Ein Leben mit Handicaps: Die Basler Filmerin Fanny Bräuning (43) hat ihre Eltern auf Camperreisen im Mittelmeerraum begleitet. Ein schwieriges Unterfangen, denn ihre Mutter Annette (70) ist seit Jahrzehnten vom Hals abwärts gelähmt und ihre Vater Niggi (71) Mädchen für alles – Fahrer, Tüftler, Fotograf, Pfleger und fürsorglicher Ehemann. «Immer und ewig» – ein sehr persönlicher Film, Roadmovie, Dokument zweier Leben und einer Liebe. Er wurde in Solothurn mit dem Prix de Soleure ausgezeichnet, dotiert mit 60 000 Franken. Siehe Filmkritik «Immer und ewig». Beide Protagonisten waren an der Schweizer Premiere des Films «Immer und ewig» an den Solothuner Filmtagen präsent und freuten sich still über die Aufmerksamkeit und den Beifall des Publikums. Wir trafen die Filmautorin Fanny Bräuning, die einen zwanzigjährigen Sohn hat und seit 14 Jahren in Berlin lebt. Sie erzählte von ihrer Arbeit mit ihren Eltern, beschrieb ihre Doppelrolle als Tochter und Filmerin.
Du hast deine Eltern auf mehreren Reisen begleitet und diese
Eindrücke zu einem Film zusammengefügt. Unter anderem fällt auf, mit
welcher Leidenschaft dein Vater mit der Kamera unterwegs ist. Was treibt
ihn?Fanny Bräuning:
Er verwertet die Bilder nicht professionell, er hat einfach Freude am
Gucken, ausserdem fotografiert er für meine Mutter, um ihr zu zeigen,
was sie nicht sehen konnte. Seine Kamera dokumentiert, was er für sich
entdeckt hat, und wird zum verdichteten Blick, der schöne lebenswerte
Dinge festhält.
Deine Ambition ist doch auch das Einfangen von Momenten…Ja schon. Aber ich muss dabei dramaturgisch denken und mich fragen, wie kann dieser Moment Teil der Geschichte sein.
Ist das alles spontan entstanden, oder gab es ein Konzept, ein Drehbuch?Man
muss, um Geld zu bekommen, ein Buch vorlegen. Ausserdem bin ich drei
Wochen mit ihnen gefahren – mit der Kamera, die mehr als Notizbuch
diente, quasi als Recherche.
Und da boten sich Fixpunkte an…?Es
gibt Rituale, die immer gleich ablaufen wie das Anziehen, der Transfer
in den Rollstuhl, und anderes. Bei anderen Szenen waren wir natürlich
stark vom Zufall abhängig. Und ich wollte natürlich auch Gespräche
einbauen. Der Camper wirkt als verdichteter Raum wie in einem
Kammerspiel und gleichzeitig ist der Film ein Roadmovie geworden.
In den Gesprächen wird auch die Frage nach Opfer und Hingabe gestellt? Wie empfindest du diese Aspekte?Mein
Vater hat vieles aufgegeben, eben auch seine Karriere als Fotograf. Er
selber sieht das aber nicht als Opfer. Das fand ich spannend.
Für mich annonciert der Titel «Immer und ewig» auch, dass es um Liebe geht. Siehst du das auch so?Für
mich ist es ein Liebesfilm, zwischen den beiden, aber auch über die
Liebe zum Leben: Wo findet sinnvolles Leben statt, worin kann man auch
Erfüllung finden? Für mich hat der Titel auch eine gewisse Brüchigkeit.
Etwa in diesem Sinn: Ich kenne meine Mutter schon ewig mit Handicap,
also zuerst am Krückstock, dann im Rollstuhl.
Was hält sie, was hält beide am Leben?Es
ist sicher auch die Beziehung, meine Mutter ist nicht allein. Und ich
denke allgemein die Grundhaltung von beiden, sich nicht zu bemitleiden,
sondern das Beste aus ihrem Leben zu machen.
Wie bist du mit deiner Doppelrolle klargekommen?Da
waren verschiedene Fragen zu lösen wie beispielsweise: Wie wird die
Tochter spürbar, wie äussert sie sich? Ich musste als Erzählerin
vorkommen und wollte gleichzeitig die Kamera sein, sie sollte mein Blick
sein. Ich komme selten vor die Kamera, nur wenn meine Mutter mich ruft
und Hilfe braucht oder mein Vater mich holt. Diese Doppelrolle war
herausfordernder, als ich gedacht habe. Es ist ja schon anstrengend,
Regie zu führen, und dazu noch Tochter sein… Man bleibt ja immer das
Kind seiner Eltern.
Wie hast du die emotionellen und existentiellen Fragen geplant, umgesetzt?Viele
der Fragen hatte ich von Anfang an. Bei der Frage «Vermisst du deinen
Beruf als Fotograf?» beispielsweise habe ich nach einem szenischen
Moment gesucht, wo er in seinem Element und ganz Fotograf ist. Das war
dann der Fall bei dem Castell, wo mein Vater nach dem richtigen Licht
sucht. Da habe ich seine Arbeit und seinen Verzicht angesprochen. Dann
gibt es Gespräche in Interviewsituationen, wo ich Verschiedenes
anspreche.
Eine entscheidende Situation für mich ist, als dein
Vater sagte: Ich kann nicht anders, ich mache keine halbherzigen
Sachen. Er geht aufs Ganze.Ja, für ihn war die Entscheidung ganz
klar. Beides: Fotograf sein und meine Mutter pflegen, geht nicht. Also
hat er seinen geliebten Beruf aufgegeben. Aber er liebt es immer noch,
auf ihren Reisen zu fotografieren. Meine Mutter sagt, er sei immer noch
Fotograf... Dieser Teil seiner Identität ist ja nicht gestorben. Er ist
immer noch er.
Wunderbar sind die Zeichnungen deiner Mutter,
die du anfangs zeigt: Eine Frau, die immer weniger wird. Was hat es
damit für eine Bewandtnis?Es entstand ein Jahr vor meiner
Geburt, also 1974. Da wusste sie nicht, dass sie MS hat. In dieser Reihe
einer Frauenfigur bleiben am Ende ein Kopf, eine Explosion und eine
Wolke. Heute fühlt es sich wie eine Prophezeiung an.
Haben diese Zeichnungen einen Titel?Meine Mutter war Grafikerin und sagt, das Bild hätte keinen Titel. Für mich ist es «Die verschwindende Frau».
Wie haben deine Eltern den Film aufgenommen?Beide
waren ja auch bei der Premiere in Leipzig dabei. Sie wurden gefeiert
und auf der Strasse angesprochen. Meiner Mutter hat der Film gefallen,
meinem Vater auch. Doch der Fotograf hätte gern dieses oder jenes im
Film gehabt, etwas, was ihm wichtig erschien. Er hätte sicher einen
anderen Film gedreht.
Ist die Reiselust deiner Eltern nach wie vor ungebrochen?Ja,
im letzten Jahr waren sie im Frühling sechs Wochen in Tunesien, im
Sommer in Wales und im Herbst wieder auf griechischen Inseln. Sie sind
unterwegs, solange es geht. Sie haben auch in Solothurn in ihrem Camper
gewohnt.
ZurückVeröffentlicht Februar 2019