Flucht und Ablenkung: Der Knabe Buddy (Jude Hill) und seine Familie finden Gefallen an «High Noon» oder «Chitty Chitty Bang Bang». Die Kindheitsidylle wird gestört: Der zehnjährige Buddy (Jude Hill) erlebt die Eskalation der Gewalt in den Strassen von Belfast. (Universal)
Kinofreuden und Konflikte
Nordirland im August 1969. Religionskonflikte zwischen Protestanten und Katholiken brechen auf. Der zehnjährige Buddy, ein Alter Ego des Regisseurs Kenneth Branagh, erlebt Idylle und Eskalation der Gewalt. Buddy (Jude Hill) und seine Geschwister tollen in Gassen und Parks von Belfast. Liebevoll behütet von der Granny (Judi Dench, Oscar-Nomination), Grossvater (Ciarán Hinds, Oscar-Nomination) und der attraktiven Mutter (Caitriona Balfe), können sie sich austoben, bis eines Tages protestantische Radikale katholische Geschäfte und Menschen traktieren. Anfangs erlebt Buddy die Gewaltausbrüche wie ein Abenteuer im Kino, ist fasziniert, wenn Polizei aufmarschiert, Barrikaden errichtet werden.
Buddys Vater (Jamie Dornan, bekannt als Schönling aus «Fifty Shades of Grey»), ist Pendler zwischen England und Nordirland und kratzt mühsam das Geld für Steuerschulden zusammen. Ein Highlight für die Kinder ist jeweils, wenn sie mit ihm am Wochenende ins Kino gehen und Sexbombe Raquel Welch in «One Million Years B.C.», Gary Cooper in «High Noon» oder das knallbunte Fantasy-Musical «Chitty Chitty Bang Bang» erleben. Befreiende Farbtupfer im teilweise tristen Alltag.
Kenneth Branaghs (61) stimmiger Spielfilm spiegelt Zeitbild und Kindheit wider. Buddy ist der Kernpunkt, die Kristallisationsfigur, hervorragend verkörpert durch Jude Hill – eine Entdeckung. Aus seiner Sicht nehmen wir Anteil am Spiel, am Schulalltag, aber auch am sozialen Umfeld. Wie aus dem Nichts bricht sich plötzlich eine Gewaltwelle Bahn. Eine Bande von Protestanten will ihr Quartier von Katholiken säubern. Bürgerkrieg. Buddys Eltern stehen vor einer Zerreissprobe: Ma will bleiben, Pa verspricht sich eine bessere Zukunft in England. Tatsächlich verliess Branaghs Familie Nordirland als er neun Jahre alt war und übersiedelte nach Reading, England.
Schauspieler und Regisseur Branagh («Death on the Nile») hat nicht nur grosses Schnüffeltalent, beispielsweise als Hercule Poirot in Agatha-Christie-Verfilmungen, sondern auch Oscar-Erfahrungen. Der Ire Kenneth Branagh wurde fünfmal für den Oscar nominiert und liegt aktuell mit sieben Nominationen im Rennen (u.a. Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch). In seinem Schwarzweissfilm «Belfast» blickte Branagh (Buch und Regie) auf die Kindheit in seiner Geburtsstadt Belfast zurück.
Der schwarzweisse Film mit Kinofarbtupfern ist stimmig, bisweilen humorvoll, nostalgisch, gegen Ende melodramatisch. Politische Vertiefung und weitere Gewalteskalation der IRA spart Branagh aus. Er lässt seine Kindheit aufleben und ist einer Fortsetzung nicht abgeneigt, wie er in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger verrät. Verdrängte Emotionen werden wach: «Belfast war eine Katharsis für mich.» Unbedingt erwähnenswert ist auch die Musik Van Morrisons, ein Sohn Belfasts (Oscar-Nomination). Er steuerte alte und einen neuen Song («Down to Joy») bei. Dazu bleiben der letzte Song im Ohr hängen «Never Ending Love» und Grannys Abschiedsworte zur Familie: Go, go now. Don't look back!
Grossbritannien 2021
99 Minuten
Buch und Regie: Kenneth Branagh
Kamera: Haris Zambarloukos
Schauspielerensemble: Jude Hill, Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Judi Dench, Ciarán Hinds, Colin Morgan
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