in der Schweiz.

Der Filmtitel «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» ist so lang wie das Themenspektrum breit. Samir verknüpft eine Unmenge von Material (Filmausschnitte und Archivaufnahmen, Aussagen von Zeitzeugen, Familienfotos u.v.m.), dazu streut er Animationssequenzen, sogenannte «Motion-Capture»-Bilder, die seine persönlichen Erfahrungen wie Bio-Partikel illustrieren (aber befremdlich wirken).

Bisweilen sprunghaft zeichnet der Film ein Zeitbild – von Ankünften und Abschieden, vom Emigrationsalltag und Feierabend über Überfremdungsinitiative und Demos bis zu politischen Statements und Filmausschnitten («Die Schweizermacher», «Bäckerei Zürrer»). Viel Stoff. Dabei bekommen frühere lasche Gewerkschaften in der Schweiz ebenso ihr Fett ab wie Überfremdungsprediger von gestern und heute.

Samirs Geschichte der Gastarbeiter oder «Saisonniers» ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit. Er selbst versteht sich als Teil der Emigrantengeschichte, die hier eindeutig italienisch fokussiert ist. Er wollte denen eine Stimme geben, erklärte Samir, die dazumal totgeschwiegen wurden. Seine These, dass der Begriff Arbeiter zum Synonym Ausländer geworden sei, ist etwas kühn, trifft aber. Sicher ist sein Film ein wichtiges Dokument über latente und geschürte Fremdenskepsis, Fremdenfurcht und -hass in der Schweiz. Samirs Deutung eines «institutionalisierten Rassismus» mag überzeichnet sein, gleichwohl steckt in ihm ein Kern Wahrheit. Sein Film hält solche Entwicklung vor Augen, doch der Bogen zur aktuellen Realität (Palästina), zum neuen grassierenden Rassismus ist vage.

Der Film macht Andeutungen zu heutigen Krisenlagen, doch Emigration aus wirtschaftlichen oder Flucht aus politischen Gründen heute können mit der Gastarbeiterwelle dazumal nicht verglichen werden.


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Schweiz/Italien 2024    
130 Minuten

Buch und Regie: Samir
Kamera: Samir, Natascha Vavrina


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